Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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Pforte und bückte sich ein wenig, weil sie nieder war.

      Sorgsam schloß der freundliche Türhüter die Pforte der Nervenheilanstalt und geleitete, immer ruhig-höflich, den fremden Mann wie einen Gast. Er führte ihn in eine große, helle Vorhalle, wo Menschen auf Sesseln, Bänken und in Rollwägelchen saßen und warteten. Heinrich Reinegg setzte sich zu ihnen und begann zu warten wie sie. Es ist gleichgültig, dachte er, wo man wartet. Irgendwo, irgendwie warten wir immer.

      Sie musterten den Neuen neugierig, fast wohlwollend. Und tuschelten. Eine Frau kam in blauer Schwesterntracht, groß und ernst, und half einem Mädchen, das im Rollstuhl saß, beim Aufstehen. Das Gesicht des Mädchens war fein und schmal und lächelnd. Indes: Das Leid schien im Kampf mit der Heiterkeit zu liegen. Das Mädchen stützte sich auf zwei Stöcke, die am Ende einen Gummibelag hatten. Schon hatte es sich aufgerichtet, da rutschte ein Stock auf dem glatten Boden, und das Mädchen fiel mit einem leise klagenden Ruf zu Boden. Heinrich Reinegg, der zunächst saß, half der Schwester, das Mädchen auf die Beine zu bringen. Es war kein schweres Bemühen; unheimlich leicht war dieser Mädchenkörper. Das Mädchen sah dankend in die großen, dunklen, starren Augen des fremden Mannes; es erschrak nicht wie die Frauen draußen vor dem braunen Tor; es lächelte wieder: heiter und ein wenig leidvoll.

      Nun stand das Mädchen wieder auf den schmalen Füßen und mußte gehen. Es setzte zaghaft den linken Fuß vor, schnellte den rechten ein wenig in die Höhe und dann nach vorne und zur Erde. Dann waren zwei Schritte getan. Die Schwester führte das Mädchen langsam und geduldig zu einer weißen Türe. Heinrich Reinegg dachte einen Augenblick an die zierlichen, sicheren, leichten Schritte der Frauen und Mädchen, die draußen in der Gasse gingen.

      »Die wird nicht mehr tanzen«, sagte ein Mann, der über dem linken Auge eine schwarze Binde trug; sie verdunkelte sein hageres Gesicht. Niemand antwortete.

      Eine alte Frau schüttelte den kleinen, grauen Kopf. Es war eine ganz leichte, mißbilligende Bewegung. Sie erfolgte in regelmäßigen, kleinen Zeitabständen. Warum sollte sie nicht den Kopf schütteln, dachte Heinrich Reinegg, es ist ganz natürlich, daß sie es tut.

      Unwillig sah die alte Frau den Mann mit der schwarzen Binde an. Sie beugte sich zu dem jungen Mann, der gleichgültig neben ihr saß, und begann zu flüstern. Der junge Mann sagte ruhig: »Reg dich nicht auf, Mutter, warum regst du dich auf? Es steht nicht dafür.« Teilnahmslos ging sein Blick über den Raum, über die Menschen und Gegenstände.

      Ein paar Augenblicke lang blieb er an den Händen eines kleinen, schwarzhaarigen Mädchens haften, die ohne Unterlaß in einem Buche blätterten. Aber als das Mädchen seinen Blick fühlte und ihn ansah, wendete er sich unbewegt ab.

      Der Mann mit der schwarzen Binde litt unter der hämischen Stille. Er verstand nicht, warum sie nicht antworteten. Seine Stimme hatte einen ganz kleinen Bruch, als er sagte: »Sie ist Tänzerin. Tänzerin von Beruf.« Und sein rechtes Auge blickte unruhig nach der Tür, hinter der die Tänzerin war.

      Da folgten sie alle, ein wenig betroffen, dem Blicke seines rechten Auges. Und sahen alle nach der weißen Tür. Dann begann die alte Frau wieder, den Kopf zu bewegen, leise und ein wenig mißbilligend. Ihr Sohn sah gleichgültig nach der Uhr. Das schwarzhaarige Mädchen blätterte wieder in dem Buche.

      Aber plötzlich legte die Schwarzhaarige das Buch mit einem kleinen Knall auf den Tisch, wendete ihr kleines Mädchengesicht dem Manne mit der schwarzen Binde zu und sagte mit einigem Nachdruck: »Vor sechs Wochen konnte ich auch nicht gehen. Jetzt kann ich schon wieder gehen. Bald werde ich hinausgehen. Bald werde ich wieder wandern. Vielleicht schon in einer Woche. Jetzt werde ich es gleich hören, wann ich hinausgehen darf.« Sie sah zum Fenster und darin zur weißen Tür. »Ja. Und die Tänzerin wird schon auch wieder gehen können. Und tanzen, ja, vielleicht wird sie sogar tanzen können.« Da brach sie ab. Und alle wußten, daß sie in ihren Gedanken hinzufügte: Und wenn sie auch nicht tanzen kann –! Die Tänzerin!

      Die alte Frau vergaß, den Kopf zu schütteln; es war ein leichter, freudiger Schimmer in ihrem grauen Gesicht. »Sei still, Mutter«, murmelte gleichmütig ihr Sohn, »sei still, es steht nicht dafür.« So nahm er ihr das Wort, ehe sie es sprechen konnte.

