Friss oder stirb. Barbara Rieger

Friss oder stirb - Barbara Rieger


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Treppenhaus geht aus.

      Am nächsten Tag steht Kurt vor dem Einkaufszentrum und gibt Anna einen Kuss auf den Mund. Er nimmt sie an der Hand und zieht sie hinein, sie fahren mit der Rolltreppe nach oben. Ganz oben gibt es keine Geschäfte, gibt es kaum Menschen, sie gehen nach hinten, hinter die Toiletten und setzen sich auf den Boden. Sie sehen von oben auf den Hauptplatz, sehen sich in die Augen. Seine Lippen sind weich und kühl, berühren ihre, sanft, und seine Zunge berührt ihre, sehr vorsichtig, bewegt sich in ihrem Mund, verschwindet wieder. Er streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schiebt sie hinter ihr Ohr, greift nach ihren Händen, legt die ineinander verschränkten Hände auf ihr Knie und zieht sie wieder zu sich. Es ist genauso, wie es sein soll, denkt sie, genauso, wie sie sich das vorgestellt hat, sie wird ihn für immer lieben.

      »Stimmt es, dass du mit Kurt herumgeknutscht hast?«, fragt Petra am Telefon, sie weiß es von Melli, die es von irgend jemandem in der Stadt weiß, der sie gesehen hat, wie sie Hand in Hand die Rolltreppen hinaufgefahren sind.

      »Melli ist voll fertig, sie meint, sie redet nie wieder mit dir, sie meint, sie liebt den Kurt über alles«, sagt Petra und Anna wird schwindlig, ihr wird schlecht, sie sieht schwarze Punkte vor den Augen, sie ruft bei Melli an, Mellis Mutter sagt, Melli ist nicht da.

      »Der will doch nur Sex mit dir, das weiß doch die ganze Stadt«, sagt Melli, als Anna sie endlich erreicht, »glaubst du, der interessiert sich wirklich für dich?« Anna legt auf, geht ins Bad, setzt sich auf die Badewanne und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel, es ist so bleich wie die Haare von Kurt, unter ihren Augen schwarz, denkt sie, alles ist schwarz.

      »Ist etwas passiert?«, fragt die Mutter, als Anna in der Früh nicht aufsteht.

      »Was hat ihr jetzt wieder den Appetit verschlagen?«, fragt Heinz.

      »Wenigstens wird sie vor dem Urlaub krank«, sagt die Mutter.

      »Irgendein Kurt hat angerufen«, sagt Heinz.

      Sie weiß, denkt Anna im Fieber, dass Kurt wirklich mit ihr zusammen sein will, sie weiß nicht, denkt sie, während sie zittert und schwitzt, ob sie das kann, wenn alle sie dafür hassen, sie weiß nur, denkt sie, während das Fieber langsam sinkt, dass sie Kurt, dass sie Melli und Petra nicht verlieren will.

      Das Rauschen des Meeres, das Kreischen der Möwen, die Stimme der Mutter, die Annas Namen sagt, »aufstehen«, heißt es, »frühstücken«, heißt es, »dass wir noch was bekommen«, sagt Heinz und Anna rutscht aus dem Bett, schleppt sich ins Badezimmer, wäscht das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie folgt der Mutter und Heinz hinunter in den Frühstücksraum, folgt ihnen an den Tisch, bleibt sitzen, als die beiden zum Buffet gehen. Sie gießt sich Kaffee aus der Kanne in die Tasse und trinkt. Die Mutter und Heinz kommen zurück, auf dem Teller der Mutter Weißbrot und Salami und drei Scheiben Gurke, auf dem Teller von Heinz Eier mit Speck und Bohnen und Toastbrot. Anna sieht weg.

      »Holst du dir nichts?«, fragt die Mutter.

      »Ich hab keinen Hunger«, sagt Anna, »ich schlafe eigentlich noch.«

      »Man sieht’s«, sagt Heinz, »aber nachher gibt’s nichts mehr.« Er schiebt sich ein Stück Speck in den Mund.

      Anna rutscht mit dem Stuhl zurück, steht auf, geht zum Buffet. Sie geht vorbei am Brot und der Wurst und dem Schinken und dem Käse und dem Frischkäse und dem Frühstücksspeck und den Eiern und dem aufgeschnittenen Gemüse und noch mehr Eiern und Aufstrichen und wieder Brot, vorbei am Müsli und den Frühstücksflocken, sie steht vor dem Obst und dem Joghurt. Von links nähert sich ein dicker Mann, der sie fast berührt, und von rechts eine dicke Frau, und Anna weicht zurück und geht weiter, vorbei an den Croissants und dem Kuchen und den Schokokeksen und den Säften. Sie könnte einen Saft trinken, denkt sie, aber sie kann nirgends Gläser sehen. Sie spürt den Blick der Mutter im Rücken, spürt, wie der Raum anschwillt, wie alles anschwillt um sie herum, sie steht wieder vor dem Joghurt. Sie nimmt sich eine Schüssel, leert ein wenig Joghurt hinein, nimmt sich einen Löffel und setzt sich zur Mutter und zu Heinz an den Tisch. Die Mutter zieht die Augenbrauen hoch und Heinz seufzt, steht auf und holt sich Nachschub.

