Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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einen?«

      »Ich verdächtige unseren Kollegen Baker von der ›Aurora‹ der gewaltsamen Entführung der Suffragette. Diesem Mann ist alles zuzutrauen! Nur um eine Sensation zu haben, ist er imstande, einen Mord zu begehen.«

      Mr. Washer nickte fromm und zustimmend. Er war so ermüdet von dem Wettlauf mit dem Polizeihund, daß er kein Wort finden konnte. Mr. Klingson war steif und stumm und sog an seinem kalten Zigarrenstummel gierig, als könnte er eine Wendung in der dunklen Affäre heraussaugen.

      Der Polizeileiter beschloß, den Reporter von der »Aurora« zu vernehmen.

      Als man aber in die »Aurora« kam, hörte man, Mr. Baker sei schon mit dem Frühzuge weg, um Miß Sylvia zu suchen.

      Unterdessen war Mister Baker in seinem Zimmer und las lächelnd und mit Behagen einen Brief. Zum erstenmal in seinem Leben ruhte seine Nase still. Sie bewegte sich nicht. Der war vom II. November datiert und trug die Aufschrift: An Bord der »Atlantis«. Er war von dem portugiesischen Stierkämpfer Pedro dal Costo-Caval und lautete:

      Lieber Freund!

      Nun weiß ich erst, was ich Dir und Deinem Reporterehrgeiz zu verdanken habe. Dein Einfall, mich in Miß Sylvia verliebt zu machen, war vortrefflich. Dein Rat, sie zu entführen, noch trefflicher. Im übrigen war sie mit allem einverstanden. Sie wollte einfach nicht mehr Bomben werfen. Jedes Weib wartet schließlich doch nur auf ihren Stierkämpfer. Alles andere – Politik und Bomben – ist Verlegenheit und Ersatz. Ich entführe sie mit ihrer Einwilligung. Wir werden sehr glücklich sein. Wenn ich einen Sohn habe, wirst Du Pate. Ich telegraphiere Dir.

      Gruß!

      Dein Pedro

      Mister Baker griff nach seinem Notizblock und schrieb ein Telegramm an die »Aurora«, von New York, den 12. November datiert.

      Am nächsten Morgen brachte die Bostoner »Aurora« auf der ersten Seite ihrer acht Seiten starken Nummer in fetten Lettern das folgende Telegramm:

      »New York, den 12. November.

      (Von unserem Sonderberichterstatter)

      Die mysteriöse Angelegenheit der Miß Sylvia Punkerfield ist geklärt. Miß Sylvia ließ sich von dem portugiesischen Stierkämpfer Pedro dal Costo-Caval entführen. Zwischen beiden bestand seit längerer Zeit ein Liebesverhältnis. Das Paar ist auf der Reise nach Portugal begriffen und befindet sich an Bord der ›Atlantis‹.«

      Im Cafe Chesterton gab es große Aufregung. Mister Pump er sank, als er das Telegramm las, vom Schlag getroffen zu Boden. Mister Washer erkrankte plötzlich an hohem Fieber, delirierte Interviews und starb eine Woche später an den Folgen einer Lungenentzündung, die er sich beim Wettlauf mit dem Polizeihund zugezogen hatte. Mister Klingson wurde telephonisch entlassen. Ihr könnt ihn heute noch sehen, er wartet im Cafe Chesterton auf ein Dementi der Entführungsgeschichte, damit er es als erster ins Blatt bringe.

      1923

      Theodor wuchs im Hause seines Vaters heran, des Bahnzollrevisors und gewesenen Wachtmeisters Wilhelm Lohse. Der kleine Theodor war ein blonder, strebsamer und gesitteter Knabe. Er hatte die Bedeutung, die er später erhielt, sehnsüchtig erhofft, aber niemals an sie zu glauben gewagt. Man kann sagen: er übertraf die Erwartungen, die er niemals auf sich gesetzt hatte.

      Der alte Lohse erlebte die Größe seines Sohnes nicht mehr. Dem Bahnzollrevisor war nur vergönnt gewesen, Theodor in der Uniform eines Reserveleutnants zu schauen. Mehr hatte sich der Alte niemals gewünscht. Er starb im vierten Jahre des großen Krieges, und den letzten Augenblick seines Lebens verherrlichte der Gedanke, daß hinter dem Sarge der Leutnant Theodor Lohse schreiten würde.

