Fear Street 49 - Schulschluss. R.L. Stine
– und er hört mir noch nicht mal zu!“
Am liebsten hätte sie den Tacker auf Mr Reiners Schreibtisch genommen und nach der Deckenlampe geschmissen. Dann hätte sie sicher seine ganze Aufmerksamkeit gehabt!
„Es muss doch irgendwas geben, was ich tun kann“, fuhr Lily fort und versuchte vergeblich, gelassen zu klingen. „Irgendwas, damit ich eine bessere Note kriege.“
Mr Reiner rückte seine Brille zurecht und sah sie mit eisigem Blick an. „Der Sinn und Zweck eines Leistungskurses liegt schon in seinem Namen. Es wird erwartet, dass ihr mehr Leistung bringt als Durchschnittsschüler. Es tut mir Leid, aber dein Testergebnis“ – er klopfte mit dem Zeigefinger auf ihr Heft – „reicht einfach nicht aus für eine Eins.“
Die Lampe fing wieder an zu summen. Mr Reiner warf einen genervten Blick an die Decke. „Ich habe dem Hausmeister schon vor drei Tagen Bescheid gesagt“, klagte er. „Wenn er nicht bald kommt, hole ich eine Leiter und repariere das dämliche Ding selber.“
„Bitte, Mr Reiner“, flehte Lily wieder. „Können Sie mir nicht wenigstens eine Eins minus geben? Dann käme mein Notendurchschnitt gerade noch auf eine Eins in Ihrem Kurs.“
„Ich gebe keine Einser, Lily“, sagte er kühl. „Ich verleihe sie nur – wenn sie verdient sind.“
Wütend starrte sie ihn an und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Was für ein gemeiner Kerl“, dachte sie. „Wie kann er so herzlos sein? Er will mir unbedingt das Leben schwer machen.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“, fragte sie.
„So ist es“, gab Mr Reiner lächelnd zurück.
Er lächelte sogar! Für ihn war das Ganze nur ein guter Witz.
Lily kniff die Augen zu und unterdrückte die Tränen, die in ihr hochstiegen. Aber dann gewann ein anderes Gefühl die Oberhand – Hass.
„Ich kann nicht zulassen, dass er mir das antut“, dachte sie. „Das kann er nicht mit mir machen, nicht mit mir!“
Sie stürzte sich quer über den Schreibtisch auf ihn.
„Hey – was ist –?“, stieß der Lehrer überrascht aus und hob abwehrend die Hände.
„Das war Ihre letzte Chance!“, schrie Lily schrill. Sie stieß seine Arme weg und legte ihre Hände auf seine Kehle.
Wutentbrannt drückte sie zu, so fest sie nur konnte. Immer fester und fester ...
Der Lehrer griff nach ihren Händen und versuchte, sich zu befreien.
Es war zwecklos.
Seine Augen quollen aus den Höhlen, sein verzerrtes Gesicht lief dunkelrot an. Aus seiner Kehle kamen erstickte, heisere Laute.
„Sie hätten meine Note ändern sollen!“, schrie Lily.
Sie ließ erst los, als Mr Reiner mit dem Oberkörper vornüber auf den Schreibtisch sackte. Tot.
2
„Ist noch was?“
„Wie bitte?“
„Lily, du stehst regungslos vor mir und starrst mich an. Willst du noch irgendwas fragen?“
Lily riss die Augen auf. Mr Reiner saß an seinem Schreibtisch und sah sie selbstzufrieden an.
Sie schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, und wich ein paar Schritte zurück.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass ich zu so was fähig bin. Ich habe mir tatsächlich vorgestellt, dass ich ihn erwürge!“, dachte sie.
Der Lehrer starrte Lily an und wartete auf eine Antwort. Doch sie brachte kein Wort heraus. Sie griff nach ihrem Testheft und rannte aus dem Klassenzimmer.
Sie wollte weg, weg von Mr Reiners stechenden Augen.
Ahnte er, was in ihr vorgegangen war?
