Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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herrichten, Rattengift zubereiten, konnte Messer haarscharf schleifen und Mauerlöcher zukleben. Aber er wußte noch viel, viel mehr. Kinder liebte er besonders, und für sie hatte er die schönsten Geschichten bereit. Kleine Erlebnisse wußte er phantastisch aufzuputzen, bengalisches Feuerwerk stellte er selber her, er schnitzte Puppenspiele und führte kleine Dramen auf. Aber schon seine Persönlichkeit allein bot den Kindern einen prächtigen Unterhaltungsstoff. Er ging gebückt, hatte scharf geschnittene Züge, wässerige, blaue, kleine Äuglein, eine stark gebogene Hakennase, einen kahlen Schädel, auf dem der unvermeidliche Zylinder feierlich glänzte, um seine wankenden Knie schlotterten die langen Schöße des Schlußrocks, die gelben Hosen steckten in spiegelblank geputzten Stiefeln, die linke Hand saß stets im kanariengelben Lederhandschuh, den Marcellus nur zur Arbeit mit einer vornehmen Geste abstreifte. Wie gesagt: Marcellus konnte alles. Brauchte man irgend etwas im Haushalte – Marcellus brachte es. Allerdings, oft kam es vor, daß ein notwendiges Werkzeug, ein Beil oder eine Säge, in einem Hause abhanden gekommen waren. Das hatte nun der alte Marcellus irgendwohin, wo es benötigt wurde, gebracht. So tauschte er die Güter der verschiedenen Häuser, und gar oft bemerkte ein Bürger zu seinem größten Erstaunen einen ihm gehörigen Gegenstand bei seinem ahnungslosen Nachbar. Aber den alten Marcellus ließ man gerne gewähren. Er war ein nützliches Haustier und eine »ehrliche Haut«.

      Ja, ehrlich war Marcellus vor allem. Vielleicht auch ein bißchen zu ehrlich. Geradezu wunderbar war die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Aus dem jugendlichen Stürmer und geschworenen Feind aller menschlichen Gesetze war ein trockener Pedant geworden, ein starrer »Moralist«, steif gepreßt in die Zwangsjacke der Bürgerlichkeit, ein wandelnder Sittenkodex. Unendlich stolz auf seine patrizischen Vorfahren, hielt er es doch gar nicht unter seiner Würde, anderen zu dienen. Er war auch mehr ein Schutzgeist der Häuser, in denen er einging, als ein Diener. Ja, er vollführte die Aufträge mit einer Würde, als erweise er eine herablassende Gefälligkeit, nahm kleine Geschenke entgegen mit dem Gesichtsausdruck einer orientalischen Majestät, der die Untertanen den Ehrensold überreichen. Von Dank war nie die Rede, man mußte belohnt genug sein, wenn er überhaupt geruhte, das Geschenkte anzunehmen.

      Mit der Zeit war es so in seinem Kopfe etwas wunderlich geworden. Er glaubte fest daran, alleiniger Besitzer des Hauses zu sein, in dem er nur gelitten war, und oft ließ er durchblicken, daß der biedere Fleischer es nur seiner, des Marcellus, Güte zu verdanken hatte, wenn er überhaupt noch im Hause saß. Das Haus – ja, das war sein Allerheiligstes. Das böse Gewissen, seine Eltern vielleicht zu früh in den Tod getrieben zu haben, die bittere Reue über ein verfehltes Leben hätten ihn in den rasenden Wahnsinn getrieben, wenn ihm seine Phantasie nicht vorgegaukelt hätte, daß er im Grunde doch ein wohlanständiger Bürger geworden sei im Sinne seiner [... ]

      undatiert

      Es war eine stille Gasse. Wie irgendeine in einem Vorort. Der Lärm der Großstadt drang in die Gasse nur als fernes, seltsames Summen und Klingeln. Kleine Häuser und dürftige Gärten umsäumten sie. Herbstlich-mild und freundlich war der Tag. Einer von den Tagen, die man genießen soll mit gleichmutsvoller, ruhiger Seele.

      Wenn man in der Gasse fortging, immer fort, dann kam man wohl irgendwohin ins Freie, wo sich die kleinen Häuser nicht mehr aneinanderklammerten, sondern lose standen und frei, wo Wiesen waren und Sträucher, wo dunkle Berge und Wälder lockten; wo Menschenpaare gingen und aus Tüten Zwetschken aßen und die Hände verschlungen hielten, um einander am hellen Tag ihre Liebe durch stark-zärtlichen Druck zu bezeigen; wo aus Häusern Stangen mit häßlichen Stroh geflechten hingen und verkündeten, daß aufs neue ein Herbst gekommen war mit neuern, heurigem, Fröhlichkeit und, ach, Vergessenheit bringendem Trunk.

      Aber die wenigen Menschen, die an diesem Tage in der Gasse gingen, hatten keine Zeit, den Wiesen und Wäldern zuzueilen, sich der Liebe oder dem Weine hinzugeben. Sie wendeten sich stadtwärts, sie gingen im Trott des Alltags: Männer in blauen, ölbefleckten Arbeitskleidern, Männer mit Amtskappen, Frauen in Kleidern, die hell und bunt waren wie der Tag; sie trugen große Taschen leicht und sicher, und die unförmliche Last vermochte nicht die zierliche Schönheit ihres Schrittes zu hemmen, der die Frauen dieser Stadt auszeichnet.

