Friss oder stirb. Barbara Rieger

Friss oder stirb - Barbara Rieger


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uns kommen, bei uns schlafen, du kannst zu ihm fahren? Willst du mit vierzehn Jahren die Pille nehmen?«

      Anna deutet ein Nicken an.

      »Ich verbiete dir das«, sagt die Mutter.

      Anna schüttelt den Kopf.

      »Ich verbiete dir, mit ihm zu schlafen«, sagt die Mutter.

      Das kann sie nicht, denkt Anna, das kannst du nicht, will Anna sagen, das geht doch nicht, »du kannst mir keinen Menschen verbieten«, sagt sie leise, »ich verbiete dir keinen Menschen«, sagt die Mutter, »ich kann ja verstehen«, beginnt die Mutter, die Mutter versteht überhaupt nichts, denkt Anna und starrt auf die Hände der Mutter, die über die Tischplatte wischen, immer wieder über die Tischplatte wischen. Die Mutter kann ihr nicht den Menschen verbieten, den sie liebt, denkt Anna, die Mutter verbietet ihr nie etwas und jetzt gerade das. Die Mutter greift über den Tisch, greift nach Annas Hand, will eine Hand auf ihre legen.

      »Anna«, sagt die Mutter, »ich will nicht, dass unser Vertrauen verloren geht.«

      Anna schüttelt den Kopf, zieht die Hand weg, steht auf, geht in ihr Zimmer, macht die Tür zu und schreibt in ihr Tagebuch.

      Die Mutter spricht nicht mehr mit ihr. Sie schweigt auf eine Art und Weise, wie sie noch nie geschwiegen hat. Wenn Anna die Mutter fragt, was los ist, sieht die Mutter durch sie hindurch. »Bitte rede mit mir«, sagt Anna schließlich zur Mutter, sagt sie immer wieder, dann gibt sie auf, geht in ihr Zimmer, macht die Tür zu.

      Später, viel später, macht die Mutter die Tür auf, steht im Türrahmen, sieht Anna an und sagt: »Ich habe dein Tagebuch gelesen.«

      Anna öffnet den Mund, sie will etwas sagen, sie weiß nicht was, weiß nicht wie.

      »Ich bin entsetzt«, sagt die Mutter, »was für ein Mensch meine Tochter ist. Ein Mensch mit so hässlichen Gedanken. Ich hätte mir das nie«, sagt die Mutter, »von meiner Tochter gedacht.«

      Anna schließt den Mund, sieht auf die Tischplatte.

      »Du solltest dich schämen«, sagt die Stimme der Mutter, Anna will sagen, dass es ihr leidtut, will sagen, dass sie irgendwo ihre Gefühle loswerden muss, »wirklich schämen«, hört Anna, sie sieht auf, öffnet den Mund, die Mutter dreht sich um und geht davon. Nie wieder Tagebuch schreiben, denkt Anna, anders mit den Gefühlen zurechtkommen, am besten gar keine Gefühle haben, nimmt sie sich vor.

      Es hat ziemlich weh getan, schreibt Anna drei Monate später in ihr neues Tagebuch und dass sie seitdem endlich einen Tampon einführen kann. Die Mutter hat behauptet, dass jemand angerufen und gesagt hat: Wissen Sie, dass Ihre Tochter mit dem Kurt schläft? Ich weiß nicht, ob die Mutter lügt, ob die Mutter sich das ausdenkt oder ob wirklich jemand, ob vielleicht sogar Melli, Anna streicht Mellis Namen durch.

      Sie schreibt, dass die Mutter ihr einen Schwangerschaftstest, Anna macht drei Rufzeichen, in die Hand gedrückt hat und dass sie ihre Tage erst bekommen hat, nachdem sie auf den Test gepinkelt hat, obwohl sie natürlich, Anna macht ein Rufzeichen, ein Kondom verwendet haben. Das Tagebuch versteckt sie ganz oben im Regal, hinter den Bilderbüchern.

      »Beim Essen«, sagt Heinz, »kommen die Leute zusammen«, und er bietet Kurt sogar ein Bier an. Es gibt Suppe in Suppentellern, es gibt eine Hauptspeise, es gibt Salat in kleinen Glasschüsseln, es gibt sogar eine Nachspeise, Anna bemüht sich zu essen. Heinz bietet Kurt einen Kaffee an und Anna wartet darauf, dass er ihm einen Cognac anbietet und sich mit ihm zum Rauchen in den Salon zurückzieht, in den Salon, den sie nicht haben, und sie weiß nicht, was ihr peinlicher ist, Heinz, so betont lässig, oder der strenge Blick der Mutter auf Kurts nacktem Knie, auf seiner zerrissenen Hose, auf seinen Haaren, »er sollte sich mal kämmen«, sagt die Mutter später, »oder zumindest die Haare waschen.«

      »Er soll sich eine neue Hose kaufen«, sagt Heinz, »so wird aus dem nie etwas.«

      Kurt kommt nie wieder zu ihr nach Hause, an den Samstagen darf sie ihn sehen, unter der Woche muss sie lernen, »in der Schule darf sie nicht abfallen«, heißt es, unter der Woche darf sie nicht ausgehen und in der Stadt abhängen, so der Deal, nur am Samstagnachmittag, nach dem Mittagessen, Samstag und Sonntag essen sie gemeinsam zu Mittag, »wie es sich gehört.«

      »Keine Suppe für mich«, sagt Anna.

