Friss oder stirb. Barbara Rieger
du keines«, sagt er, als er den einzigen Zweier in Annas Zeugnis entdeckt, er grinst und drückt ihr einen Geldschein in die Hand, tätschelt ihr die Wange.
Anna geht in ihr Zimmer, zieht die neue Jeans und das dunkelblaue Shirt an. Sie geht ins Bad, kämmt die Haare und zerzaust sie wieder, bindet sie zusammen, seufzt, geht zurück ins Vorzimmer und schlüpft in die neuen Converse.
»Willst du nicht Mittag essen?«, ruft die Mutter aus der Küche.
»Wo geht sie jetzt wieder hin?«, ruft Heinz aus dem Wohnzimmer.
»Zum Abendessen bist du aber wieder da!«, ruft die Mutter.
»Nimm dir eine Weste mit«, hört Anna, als sie schon im Treppenhaus ist, sie läuft die Stufen hinunter.
Annas Lippen glühen, bildet sie sich ein und die Augen sind glasig, stellt sie fest, als sie später im Lift nach oben fährt. Sie blickt in den Spiegel, sieht ihr Gesicht und kann es nicht fassen, dass sie mit Kurt gesprochen, dass Kurt ihr zum Abschied ein Bussi auf den Mund gegeben hat, ihr und Melli, und dass sie und Melli ihn vielleicht, wahrscheinlich, hoffentlich gleich wiedersehen werden im Keller. Sie öffnet die Wohnungstür, es riecht nach Essen.
»Da bist du ja endlich«, sagt die Mutter, »deck bitte den Tisch.«
Anna geht in die Küche, greift zum Schrank, »hast du dir die Hände gewaschen?«, fragt die Mutter. »Natürlich«, sagt Anna, sie nimmt die Teller aus dem Schrank, nimmt Messer und Gabeln aus der Lade, »Suppe gibt es auch«, sagt die Mutter und Anna nimmt Löffel, greift wieder zum Schrank, nimmt die Suppenteller, »Servietten«, sagt die Mutter, Anna nimmt die Servietten und geht ins Wohnzimmer, stellt drei flache Teller, legt drei Servietten, stellt zwei Suppenteller, faltet drei Servietten, legt die Gabeln links, die Messer und Löffel rechts neben die Teller, »den Salat«, ruft die Mutter aus der Küche und Anna holt die Salatschüssel. Heinz steht vom Sofa auf und die Mutter trägt die Suppe herein, »den Untersetzer, bitte«, sagt die Mutter, Anna holt den Untersetzer und die Mutter stellt die Suppe auf den Tisch, sie nimmt den Schöpfer, hebt den Schöpfer hoch, hält inne.
»Ich mag keine Suppe«, sagt Anna.
»Sie weiß einfach nicht, was gut ist«, sagt Heinz und schüttelt den Kopf, die Mutter leert Annas Anteil in den Teller von Heinz, die Mutter geht zurück in die Küche.
»Darf ich noch mit Melli in den Keller gehen?«, fragt Anna, als die Mutter mit der Pfanne wiederkommt.
»Jetzt isst du zuerst einmal etwas«, sagt die Mutter und legt Anna ein Stück Fleisch auf den Teller und drei Kartoffeln dazu, drei riesige Kartoffeln, denkt Anna, sie isst Salat, »immer nur Salat«, sagt Heinz. Anna zwingt sich ein Stück Fleisch abzuschneiden und es in den Mund zu schieben, sie zwingt sich ein Stück Kartoffel, noch ein Stück Kartoffel zu essen.
»Ich kann nicht mehr«, sagt sie dann und »bitte, Mama, heute ist der letzte Schultag, alle gehen heute aus!«
»Bis halb zehn«, sagt die Mutter.
Anna und Melli biegen ums Eck, Anna sieht Kurt vor dem Keller stehen, er wartet wirklich vor dem Keller auf sie und er gibt Melli und ihr zur Begrüßung wieder ein Bussi auf den Mund. Er gibt sonst niemandem ein Bussi auf den Mund. Er öffnet die Tür zum Keller und Anna geht vorbei an den Türstehern, die sie heute nicht nach dem Ausweis fragen, geht hinein ins Dunkle, einen Gang entlang und die Stufen hinunter. Es riecht nach Bier, nach Rauch und Schweiß, Anna atmet ein.
Kurt begrüßt den Kellner hinter der Bar, der Kellner reicht ihm ein Bier, Melli nimmt ein Bier für sich und Anna gemeinsam. Kurt führt sie ganz nach hinten, an einen großen Tisch. Er setzt sich auf die eine Seite, Melli setzt sich neben ihn, Anna setzt sich gegenüber, ein Fehler, denkt sie sofort, denkt sie zu spät. Die beiden reden auf der anderen Seite des Tisches, die Musik ist laut, sie versteht kein Wort, hört nur die Musik, I’m so ugly, that’s okay, cause so are you. Kurt sieht auf, sieht sie an, schiebt die Zigarettenschachtel über den Tisch. Anna schüttelt den Kopf.
