Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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verschwunden! Nichts anderes verlautete über sie, als was in der Depesche der »Aurora« gestanden hatte. Was war mit Miß Punkerfield geschehen?

      Im Cafe Chesterton, in der Ecke links beim Fenster, saßen die drei Herren, die ganz Boston und Massachusetts kannte: die Herren Washer, Pumper und Klingson.

      Mister Was her war Reporter von der »Little Times«. Er trug einen großen braunen Hut und Röhrenstiefel, die bis zu den Hüften reichten. Was zwischen Hut und Röhrenstiefeln sich befand, war der eigentliche Mister Washer. Und das war sehr wenig. Denn Mister Washer war unansehnlich und gering an Umfang. Sein Kopf war ein kleines ovales Etwas. Sein Gesicht war zerknittert wie ein Papierknäuel. Seine Nase lag eingeklemmt zwischen zwei wulstigen Falten im Antlitz, wie in einem Polster vergraben. Es war eine jener Nasen, auf deren Rücken sich kein Klemmer halten kann. Deshalb trug Mister Washer eine Brille vor den grünen scharfgeschliffenen Äuglein. Die Brille war das einzig Imponierende in diesem Gesicht. Sie war blank und blitzend und stach seltsam ab von der braungelben Gesichtsfarbe. Wenn Mister Washer Brille und Hut abnahm, sah sein Kopf mit den zahllosen verhärteten Runzeln aus wie eine kleine Nuß. Wer einmal den Mister Washer gesehen hatte, dem blieben nur drei Dinge im Gedächtnis haften: der braune Schlapphut, die dunkelnde Brille und die Riesenröhrenstiefel. Alle drei bildeten den Mister Washer. Was der eigentliche Mister Washer war, verschwand vollkommen. Aber eben der eigentliche Mister Washer war interessant. Er war Polizeireporter von Ruf und Rang. Sein Blatt, die »Little Times«, hatte die gen au esten Nachrichten über Abstammung, Lebenslauf und Familienangelegenheiten sämtlicher Personen, die mit der Polizei in irgendwelche Berührung kamen. Wurde irgendwo eine Fabrikarbeiterin aus dem Wasser gezogen, so wußte Mister Washer, daß sie mit dem und jenem Taglöhner von der Baumwollspinnerei ein Verhältnis gehabt hatte. Mister Washer interviewte den Taglöhner, zog Erkundigungen ein über seinen Verdienst, wußte, daß er ein uneheliches Kind war, daß seine Urgroßmutter Negerin gewesen, und baute dann ein kunstvolles Gebilde aus allen seinen Nachrichten. Er hantierte liebevoll mit seinem Wissen und spielte mit den Berichten wie ein Kind mit Bausteinen. Da und dort fehlte an dem fertigen Gebäude noch ein Giebelehen, ein Türmchen, ein Zipfelehen. Mister Washer setzte noch ein winziges Interview drauf, ein zart-behutsames Interview voll graziöser Delikatesse mit dem zweiten Verhältnis des Taglöhners. Mister Was her kam sich vor wie ein Konditor, der auf die fertiggebackene Torte noch eine Rosine, eine Mandelschnitte, ein bißehen Schaum streut. Alles war säuberlich, adrett und unfehlbar und entbehrte doch nicht einer gewissen Pikanterie. Diese Polizeigeschichten hatten Mister Washer berühmt gemacht.

      Mister Pumper war das gerade Gegenteil. Groß, plump und stark. In den letzten Jahren neigte er sogar ein bißehen zur Fettigkeit und Atemnot. Er trug einen Anzug von deutlich grober Eleganz. Seine Hände waren behaart, zwischen den zwei Brillantringen auf seinem rechten Zeigefinger starrten drei naseweise Härchen widerspenstig zwecklos in die Höhe. Über der sanften Wölbung seiner Weste klirrten die Glieder einer goldenen Uhrkette, wenn sich sein Atem hob und senkte. Seine Beine waren etwas kurz und nach innen gekrümmt. Sein Schnurrbärtchen war schwarz und glänzte von Pomade. Manchmal steckte noch ein Stäubchen grüner Brillantine zwischen den Härchen. Der Schädel war kahl wie eine Billardkugel. Über den Rand seines Rockkragens wälzte sich eine schwere Nackenrnasse. So war Mister Pumper.

      Er ziselierte nicht, feilte nicht, ließ sich nicht auf Delikatessen und Sentiments ein wie sein Kollege Mister Washer. Er förderte Raubmorde und Überfälle auf Schnellzüge zutage, spezialisierte sich auf Leichenzerstückelungen und schwelgte in Gräßlichkeiten. Nachtschenken kannte er wie seine Westentaschen. Er war mit Raubmördern per du und trank mit Polizeispitzeln. Er wußte von zukünftigen Raubmorden und verriet nichts, bis der große Tag kam und er mit Genauigkeit den Vorfall schilderte, als wäre er selbst dabeigewesen. Alles staunte über die Berichte des Mister Pumper, und der »Boston Kiker« zahlte ihm eine Gage von 1000 Dollar monatlich.