      Der Mann mit der schwarzen Binde sah zornig mit dem rechten Auge das schwarzhaarige Mädchen an. »Das ist etwas ganz anderes bei Ihnen «, sagte er, »was hat Ihnen gefehlt? Sie haben etwas ganz anderes. Was wollen Sie sagen? Sie werden wieder gehen. Wer weiß, wohin Sie gehen. Aber diese Frau – sie wird nicht mehr tanzen können.« Seine Stimme war noch ein wenig brüchiger. Er hatte zu viel und zu lange gesprochen. Nun schwieg er. Und rückte die schwarze Binde zurecht. Die große, ernste Schwester öffnete die weiße Tür und führte die Tänzerin heraus. Behutsam setzte die Tänzerin den linken Fuß vor, dann hüpfte der rechte in die Höhe und nach vorne und zur Erde. Und seltsam schwang der leichte Körper der Tänzerin mit. So kam sie hüpfend und tanzend zum Rollwägelchen. Lächelnd sah sie Heinrich Reinegg an, der versunken saß.

      Der einäugige Mann, der der hilflosen Tänzerin Ritter sein wollte, machte sich erbötig, sie fortzuführen. Aber da stand schon einer im weißen Kittel, der ihn zur Seite schob und sagte: »Gehn S’ weg! Dazu bin ich da.« Er war dazu da, Lasten zu führen, und es war ihm gleichgültig, ob es lebende, leidende oder tote waren.

      Ein Sonnenstrahl fiel in den Raum und blieb haften am roten Haare der Tänzerin. Und das Haar leuchtete. Aber der Rollwagen fuhr weiter, und der Sonnenstrahl fiel zu Boden, wo ein weißer, glutender Fleck entstand.

      Wieder öffnete die ernste Schwester die weiße Tür. Und Heinrich Reinegg ging hinein. Er zauderte ein wenig, aber er mußte gehen. Oft hatten sich weiße und graue und schwarze Türen vor ihm geöffnet. Oft hatte er gezögert und war doch gegangen, weil er mußte.

      Eine Frau saß an einem Schreibtisch und sah, ruhig forschend, Heinrich Reinegg entgegen. Warum eine Frau? dachte er. Was macht ein Mann, wenn er einer Frau begegnet? Er macht eine Verbeugung, die linkischer und unschöner ist, als wenn er sie vor einem Manne machte, und dann sieht er, nicht geradeaus, eher von der Seite her, ob sie jung oder hübsch ist und welche Farbe ihre Haare haben. Oft dauert es, zu seiner Freude oder zu seinem Schaden, lange, bis er den Menschen entdeckt.

      War dieser Weg nun leichter oder schwerer, weil dort eine Frau saß? Aber die Frau trug einen weißen Mantel. Der verbarg die Frauengestalt, der verbreitete Unparteilichkeit; der weiße Mantel entschied in diesem Raum.

      In ärztlichen Zimmern ist immer irgend etwas Geheimnisvolles. Da ist ein Ruhebett, das nicht der Ruhe dient, da sind Glaskästen mit glitzernden Dingern, die dich irgendwie feindselig ansehen. Da ist einer, der sich anschickt und berufen ist, zu erforschen, was im Kopf oder in der Brust oder im Bauch anders ist, als es nach den Gesetzen, die er kennt, zu sein hat. Heinrich Reinegg dachte an einen Uhrmacher, der die Uhr schüttelt und ihre Rädchen lange und scharf durch eine Lupe ansieht, ehe er an die Arbeit geht, und an einen Mechaniker, der den Motor eines Kraftrades in Tätigkeit setzt und mit scharfem Ohr zu erforschen trachtet, ob er unregelmäßig klopft oder Nebengeräusche hat. Aber waren das nicht törichte Gedanken? Menschen sind keine Uhren und keine Krafträder, und Ärzte können nicht Uhrmacher und Mechaniker sein.

      Ein Arzt, ein junger Mann mit einer großen Glatze, kam in das Zimmer. Er sah Heinrich Reinegg flüchtig, gleichgültig an. Dann beachtete er ihn nicht mehr. Er sprach kurz mit der Frau im weißen Mantel über einen »Falk Einige Fachwörter, hinter denen Gesunde wie Kranke immer etwas Drohendes wittern, schwirrten durch das Zimmer. Dann ging der Arzt.

      Die Frau schrieb Heinrich Reineggs Namen und Alter auf einen gelben Papierbogen. Dann tauchten ihre Augen, die sich hinter einer schlichten Brille zu verbergen suchten, in sein Gesicht.

      »Erzählen Sie«, sagte sie, »warum Sie zu uns geschickt wurden?«

      Es schien Heinrich Reinegg, daß ihre Stimme gut klang und warm und freundlich war und ihre Frage nicht der geschäftsmäßigen Gewohnheitsfrage eines Uhrmachers glich. Aber sie besiegte sein Mißtrauen nicht, das immer wach und auf der Lauer war.

      Er saß verschlossen.

      »Warum?« sagte er, »ich hatte keine andere Wahl.«

      Sie wurde nicht ungeduldig.


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