      Einer ging unter ihnen, der nicht zu den Menschen dieser Gasse zu gehören schien, der irgendwie fremd war in der Gasse, der kein Ziel zu haben schien wie sie. Ein großer Mann in schlichtem, dunklem Gewand, barhaupt, ein wenig gebeugt, ein wenig unsicheren, schwankenden Schrittes, den rechten Fuß mit einiger Mühe schleppend. Er sah die Menschen, die vorübergingen, forschend an, und die Frauen erschraken ein bißchen, wenn sie der Blick traf, aus Augen, die groß, dunkel, ein wenig starr in dem bleichen Antlitz standen. Er sah die Häuser an, eines nach dem anderen, und schien eines von ihnen zu suchen. Aber er hatte offenbar keine Eile; er ging ganz langsam, schier, als ob er sich gefürchtet hätte, zu finden, was er suchte. Man kommt auch mit langsamem, schwankendem Schritt zum Ziele: Da stand unter den niederen Häusern eines, das groß war und stattlich, nicht aufdringlich, eher anmutig und freundlich wie ein Landsitz, der vor langen Zeiten einem großen Herrn zur Kurzweil gedient hatte, wenn er ausruhen wollte von den Anstrengungen der Machtausübung. Die Inschrift freilich, die das große Tor trug, war wenig anmutig. »Spitalseingang« stand dort in großen Buchstaben.

      Der fremde Mann in der stillen Gasse zuckte ein bißchen zusammen, als er zu dem Hause gelangte und die Inschrift las. Und er ging ein bißehen schneller; deutlicher merkte man das Nachschleppen des rechten Fußes. Er ging an dem Hause vorüber, weiter in der stillen Gasse, die ins Freie führte zu Wiesen und zum Wald. Der Mann konnte nicht in den Wald gehen, in den ruhigen, weiten, freien; er konnte es gestern nicht, er durfte es heute und morgen nicht.

      Er gehorchte dem Zwang, der in ihm war und ihn unsichtbar umgab, und ging zurück zu dem Hause, das wie ein alter, freundlicher Landsitz aussah und die Inschrift »Spitalseingang« trug.

      Ein blondes Mädchen stürmte aus einem Hauseingang, verfolgt von einem strahlenden Burschen. Es kreischte und lief blind in sorglosem Ungestüm. Und stieß mit dem Manne zusammen, der in der Gasse ging. Er taumelte, suchte Halt an einem Gitter und sah in das heiße, junge Gesicht. Das Mädchenlachen erlosch. Da kam schon der Bursche, nahm heftig den Arm des Mädchens und führte es die Gasse entlang den Wiesen und Sträuchern zu. Und das Mädchenlachen erfüllte wieder die Gasse und kam zurück zu dem Manne, der noch beim Gitter stand und der freien, unbekümmerten Jugend nachsah, die es eilig hatte, seinem Blick zu entrinnen. Noch ein Weilchen stand das Jugendlachen in seinem Ohr, ward schließlich mißtönend, verzerrt und verließ ihn.

      Dann stand er wieder vor dem freundlich-ernsten Landsitz. Er maß das Haus mit langem Blick und suchte die Mauern zu durchdringen und des Hauses Geheimnisse zu erforschen.

      Er sah eine Tafel, auf der geschrieben stand, daß die Kranken der ersten und zweiten Klasse täglich von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends und die Kranken der dritten Klasse an vier Tagen der Woche von zwei bis vier Uhr nachmittags Besuche empfangen dürfen. Eines wußte er nun: Es war Ordnung hinter dem braunen Tor. Da freute er sich in der schönen Erkenntnis, daß die Menschen Ordnungssinn haben und ihn überall, wo sie nur können und es für nötig halten, betätigen. Nur die große Welt, in der sie alle, die Brüder und Schwestern, die Klassen und die Rassen und die Völker, nebeneinander leben müssen, ist noch ein wenig in Unordnung. Da nützen selbst die Tafeln mit der Einteilung für die Menschen der ersten und zweiten und die Menschen der dritten Klasse nicht viel. Aber einmal, irgend einmal wird schon der schöne, immer wache, immer taten bereite Ordnungssinn der Menschen Ordnung schaffen, überall, in den Städten, in den Ländern, in der ganzen, großen, schönen Welt. Heute wollte er zufrieden sein in dem Bewußtsein, daß Ordnung war hinter dem stattlichen braunen Tor.

      Und der fremde Mann in der stillen Gasse versuchte, ein wenig zu lächeln; es ward aber ein verzerrtes Grinsen, bei dem der rechte Mundwinkel tiefer hing als der linke.

      Da tat sich die kleine Pforte auf, die neben dem großen braunen Tore war, ein kleiner, dicker Mann mit einem Käppchen auf dem Kopfe kam heraus und sagte mit beflissener Freundlichkeit: »Guten Tag, Herr, wollen Sie zu uns kommen? Bitte, gehen Sie nur weiter!« Seine Hand wies höflich einladend den Weg.

      Ein kleiner Schauer lief über die lange,


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