      Die Frau auf der Liege neben Anna steht auf und beugt sich nach vorn. Die Brüste und der Bauch hängen nach unten und baumeln hin und her. Anna dreht den Kopf, starrt auf den Bauch eines Mannes, der sich hebt und senkt, immer noch größer und größer wird. Sie schließt die Augen und denkt an Kurt. Kurt ist ein Gerippe, würde die Mutter sagen, wenn sie ihn sehen würde, wenn Anna ihn der Mutter vorstellen würde, was sie müsste, wenn sie von ihm erzählen würde. Was sie irgendwann tun muss, denkt sie und öffnet die Augen.

      Die Mutter cremt Heinz den Rücken ein, die Mutter trägt einen Badeanzug und hat im Vergleich zu den anderen Frauen am Strand eine Figur, die noch die Figur eines Menschen und nicht die eines Walrosses ist, denkt Anna, sie hat keine Ahnung, wie die Mutter das macht. Die Mutter dreht sich um und hält ihr die Sonnencreme entgegen. Anna schüttelt den Kopf.

      »Ich bleibe im Schatten«, sagt sie.

      »Nachtschattengewächs«, sagt Heinz und lacht. Anna lehnt sich zurück und sieht aufs Meer, sie denkt an Kurt, eine Woche noch, denkt sie, eine Woche, dann sieht sie ihn wieder, sie will mit ihm zusammen sein, hat sie beschlossen.

      Grashalme streifen Annas Arme, das Gras reicht ihr bis zur Hüfte, es ist trocken, sticht. Vor ihr Kurts lange Beine, sein Rücken, sein roter Rucksack, vor Kurt Edis roter Iro. Anna dreht sich um, Petra kneift die Augen zusammen, zuckt mit den Schultern, sie gehen Richtung Baustelle, Richtung Kräne, die Kräne drehen sich leicht im Wind. Bald wird es dunkel, denkt Anna, aber Edi kennt den Weg, kennt alle Wege durch die Felder, die Baustellen, Edi kennt sich aus. Vor ihnen eine Lichtung, ein Schatten, eine Betonplatte. Zu viert haben sie gerade Platz darauf, sie vier und Kurts Rucksack, aus dem er die Bierdosen zieht, die Zigaretten und ein Säckchen mit Gras.

      »Schau«, sagt er, »schau, wie schön«, er öffnet es und hält es Anna unter die Nase. Sie riecht daran, es riecht wie alles um sie herum, eine Spur intensiver vielleicht.

      »Das sind Blüten«, sagt er, lächelt und hält ihr die Zigarettenpackung hin.

      »Kannst du einen Filter machen?«, fragt er und Anna schüttelt den Kopf, sieht zu Petra, sie schüttelt auch den Kopf.

      »Ich zeig’s euch«, sagt Edi und nimmt ihr die Zigarettenpackung aus der Hand, reißt ein Stück Karton aus dem Deckel, rollt es fest zusammen und reicht es Kurt. Kurt legt den Filter ans Ende, verteilt Tabak und Gras, schleckt über das Paper, rollt, streicht, streichelt den Joint, lächelt, zündet ihn an und zieht.

      »Ich geb dir einen Schuss«, sagt er zu Anna und steckt den Joint verkehrt herum in den Mund und beugt sich zu ihr. Ihre Lippen schließen sich um den Filter, Kurts Augen ein unscharfes Blau, sie atmet ein und hustet.

      »Beim ersten Mal spürst du nichts«, sagt Edi und Anna denkt, er hat recht, sie spürt nichts, nichts Besonderes, nur Kurt, der seine Hand auf ihren Oberschenkel legt, Kurt, glücklich und zufrieden, Kurt, der wieder und wieder am Joint zieht und eine Spur von ihr wegrutscht, Kurt, der, denkt sie plötzlich, von der Betonplatte rutschen wird. »Die Platte ist schief«, sagt Anna, die anderen grinsen.

      »Die Platte kippt«, ruft sie dann und greift nach Kurts Hand, er zieht sie weg, schüttelt den Kopf. Sie greift nach seinem Arm, sie will nicht, dass er von der Platte rutscht.

      »Lass das«, sagt Kurt und schüttelt ihren Arm ab und sie fällt gegen ihn, er fällt, rutscht zur Kante, halt dich fest, will sie sagen, sie klammert sich an ihn, er schüttelt sie ab.

      »Was Süßes?«, fragt Edi und zieht eine Tafel Schokolade hervor, gibt sie Petra, die sich eine Rippe abbricht und Anna die Tafel hinhält. Schokolade, denkt Anna, irgendwie wäre Schokolade jetzt nicht schlecht. Sie bricht sich ein Stück ab, steckt es in den Mund, Kurt beginnt einen neuen Joint zu bauen, »bevor es ganz dunkel ist.«

      Die Schokolade verklebt Anna den Mund, wird immer mehr, erst süß, dann bitter, dann säuerlich, dann ist sie weg bis auf den schalen Nachgeschmack. Nie wieder ein Stück, denkt Anna, ein Stück noch, denkt sie, nur noch ein Stück.

      Die


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