»Ich will noch wachsen«, ruft sie.
»Ich nicht«, sagt er, liest sie von seinen Lippen ab, die Farbe seiner Lippen, seine Gesichtsfarbe, die gebleichten Haare, wie er sich eine Zigarette in den Mund steckt, daran zieht und sie anlächelt, wie er von allen Menschen gerade sie anlächelt, wie er sie so anlächelt, dass Melli nachher auf dem Nachhauseweg zu ihr sagt: »Er mag dich viel lieber als mich.«
»Wir haben nicht mal miteinander geredet«, sagt Anna.
»Weißt du, was er gesagt hat«, sagt Melli, »dass du hübsch bist«, und dann sagt Melli gar nichts mehr.
Anna denkt an Kurt, während sie ihre Längen durch den Pool zieht, immerhin hat das Haus einen Pool, denkt sie, immerhin ist es für irgendetwas gut, das Haus von Heinz, wenn sie schon hier sein muss, viel zu weit weg von allem, viel zu weit weg von Kurt. Sie fragt sich, ob er einfach nie in der Stadt war, wenn sie in der Stadt war, fragt sich, ob er jetzt gerade in der Stadt unterwegs ist, fragt sich, ob es ihn wirklich gibt, ob er sie wirklich hübsch findet, ob sie ihn wiedersehen wird, stellt sich immer wieder vor, wie es wäre. Morgen, denkt sie, morgen ist sie wieder zu Hause und bis morgen, nimmt sie sich vor, wird sie nichts mehr essen. Sie klettert aus dem Pool und legt sich in die Sonne, sie betrachtet den Bauch. Sie zieht ihn so tief ein, wie sie kann, ein Loch, sie betrachtet die Bikinihose, die sich über die Hüftknochen spannt. Sie stellt die Beine auf und spannt die Muskeln an, starrt auf die Teile der Oberschenkel, die locker nach unten hängen, die müssen weg.
»Willst du ein Eis?«, ruft die Stimme von Heinz und Anna schüttelt den Kopf, steht auf, geht an Heinz vorbei ins Haus, ins Badezimmer, stellt sich auf die Waage, die Waage von Heinz zeigt noch mehr an als die Waage der Mutter.
Anna schiebt den Einkaufswagen den Gang entlang, blickt auf die Milch, das Joghurt, den Sauerrahm, die Butter, schiebt den Wagen langsam weiter, schiebt gegen einen Widerstand, gegen eine zerrissene Jeans, spürt einen Stich in der Mitte.
»Hallo«, sagt Kurt, »was machst du da?«
»Einkaufen für Mellis Mutter«, sagt Anna schnell.
»Was suchst du?«, fragt er.
»Topfen«, sagt sie.
»Topfen«, wiederholt er, greift nach oben und hält ihr eine Packung hin.
»Noch zwei Packungen, bitte«, sagt sie und beobachtet Kurts Arme, wie sie nach dem Topfen greifen, wie sie den Topfen in den Wagen legen, wie dünn seine Arme sind, denkt sie und plötzlich steht Melli da und sieht von Kurt zu Anna und von Anna zu Kurt.
»Was machst du da?«, fragt Melli.
»Einkaufen für deine Mutter«, sagt Kurt und lacht. Er fragt, ob es Topfentorte gibt und ob er mitkommen darf, und Melli nickt und legt die Sachen in den Einkaufswagen, Anna schiebt den Wagen hinter den beiden her. »Die Anna hat sich schon solche Sorgen gemacht«, sagt Melli, Kurt dreht sich um und fragt »wirklich?«, und Anna sieht hinunter auf die Converse, sie möchte den Einkaufswagen in Melli rammen.
Später sitzt Kurt in Mellis Zimmer, spielt auf Mellis Gitarre, singt Polly wants a cracker und sieht dabei Anna an. Später bedankt sich Kurt bei Mellis Mutter, umarmt Melli zum Abschied. »Ich bring dich nach Hause«, sagt er zu Anna.
Sie gehen über den Hauptplatz, durch die Fußgängerzone, durch Annas Straße, sie stehen vor ihrem Haus.
»Hier wohnst du?«, fragt Kurt, sie nickt.
»Es ist kalt«, sagt er, »gehen wir rein?«
»Anna«, sagt er, als sie im Halbstock zwischen dem ersten und dem zweiten Stock stehen, »Anna, ich hab dich lieb.«
Er macht einen Schritt auf sie zu, beugt sich nach unten, legt die Arme um sie, drückt sie an sich, sanft zuerst, dann fester. Sie spürt den Stoff seiner Weste, seine Wärme, seinen Atem auf dem Hals.
»Ich dich auch«, sagt sie leise, so leise, dass sie nicht weiß, ob er es hört, sie hebt den Kopf, sein Gesicht kommt näher, seine Lippen berühren ihre.