Einfach unwiderstehlich. Andy Stanley

Einfach unwiderstehlich - Andy  Stanley


Скачать книгу
anstößigsten Aussagen Jesu steht im Matthäusevangelium. Wenn Sie sie schon einmal gelesen haben, kann es gut sein, dass Sie einfach weitergelesen haben. Nur wenige von uns bemerken sie überhaupt. Während einer seiner vielen Kabbeleien mit religiösen Führern darüber, was die Verletzung der Sabbatruhe nach sich zieht, sagte Jesus unter Berufung auf sich selbst:

      „Und ich sage euch: Hier geht es um etwas Größeres als den Tempel.“1

      Für die Juden des ersten Jahrhunderts war nichts und niemand größer als der Tempel. Wenn es etwas gab, das größer war als der Tempel, dann war der Tempel sinnlos. Nutzlos. Während es Orte gibt, die wir für besonders, vielleicht sogar für heilig halten, verblasst unsere emotionale Verbindung zu diesen Orten im Vergleich dazu, was Juden fühlten und in einigen Fällen noch fühlen, wenn es um ihren Tempel geht. Für die Juden im ersten Jahrhundert war der Tempel einfach alles. Er war der Mittelpunkt der Welt. Nicht nur ihrer Welt. Der ganzen Welt. Hätten sie den Begriff schon damals gehabt: des ganzen Universums.

      Der Tempel war das Epizentrum des religiösen Lebens der Juden. Er war die offizielle Heimat des offiziellen Gesetzes. Der Tempel war die Gegenwart Gottes auf Erden. Sich mit dem Tempel zu vergleichen oder etwas anzunehmen, das größer wäre als der Tempel, spiegelte außerordentliche Arroganz, Unwissenheit oder Wahnsinn wider. Dass jemand beanspruchte, größer als der Tempel zu sein, war eine todeswürdige Gotteslästerung. Eine Bedrohung des Tempels war eine Bedrohung für das ganze Volk. Die jüdische Bevölkerung würde lieber sterben als zuzulassen, dass diese heilige Immobilie entweiht oder bedroht wurde.

      Sterben.

      Das ist keine Übertreibung.

      Die Geschichte liefert ein einschlägiges Beispiel.

      GÖTZE IN DER SACKGASSE

      Um das Jahr 40 n. Chr. wurden die Bürger Jerusalems darüber informiert, dass innerhalb der Tempelmauern eine Statue des Kaisers Gaius Caligula aufgestellt werden sollte. Petronius, Gouverneur von Syrien, wurde mit dem Transport der Statue von der Hafenstadt Ptolemais (Akko) nach Jerusalem beauftragt. Er wurde von zwei Legionen (ungefähr 10 000 Soldaten) begleitet. Als er in der Hafenstadt ankam, um die Statue in Empfang zu nehmen, war er schockiert, als er sah, dass sich Tausende von Juden aus der Region zum Protest versammelt hatten.2

      Als ihnen Gewalt angedroht wurde, knieten sich die Demonstrierenden hin, anstatt sich für ihre Verteidigung zu wappnen, und boten den römischen Schwertern den Nacken dar. Die Botschaft war klar und deutlich. Sie würden eher sterben, bevor sie zusehen müssten, wie ihr Tempel besudelt würde. Petronius war ausmanövriert.

      Ein bewaffneter Konflikt war eine Sache. Das Abschlachten unbewaffneter Bürger etwas völlig anderes. Ohne die Menschenmenge zu beachten, machten sich Petronius und seine Legionen auf den Weg ins Landesinnere nach Tiberias. Josephus zufolge wurde er bei seiner Ankunft in Tiberias mit einer noch größeren Anzahl von Demonstranten konfrontiert. Er war noch über hundertzwanzig Kilometer von Jerusalem entfernt. Josephus beschrieb das, was sich vor Tiberias zutrug, folgendermaßen:

      „Damit warfen sie (die Juden) sich zur Erde, boten ihren Nacken dar und erklärten sich bereit, augenblicklich den Tod zu erleiden. So taten sie vierzig Tage lang und unterließen sogar, das Land zu bestellen, obwohl es hohe Zeit zur Aussaat war, indem sie fest bei ihrem Entschluss verharrten, eher zu sterben, als die Aufrichtung des Standbildes mit ansehen zu müssen.“3

      Die Bauern der gesamten Region streikten, was die Wirtschaft der Region in Gefahr brachte. Wieder einmal befand sich Petronius in einer Sackgasse. Die Erfüllung der Wünsche des Kaisers würde einem Völkermord nahekommen. Widerwillig schrieb er dem Kaiser und bat um weitere Anweisungen, wobei ihm völlig klar war, dass sein Versäumnis, die Befehle des Kaisers auszuführen, als Inkompetenz interpretiert und zweifellos zu seiner Degradierung oder etwas noch Schlimmerem führen würde. In einer außergewöhnlichen Wendung des Schicksals verschworen sich die Offiziere der Prätorianergarde mit einer Handvoll römischer Senatoren, um den Kaiser ermorden zu lassen, bevor der Brief des Petronius die Hauptstadt erreichte.