      Ein Jahr später war Theodor nicht mehr Leutnant, sondern Hörer der Rechte und Hauslehrer beim Juwelier Efrussi. Im Hause des Juweliers bekam er jeden Tag weißen Kaffee mit Haut und eine Schinkensemmel und jeden Monat ein Honorar. Es waren die Grundlagen seiner materiellen Existenz. Denn bei der Technischen Nothilfe, zu deren Mitgliedern er zählte, gab es selten Arbeit, und die seltene war hart und mäßig bezahlt. Vom wirtschaftlichen Verband der Reserveoffiziere bezog Theodor einmal wöchentlich Hülsenfrüchte. Diese teilte er mit Mutter und Schwestern, in deren Hause er lebte, geduldet, nicht wohlgelitten, wenig beachtet und, wenn es dennoch geschah, mit Geringschätzung bedacht. Die Mutter kränkelte, die Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es Theodor nicht verzeihen, daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn wäre immer der Stolz der Familie geblieben. Ein abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war den Frauen lästig. Es lebte Theodor mit den Seinigen wie ein alter Großvater, den man geehrt hätte, wenn er tot gewesen wäre, den man geringschätzt, weil er am Leben bleibt.

      Manches Ungemach hätte ihm erspart bleiben können, wenn zwischen ihm und seinem Hause nicht die wortlose Feindschaft wie eine Wand gestanden wäre. Er hätte den Schwestern sagen können, daß er sein Unglück nicht selbst verschuldete; daß er die Revolution verfluchte; daß er einen Haß gegen Sozialisten und Juden nährte; daß er jeden seiner Tage wie ein schmerzendes Joch über gebeugtem Nacken trug und in seiner Zeit sich eingeschlossen wähnte wie in einem sonnenlosen Kerker. Von außen her winkte keine Erlösung, und Flucht war unmöglich.

      Aber er sagte nichts, immer war er schweigsam gewesen, immer hatte er die unsichtbare Hand vor seinen Lippen gefühlt, immer, als Knabe schon. Nur das auswendig Gelernte, dessen Klang schon fertig und ein dutzendmal lautlos geformt in seinen Ohren, seiner Kehle lag, konnte er sprechen. Er mußte lange lernen, ehe die spröden Worte nachgiebig wurden und sich seinem Gehirn einfügten. Erzählungen lernte er auswendig wie Gedichte, das Bild der gedruckten Sätze stand vor seinem Auge, als sähe er sie im Buch, darüber die Seitenzahl und am Rande die Nase, gekritzelt in müßigen Viertelstunden.

      Jede Stunde hatte ein fremdes Gesicht. Alles überraschte ihn. Jedes Ereignis war schrecklich, nur weil es neu war, und verschwunden, ehe er es sich eingeprägt hatte. Aus Furchtsamkeit lernte er Sorgfalt, wurde fleißig, bereitete sich mit hartnäckiger Ruhelosigkeit vor, und wieder und wieder entdeckte er, daß die Vorbereitung noch zu mangelhaft gewesen. Aber er verzehnfachte seinen Eifer, brachte es bis zum zweiten Platz in der Schule. Primus war der Jude Glaser, der leicht und lächelnd, von Büchern und Sorgen unbeschwert, durch die Pausen strich, der in zwanzig Minuten den fehlerlosen lateinischen Aufsatz ablieferte und in dessen Kopfe Vokabeln, Formeln, Ausnahmen und unregelmäßige Verba zu wachsen schienen, ohne mühevoll gezüchtet zu werden.

      Der kleine Efrussi war Glaser so ähnlich, daß Theodor Mühe hatte, vor dem Sohn des Juweliers Autorität zu bewahren. Theodor mußte eine leise, hartnäckig aufsteigende Zaghaftigkeit unterdrücken, ehe er seinen Schüler zurechtwies. Denn so sicher schrieb der junge Efrussi einen Fehler hin, so selbstbewußt sprach er ihn aus, daß Theodor am Lehrbuch zu zweifeln und seines Schülers Irrtum gelten zu lassen geneigt war. Und immer war es so schon gewesen. Immer hatte Theodor der fremden Macht geglaubt, jeder fremden, die ihm gegenüberstand. In der Armee nur war er glücklich. Was man ihm sagte, mußte er glauben, und die andern mußten es, wenn er selbst sprach. Theodor wäre gern sein Leben lang bei der Armee geblieben.

      Anders war das Leben in Zivil, grausam, voller Tücke in unbekannten Winkeln. Gab man sich Mühe, sie hatte keine Richtung, Kräfte verschwendete man an Ungewisses, es war ein unaufhörliches Aufbauen von Kartenhäusern, die ein geheimnisvoller Windzug umblies. Kein Streben nutzte, kein Fleiß erlebte seine Belohnung. Kein Vorgesetzter war, dessen Launen man erkunden, dessen Wünsche man erraten konnte. Alle waren Vorgesetzte, alle Menschen in den Straßen, die Kollegen im Hörsaal, die Mütter sogar und die Schwestern auch.

      Alle hatten es leicht, am leichtesten die Glasers und Efrussis: der wurde Primus, und der Juwelier, und jener Sohn des reichen Juweliers. Nur in der Armee waren sie nichts geworden, selten Sergeanten. Dort siegte Gerechtigkeit über Schwindel. Denn alles war Schwindel, Glasers Wissen unredlich erworben wie das Geld des Juweliers. Es ging nicht mit rechten Dingen zu, wenn der Soldat Grünbaum einen Urlaub erhielt


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