Als sie über den überfüllten Flur rannte, rief jemand ihren Namen: „Lily! Hey, Lily!“
Sie drehte sich um. Ihre beste Freundin Julie Prince kam auf sie zu. In ihren braunen Augen lag Besorgnis. „Alles in Ordnung, Lily? Du siehst schrecklich aus.“
Lily schüttelte den Kopf. „Ich ... ich hätte ihn am liebsten umgebracht.“
„Sag so was nicht!“, rief Julie. Dann senkte sie die Stimme. „Wen hättest du am liebsten umgebracht?“
Zu spät fiel Lily ein, dass diese Worte für Julie nicht nur den Charakter einer Floskel hatten. Vor vier Jahren war Julies großer Bruder bei einem Raubüberfall auf den Lebensmittelladen, in dem er gearbeitet hatte, getötet worden.
Julie redete dauernd über ihn. Sie konnte die Erinnerung an seinen grauenhaften Tod nicht loswerden.
„Es tut mir Leid“, entschuldigte Lily sich und drükkte die Hand der Freundin. „Du weißt doch, dass ich so was nicht ernst meine. Ich bin einfach so verdammt sauer auf Mr Reiner.“
Julies Gesichtsausdruck wurde weicher. „Was ist denn passiert?“
„Er hat mir eine Zwei im Sozialkundetest gegeben. Kannst du dir das vorstellen? Es ist kein einziger Fehler drin, aber er hat mir trotzdem bloß eine Zwei gegeben.“
Julie zuckte mit den Schultern. „Es ist doch nur ein Test, Lil.“
„Du hast leicht reden“, erwiderte Lily verbittert. „Wenn ich ihn nicht dazu bringe, meine Note zu ändern, kriege ich wahrscheinlich eine Zwei in diesem Semester, und dann kann ich das Stipendium fürs College vergessen.“
„Auch ohne eine Eins in Sozialkunde hast du Supernoten“, erinnerte Julie sie. „Wahrscheinlich werden dir sowieso jede Menge Stipendien angeboten. Deine Eltern werden immer noch stolz auf dich sein.“
Lily schüttelte den Kopf. „Es gibt nur ein Stipendium, das meinen Eltern und mir wirklich etwas bedeutet: das Ehrenstipendium von Shadyside. Aber das wird nur an den Klassenbesten vergeben.“
„Ach, das Halbjahr ist doch noch lange nicht vorbei“, tröstete Julie sie. „Du kannst immer noch eine Eins schaffen. Komm, begleite mich zur Bücherei.“
Lily folgte ihrer Freundin durch den langen, menschenleeren Gang zur Schulbücherei. Sie gingen schweigend nebeneinander her, ihre Schritte hallten auf dem harten Boden. Lily konnte an nichts anderes als an Mr Reiner und die schreckliche Fantasie denken, die sie in seinem Klassenzimmer gehabt hatte.
Sie hätte sich gern weniger den Kopf über ihre Noten zerbrochen, aber sie konnte es einfach nicht. Sie wollte unbedingt Klassenbeste werden und das Shadyside-Stipendium bekommen. Es war ihre einzige Hoffnung, nach dem Schulabschluss auf ein wirklich gutes College gehen zu können.
Ihre beiden älteren Schwestern, Becky und Melinda, waren auf der Shadyside Highschool gewesen – und beide waren als Klassenbeste abgegangen. Als Nummer eins. An der Spitze der Klasse.
Genau das wollte Lily auch erreichen.
Der Druck war enorm! Ihre Eltern erwarteten es von ihr – und sie selbst auch. Jetzt war sie im zweiten Halbjahr der Abschlussklasse. Und bisher hatte sie in allen Kursen glatte Einser bekommen.
Warum verstand Mr Reiner nicht, dass er ihr mit dem Zweier ihr ganzes Leben ruinieren konnte? Warum konnte er sich nicht sein blödes Grinsen verkneifen und ihr einfach eine bessere Note geben?
„Es dauert bloß eine Minute“, unterbrach Julie ihre Gedanken, als sie die Bücherei erreicht hatten. „Ich muss diese Krimis zurückgeben. Sie sind längst fällig.“
Trotz ihrer schlechten Laune musste Lily lächeln. Julie trug einen Riesenstapel Bücher unter dem Arm. Seit ihr Bruder tot war, verschlang sie alle Kriminalromane, die sie in die Finger bekam. Während andere Jugendliche MTV anschauten, fraß Julie sich durch Detektivgeschichten, als seien es Popcorntüten.
„Ich