      »Will sie jetzt auch noch abnehmen?«, fragt Heinz die Mutter.

      »Und Fleisch isst sie auch keines mehr«, sagt er kopfschüttelnd und isst ihr dennoch den Salat weg, mit der Gabel sticht er auf die einzelnen Salatblätter ein, mit Gabel und Messer zerteilt er das Fleisch, zerkratzt mit dem Messer das Porzellan und Anna will schreien und davonlaufen, sie sagt, es kratzt in ihrem Inneren, es zieht in ihren Zähnen, dieses Geräusch, doch die Mutter und Heinz schütteln nur den Kopf, »überempfindlich«, heißt es und »Pubertät« und nachdem Anna den Tisch abgeräumt und den Geschirrspüler eingeräumt hat, geht sie zum Kühlschrank und nimmt sich ein Vanillejoghurt.

      »Das isst sie also«, sagt Heinz und Anna denkt, dass er recht hat, dass sie sich das Joghurt sparen sollte. Sie geht ins Bad, versperrt die Tür, sieht in den Spiegel, umrahmt die Augen mit schwarzem Kanal, fährt sich durch die Haare, bis sie nach allen Seiten abstehen.

      »Wie eine Hexe«, sagt Heinz.

      »Um zehn bist du wieder da«, sagt die Mutter.

      »Halb elf«, sagt Anna.

      »Zehn«, sagt die Mutter.

      Kurt sitzt in der Wiese mit Edi und den anderen, Anna geht auf ihn zu, gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Er hält ihr seine Bierdose hin, sie trinkt, er bietet ihr eine Zigarette an, sie verneint, sie setzt sich neben ihn in die Wiese. Sie sitzen, reden, trinken, sie rauchen einen Joint, einen Joint nach dem anderen.

      Später gehen sie und Kurt durch die Fußgängerzone, ein Kopfhörer in ihrem, ein Kopfhörer in seinem Ohr, sie spürt den Boden nicht mehr, sie schwebt, sie spürt noch Kurts Hand in ihrer, die Hand wird taub, sie spürt die Arme nicht mehr, die Beine, nur mehr die Mitte, den Magen. »Kurt«, sagt sie, sie wundert sich, dass sie noch sprechen kann, »mir ist schlecht«, sagt sie, Kurt sieht sie an, »du siehst aus, als müsstest du gleich kotzen«, sagt er und drückt ihre Hand, zieht sie ins Einkaufszentrum, fährt mit ihr die Rolltreppen hinauf, zieht sie Richtung Toiletten. »Ich kann nicht mehr«, sagt sie und lehnt sich gegen die Wand, er hält ihre Haare, sie beugt sich über den Mülleimer. »Am Dope kann es aber nicht liegen«, sagt er, als sie fertig ist, »das ist gutes Dope.«

      »Es geht schon wieder«, sagt sie und nimmt einen Schluck Bier gegen den Geschmack von Kotze im Mund.

      Anna springt vom Boden auf, läuft ins Vorzimmer und hebt den Hörer ab. Sie hört das Zittern in ihrer Stimme, als sie ihren Nachnamen sagt, sie hört das Rauschen in den Ohren und die Stimme von irgendjemandem, der sie nicht interessiert. »Die sind nicht da«, sagt sie und legt auf. Sie geht ins Badezimmer und stellt sich auf die Waage. Die Waage zeigt seit Wochen das gleiche Gewicht. Sie geht ins Wohnzimmer, legt sich auf den Teppich und fährt damit fort, die Beine zu heben, zuerst auf der Seite liegend, dann auf dem Bauch, dann auf dem Rücken, sie macht alle Übungen aus dem Buch, das die Mutter ihr geschenkt hat. Schlank und schön, liest Anna auf dem Einband, dann blättert sie in der Frauenzeitschrift, die die Mutter von Petras Mutter bekommen hat, sie liest die Diättipps, die Kalorienangaben neben den Rezepten. Sie weiß nicht, was sie falsch macht. Das Telefon läutet und sie springt auf, läuft ins Vorzimmer und hebt den Hörer ab.

      »Anna?«, fragt Kurt.

      »Kurt«, sagt sie und ignoriert die Punkte, die schwarzen Punkte, die schon wieder in ihrem Gesichtsfeld herumschwirren.

      »Wie geht’s?«, fragt er und Anna erzählt, dass die Mutter und Heinz nicht da sind, dass sie erst übermorgen wiederkommen und fragt ihn, ob er zu ihr kommen mag.

      »Ich muss noch was erledigen«, sagt Kurt, »wie heißt der Schulkollege von dir, der Gras anbaut?«

      »Paul?«, fragt sie.

      »Kannst du den morgen Abend in den Keller


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