      Krise abgewendet.

      Also ja, der Tempel war eine große Sache.

      Jesus beanspruchte, größer als der Tempel zu sein.

      Das war ein ziemliches Problem.

      SYSTEMFEHLER

      Als Jesus gerade erwachsen wurde, musste er damit fertig werden, dass die führenden Leute das Tempelsystem zu ihrem eigenen Vorteil missbrauchten. Auch wenn uns in den Evangelien einige aufrichtige Priester, Schriftgelehrte und Pharisäer vorgestellt werden, stellen sie doch die Ausnahme dar. Jesu Prozess allein reicht aus, um die unbestreitbar faule Fassade der frommen Führer des Volkes zu durchschauen.

      Die weit verbreitete moralische Korruption innerhalb der Tempelwirtschaft wird in den Evangelien nicht nur angedeutet und veranschaulicht. Jesus sprach sie direkt an. Im Matthäusevangelium finden wir Jesu Beschreibung der verantwortlichen Männer. Hier ist eine Kostprobe:

       Sie tun alles nur, damit andere es sehen.

       Sie lieben die Ehrenplätze bei Banketten.

       Sie lieben ihre Titel.

       Sie lieben es, auf den Marktplätzen mit Respekt begrüßt zu werden.

       Sie vernachlässigen Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue.

       Sie sind Heuchler.

       Sie sind voller Gier und Selbstgefälligkeit.

       Nach außen hin erscheinen sie rechtschaffen, aber innen sind sie voller Bosheit.4

      Jesus schließt seine Charakterisierungen ab, indem er sie Schlangen nennt und sie fragt, wie sie der Hölle entkommen wollen …5

      Auf der Haben-Seite der Bilanz … Nun, damals stand fast nichts mehr auf der Haben-Seite. Jesus hielt das gesamte Unternehmen für korrupt. Schon bevor Jesus aus dem Jordan stieg, um seinen Dienst zu beginnen, hatten die Tempelführer ein ausgeklügeltes und verschachteltes System von Schlupflöchern geschaffen, welches ihnen ermöglichte, die unangenehmsten Forderungen des Gesetzes zu umgehen. Sie waren besonders geschickt darin, die Bestimmungen im mosaischen Gesetz, die sie finanziell belasten würden, zu ihren Gunsten zu interpretieren und so herunterzuschrauben. Folglich lebten diejenigen in den oberen Rängen der Tempelautorität geradezu fürstlich. Zurzeit Jesu war es ein einträglicher Job, in Jerusalem Priester zu sein. Die meisten Menschen wissen das nicht, aber zu Jesu Zeiten war der Tempel ein enorm profitables Unternehmen.

      Enorm profitabel.

      DAS SAMMELKÖRBCHEN HERUMREICHEN

      Der Tempel profitierte von mehreren Einnahmequellen, nicht zuletzt von der Tempelsteuer. Jüdische Männer über zwanzig waren verpflichtet, eine jährliche Tempelsteuer von einem halben Schekel zu bezahlen, was etwa eineinhalb Tagelöhnen entspricht. Das war kein riesiger Geldbetrag, aber es war auch nicht auf Männer beschränkt, die in der Nähe des Tempels lebten.

      Diese Steuer wurde von jedem jüdischen Mann verlangt, unabhängig davon, wo er lebte. Im ersten Jahrhundert gab es Millionen von Juden, die über das Römische Reich und darüber hinaus verstreut waren.6 Es gab ein ausgeklügeltes System, um die Tempelsteuer einzusammeln, zu bewachen und nach Jerusalem zu transportieren. Jüdische Männer konnten die Steuer in Schatzzentren in Großstädten in und um das Römische Reich herum bezahlen, oder sie konnten sie direkt im Tempel bezahlen. Josephus verweist auf eine solche Schatzkammerstadt, Nisibis, die in der heutigen Türkei liegt. Das folgende Zitat gibt uns eine Vorstellung davon, wie viel Vermögen gesammelt und aus den Schatzkammerstädten nach Jerusalem transferiert wurde:

      „… und betrachteten diese Städte gleichsam als ihre Schatzkammern. Von hier aus wurde das Geld dann zu bestimmten Zeiten nach Jerusalem geschafft, und zwar aus Furcht vor den Räubereien der Parther … unter dem Schutz durch mehrere tausend Mann.“7

      Josephus ist berühmt für seine Übertreibung. Aber selbst wenn nur eintausend babylonische Juden zum Schutz des Steuerkonvois eingesetzt wurden, wäre das eine mittelgroße Armee gewesen. All das zur Unterstützung der Aktivitäten, die auf etwas


Скачать книгу