Einfach unwiderstehlich. Andy Stanley
Dass Jesus seine Leiden erwähnte, mag der Grund dafür sein, dass die Jungs nicht beleidigt auf das reagierten, was als Nächstes kam. Denn wenn Jesus leiden würde, waren die Chancen hoch, dass auch sie leiden müssten. Auf Leiden freut sich niemand.
„Und er nahm einen Kelch, dankte und sprach: Nehmt diesen und teilt ihn unter euch! Denn ich sage euch, dass ich von nun an nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis das Reich Gottes kommt.“ (Lukas 22,17)
An genau dieser Stelle könnten sie gedacht haben: Irgendwie beziehst du das alles auf dich. Vielleicht sollten wir uns einen Moment Zeit nehmen, um uns daran zu erinnern, woran wir uns hier erinnern sollen. An Mose. An Ägypten. Lass mein Volk ziehen.
„Und er nahm Brot, dankte, brach und gab es ihnen und sprach: …“
Jetzt kommt’s.
„… Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ (Lukas 22,19)
Und da müssen sie gedacht haben: Wie bitte? Du willst, dass wir das Passahfest zu deinem Gedächtnis feiern? Das ist ja noch schlimmer, als zu beanspruchen, größer als der Tempel zu sein!
Jesus hat eine Mahlfeier umgestaltet und neu interpretiert, die auf den vielleicht wichtigsten Moment in der Geschichte Israels zurückweist. Versetzen Sie sich in die Lage der Jünger und stellen Sie sich vor, wie lächerlich, ja wie lästerlich das geklungen haben mag. Wir machen uns nicht lustig über Weihnachten oder Ostern, aber Jesus hatte kein Problem, die höchste aller Gedenkfeiern an den Rand zu stellen.
Es sei denn.
Es sei denn, etwas Größeres als die Befreiung Israels aus Ägypten würde sich bald ereignen. Aber was könnte größer sein als das? Vielleicht würde er es später erklären. Außerdem war es Zeit für den Hauptgang. Also ließen sie sich auf das Tischgespräch ein, während sie über Jesu seltsame und verschwörerische Verlautbarung nachdachten.
Aber gerade in dem Moment, als sie dachten, dass alles wieder normal wird, tat er es erneut.
„Ebenso nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“3
„Der neue Bund.“
Sagte er wirklich „der neue Bund“? Wie der, den Jeremia sechshundert Jahre zuvor vorhergesagt hatte? Wenn das der Fall war, dann war das hier wirklich etwas Großes. Vielleicht nicht so episch wie der Exodus des Volkes aus Ägypten, aber dennoch groß. Der alttestamentliche Prophet Jeremia hatte davor gewarnt, dass der Bund zwischen Gott und dem Volk Israel eines Tages erfüllt und ersetzt würde.
„Siehe, Tage kommen, spricht der HERR, da schließe ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund: nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand fasste, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen …“4
Dieser neue, den alten ersetzende Bund würde sich in mehrfacher Hinsicht von dem ursprünglichen Bund unterscheiden. Jeremia zufolge wäre der neue Bund ein Bund des Gewissens.
„Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben. Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.“ (Jeremia 31,33b)
Die Einführung dieses neuen Bundes würde die Notwendigkeit zeremonieller Tieropfer aufheben.
„Denn ich werde ihre Schuld vergeben und an ihre Sünde nicht mehr denken.“5
BEIM ÜBERGANG VERLOREN
Die volle Bedeutung der Worte Jesu konnten die Jungs in dem Raum nicht erfassen. Das kann man ja auch nachvollziehen. In dieser Nacht war viel los. Und die Nacht fing gerade erst an. Sein früherer Hinweis auf das Leiden und Verlassen, kombiniert mit der Aufregung durch das unkommentierte Verschwinden des Judas, lenkte von der ungeheuren Bedeutung seiner Worte ab. In wenigen Stunden würden die Zeugen dieser bedeutsamen Verlautbarung um ihr Leben rennen, während eine Horde ihren Herrn zur Befragung und noch Schlimmerem zum Haus von Kaiphas schleppen würde. Es blieb keine Zeit, die Bedeutung dessen, was Jesus sagte, zu verdauen.
Sie würden sich jedoch später daran erinnern.
Jemand in diesem Raum würde es schließlich Lukas anvertrauen, der es später vielleicht dem Apostel Paulus weitererzählt hat, der es dann in jeder größeren Hafenstadt am Mittelmeer nicht für sich behalten konnte.