      Der dritte war Mister Klingson. Groß und dünn wie eine seiner schlechten Zigarren, die er stets im Munde hatte. Sein blondes Haar war glatt gescheitelt, fiel in schweren Wellen über die linke Gesichtshälfte und verhüllte ein Gebrechen: Mister Klingson fehlte nämlich das linke Ohr. Auf einem Ritt, den er im Auftrage seines Blattes, des »Bloody Tomahawk«, weit nach dem Westen hinein unternommen hatte, war es ihm einmal weggeschossen worden. Mister Klingson hatte eine unschätzbare Fähigkeit. Er war schweigsam wie ein Dock. Wenn man ihn fragte, was los sei, antwortete er ganz einfach: Nichts. Und dabei hatte er die neuesten Raubüberfälle in der linken Brusttasche druckbereit und säuberlich ausgeführt. Er war ein Behälter für Sensationen, aus dem nichts durchsickerte. Man goß in ihn die schwersten Nachrichten hinein, und es war nichts sichtbar. Er war wie eine gut verkorkte, ganz undurchsichtige dunkelgrüne Flasche.

      Diese drei Reporter bildeten das »Kartell« von Massachusetts. Sie hatten stets etwas Neues zu berichten. Die »Aurora« war sonst gut informiert. Mit den Raubüberfällen mußte sie immer nachhinken. Der Chefredakteur der »Aurora« war wütend. Die Reporter der »Aurora« rannten durch ganz Massachusetts wie gehetztes Wild. Ihre Zungen hingen bis zum Boden heraus. Sie erfuhren nichts. Im Cafe Chesterton wurden Ereignisse und Neuigkeiten fabriziert und in die Welt geblasen. Im Cafe Chesterton saß das Kartell wie in einer Festung. Wer herankam und einen Angriff versuchte, mußte vor dem schrecklichen, tödlichen »Nichts!« Mister Klingsons weichen. Dem Kartell konnte man nichts anhaben.

      Weiß der Teufel, woher die drei ihre stets frischen Nachrichten hatten. Und wenn sie keine hatten, so hatten sie immer noch welche. Wenn schon just gar kein Raubüberfall zustande gekommen war, so setzte sich das Kartell zusammen und beriet über die Möglichkeit eines Raubüberfalls. Oder Mister Was her rückte mit seinen ungemein zarten, delikaten Interviews heraus und brachte eine Geschichte von der Vergangenheit des großen Lustmörders Tommy. Oder aber Mister Klingson schrieb: »Wie wir erfahren, hat die Untersuchung der Affäre: Brandlegung in der Prärie des Erdquellenbesitzers Tompson nichts Neues zutage gebracht. Unsere Leser erinnern sich noch des ›langen Jimmy‹, der dem Mister Tompson Rache geschworen hatte. Dieser Jimmy soll nun vor zwei Jahren als Heizer nach Australien gefahren und dort das Haupt einer Räuberbande geworden sein. Vor ungefähr vier Monaten – heißt es in seinem Bekanntenkreis – ist er nach Massachusetts gekommen.« Und nun folgte ein zartes, ungemein delikates Interview des Mister Washer mit dem letzten Verhältnis des »langen Jimmy«.

      Eines Tages tauchte plötzlich ein neuer Reporter auf: Mister John Baker aus Chicago. Er war lang und mager wie ein Windhund. Seine Nase hatte sich aus seinem Gesicht gewissermaßen herausgeschoben, gleichsam selbständig gemacht. Sie bewegte sich rechts und links, hinauf, hinunter, ohne daß sich ein Muskel in Mr. Bakers Gesicht sonst gerührt hätte. Diese Nase war ein selbsttätiges unabhängiges Lebewesen von flatterhafter Rührigkeit. Sie befand sich nie im Ruhestand. Sie witterte Ereignisse. Sie zog Sensationen an wie ein Magnet Eisensplitter. Sie roch Menschenfleisch, Skalpierungen, Lustmorde, Raubüberfälle. Es war eine ganz merkwürdige Nase.

      Mr. Baker kam direkt von der Bahn in die Redaktion der »Aurora«.

      »Was können Sie?« fragte ihn der Chef. »Alles«, sagte Mr. Baker.

      Er bekam achthundert Dollar und ward Reporter der »Aurora«.

      Mr. Baker interessierte sich sehr für Suffragetten. Er schloß dicke Freundschaft mit dem portugiesischen Stierkämpfer Pedro dal Costo-Caval. Er besuchte sämtliche Versammlungen und klatschte laut Beifall. Er gewann das Vertrauen der ledernen Miß Esther Smith durch einen Artikel in der »Aurora«, in der er für die Suffragetten eingetreten war.

      Die Nachricht von dem plötzlichen Verschwinden der berühmten Miß Punkerfield hatte Mr. Baker zuerst in der »Aurora« gebracht. Es war fürchterlich.

      Mr. Pumper, Mr. Washer, Mr. Klingson berieten. Heute konnte man nicht der Welt wieder mit dem Präriebrand kommen und mit dem langen Jimmy oder mit Jenkins, dem Zopfabschneider, oder mit Tommy, dem Lustmörder. Was war das alles gegen das Verschwinden der Miß Sylvia Punkerfield? Man mußte schreiben, wie, warum, wieso. Mister Was her ging zu Miß Lawrence, um sie um ein Interview zu bitten, aber die Suffragettenführerin hatte den Kopf verloren. Sie gab keine Auskunft.

      Die Polizei hatte die dressiertesten Spürhunde losgelassen. Mister Washer lief mit einem der Hunde um die Wette nach der verschwundenen Miß Sylvia. Er fand nichts.


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