Aber zurück zum Ausgangspunkt. Nachdem sich der Staub gelegt hatte und das Grab leer aufgefunden worden war, stand die Bedeutung der Worte Jesu im Mittelpunkt. Zweitausend Jahre später feiern Christen auf der ganzen Welt in Kirchen, Häusern und Zeltlagern, in aller Öffentlichkeit und im Geheimen, eine Version dieser heiligen Mahlfeier zum Gedenken an ihn.
Jesus verwendete sein letztes Passahmahl, um das Ende des Passahfestes, wie sie es kannten, zu verkünden und die Einsetzung eines neuen Bundes als sein Erkennungsmerkmal einzusetzen. Nicht einen neuen Bund zwischen Gott und einem Einzelnen, wie es bei Abraham der Fall war. Nicht einen Bund zwischen Gott und einem bestimmten Volk, wie es bei Israel der Fall war. Das hier war der große Bund.
Der letzte Bund.
Der ewige Bund.
Das hier war ein Bund zwischen Gott und der Menschheit. Für jede Nation und jede Generation. Die Einsetzung eines neuen Bundes signalisierte die Erfüllung von Gottes Verheißung an Abraham. Endlich ist es einer für alle. Mit der Einsetzung des neuen Bundes würde jede Nation gesegnet werden.
Doch der neue Bund bedeutete nicht nur die Erfüllung von Gottes Verheißung an Abraham, sondern auch gleichzeitig das Ende des Bundes, den Gott mit dem Israel der Antike am Berg Sinai geschlossen hatte. Den Juden des ersten Jahrhunderts fiel es extrem schwer, dies zu verstehen. Aber wie wir gleich entdecken werden, waren die Juden des ersten Jahrhunderts nicht die einzigen, denen es schwerfiel, die vorübergehende Natur dieser von Gott eingesetzten Vereinbarung zwischen ihm und dem alten Israel zu erkennen.
BEI DER ÜBERTRAGUNG VERLOREN
Die Einsetzung des neuen Bundes erklärt, warum die meisten Christen nichts dagegen einzuwenden haben, wenn ein wenig Speck in ihrem Rührei ist. Sie erklärt, warum manche von Christen geführte Restaurants oder Fast-Food-Ketten sonntags geschlossen haben. Würden wir noch immer unsere Marschbefehle von Mose bekommen, wären alle samstags geschlossen.
Aber – vergessen Sie das!
Dank des neuen Bundes sind wir nicht verpflichtet, etwas zu töten, um mit Gott in Kontakt bleiben zu können. Wenn Sie das dritte Buch Mose durchblättern, werden Sie eine ganze Menge Dinge entdecken, die von uns nicht verlangt werden. Aber die Kirche hat eine unangenehme Gewohnheit, einzelne Aspekte von Gottes Bund mit Israel selektiv umzubenennen und in die ekklesia von Jesus einzuschmuggeln. Diese Gewohnheit erklärt, wie Kirchenführer aus dem 16. Jahrhundert die Hinrichtung von William Tyndale rechtfertigten und sanktionierten, der versucht hatte, die Bibel dem einfachen Volk zugänglich zu machen. Aber diese Umbenennung und das Einschmuggeln des Alten in das Neue begannen noch viel früher.
In den Jahren nach dem Tod der Apostel beanspruchten heidenchristliche Kirchenführer die jüdische Bibel als ihre eigene und bestanden darauf, dass sie für die ganze Kirche verbindlich sei. Wir werden dies in Kapitel zwölf näher erläutern. Hier genügt es zu sagen, dass diese nichtjüdischen Kirchenführer die alten jüdischen Texte durch die Linse ihrer sich entwickelnden christlichen Theologie betrachtet und so interpretiert haben. Zu diesem Zeitpunkt der Geschichte hatte die Kirche keinen eigenen offiziellen Text. Infolgedessen stützten sich heidenchristliche Kirchenführer stark auf die jüdische Bibel. Genauer gesagt, sie stützten sich stark auf ihre Interpretation der jüdischen Bibel. Es dauerte nicht lange, bis Werte und Gebote des alten Bundes begannen, die Lehre der jungen Kirche zu durchdringen.
Ein Beispiel.
Nicht lange, nachdem das Christentum im vierten Jahrhundert legalisiert wurde, begann die Kirche, Heiden so zu behandeln, wie Heiden Christen behandelt hatten. Unbußfertige, Götzen anbetende, Tiere opfernde Heiden wurden von ihnen verfolgt und in manchen Fällen hingerichtet. Wie rechtfertigten