Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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gefügig; warum sollte er nicht die Zunge in die Welt strecken? Sie wich aber nach rechts.

      Ein Priester kam, war freundlich und fürsorglich und sagte: »Die Kirche trifft keine Schuld.«

      Und Stunden kamen, wo nichts war als Nebel und das dumpfe Verwundern in Heinrich Reinegg über die Zähigkeit seines flackernden Lebens.

      Menschen kamen und beteten. Bauern ließen Messen lesen. Frauen wehklagten, die alt waren und arm. Männer gingen Stunden und Stunden über Straßen und Steige um eines Grußes willen. Und es gab andere, wenige, die Freude äußerten über die nahende »Katastrophe«.

      Heinrich Reinegg aber straffte den zagenden Leib und erhob sich von der nassen Erde. Stand wieder im Nebel des Tales. Und versuchte, tastend und schwankend und langsam, zu gehen.

      Die Frau am Schreibtisch sprach und verscheuchte die Bilder. »Bitte gehen Sie jetzt ins Nebenzimmer, und ziehen Sie sich aus bis auf die Unterwäsche! Dann kommen Sie wieder!«

      Es war ihm nicht klar, ob das nun natürlich war oder nicht. Aber der weiße Mantel entschied in diesem Raum. Er ging und kam in Unterhose und Hemd zurück. Legte sich auf das Ruhebett, das nicht der Ruhe diente. Die Frau stach mit einer feinen Nadel in den Kopf, links und rechts, wie wenn sie das Schicksal darstellen wollte, und fragte nach dem Unterschied der Empfindung. Sie ließ ihn die Augen schließen und die Hände ausstrecken. Sie bat ihn, ihre Hand zu drücken. Er fragte spöttisch, wieviel Hände sie täglich drücken müsse. Auf ihr Geheiß ging er im Zimmer auf und ab. In Unterhose und Hemd. Den rechten Fuß schleppte er ein bißchen nach. Das ist lieblich, dachte Heinrich Reinegg, ein Mann in Unterhose spaziert vor einer Frau. Aber sie trug ja einen weißen Mantel, der die Frau verbarg. Für sie war der Mann in Unterhose offenbar weder eine liebliche noch eine unliebliche Erscheinung, sondern er gehörte in den Raum wie die ihres Gehäuses entkleidete Uhr in die Uhrmacherwerkstätte. Aber nein. Es gab doch Unterschiede. Zum Beispiel den: Der Uhrmacher entkleidet die Uhr in der Werkstätte, der Mann ging ins Nebenzimmer aus- und anziehen. Heinrich Reineggs Gesicht war versunken und finster wie immer, aber in ihm war der leichte Spott, mit dem er sich selbst oft bedachte, den er hegte in bösen und scheinbar freundlichen Stunden wie einen Schutz; vielleicht war es nur ein Trug an sich selbst.

      Als der Mann wieder in ordentlichen Mannskleidern stak, fragte die Frau: »Wie steht es mit der Lunge?«

      Er zeigte einen Zettel, auf dem ein ärztlicher Bericht verzeichnet war. Der junge Arzt mit der großen Glatze kam in diesem Augenblick, besah den Zettel und meinte kühl: »Wir sind ja keine Lungenheilstätte, das ist wohl ein Irrtum.«

      »Nein, nein«, sagte die Ärztin, »es ist kein Irrtum, er gehört schon zu uns.«

      Es ist schön, dachte Heinrich Reinegg, nun bin ich wohl endlich dort, wohin ich gehöre.

      undatiert

      Immer seltener werden in dieser Welt der selbstverständlichen Tatsachen und der errechenbaren Konsequenzen die merkwürdigen Schicksale, denen man, wenn man den überlieferten Erzählungen glauben will, vor Jahr und Tag auf Schritt und Tritt hat begegnen können. Immerhin offenbaren sich auch heutzutage dem sorgfältigen Sucher besonderer Menschen und Fügungen von Zeit zu Zeit gewisse Ereignisse, die nicht von einer blinden Willkür geformt zu sein scheinen, sondern von irgendeiner literarischen Gewalt, die das Schicksal der Welt manchmal zu lenken scheint.

      Unter den Menschen, die in meiner unmittelbaren Nähe gelebt haben, hatte wohl keiner ein so merkwürdiges, so heiter-tragisches, so gewollt- ungewolltes Schicksal gehabt wie der Mann, von dem ich in den folgenden Blättern zu erzählen gedenke und dessen Familiennamen ich sorgfältig verschweigen will, nicht nur weil sein Träger noch heute zu meinen Bekannten gehört, sondern auch weil ich überzeugt bin, daß ihm noch ein besonderes, ein unerwartetes, ein seltsames Geschick bevorsteht, dessen Gang ich durch die grobe Nennung einer groben Realität zu stören fürchte.

      Am 3. November des Jahres 1918 faßte Heinrich P. den Entschluß, sein tägliches Brot mit der Schriftstellerei zu verdienen.

      Es war einer jener ersten Tage der Revolution, in denen man zu wissen glaubte, daß der einzelne zwar auf den großartigen Lauf der öffentlichen Dinge keineswegs einen Einfluß zu nehmen imstande sei, wohl aber in irgendeiner Weise zu ihnen in eine bestimmte Stellung zu treten habe. Heinrich P. war wie die vielen Millionen in den Krieg gegangen und wie nur wenige heil und gesund aus dem Krieg zurückgekommen. Aus einem Offizier der österreichischen Armee war er durch den Zusammenbruch der Monarchie plötzlich ein ziviler Staatsbürger des neuen tschechischen Staates geworden.

      Am 1. November 1918 war er in seine Heimatstadt Brünn zurückgekehrt. Alles, was er da sah, die Revolution in der kleinen Hauptstadt des ehemaligen Kronlandes, den Umher zug der Militärkapelle, die in den alten kaiserlichen Uniformen jetzt ein neues nationales Revolutionslied spielte, die tschechischen Mannschaften, die von den Mützen der Offiziere die alten Kokarden herunterrissen, die törichte Freude der befreiten Nation, schien Heinrich P. einer akuten literarischen Formulierung zu bedürfen und eines literarischen Formers. Passiv, wie er von Natur war, erlebte Heinrich P. diese Revolution bereits aus einer Art historischen Perspektive. Er bildete sich ein, »Studien zu machen«, und die rasche Buntheit der Ereignisse ließ ihm keine Zeit, sich über sein privates Schicksal und seine nächste Zukunft Sorgen hinzugeben. Nur weil es die anderen in die Stadt heimgekehrten Offiziere ebenfalls taten, ging er eines Morgens zur Kommandantur, in der man schon Tschechisch sprach, jene zweite Landessprache, die ihnen beinahe so geläufig war wie ihre deutsche Muttersprache. Man sagte ihm, daß die neue Regierung es ihm freiließe, in die neue Armee einzutreten, in der man Offiziere brauchte. Er erklärte, es sich noch überlegen zu wollen, bekam sein letztes Monatsgehalt ausbezahlt und verlangte eine Marschroute nach Prag. Dann ging er auf den Bahnhof, bestieg den Zug, suchte in mechanischer Gewohnheit nach einem Platz in der zweiten Klasse, mußte feststellen, daß der Zug aus lauter Wagen dritter Klasse bestand und nahm schließlich auf einer der vielen gelben und harten Bänke Platz, die von sogenannten Mannschaftspersonen zum größten Teil besetzt waren.

      Unterwegs erlebte er noch eine jener fliegenden und plötzlichen Untersuchungskommissionen, die im ersten revolutionären Eifer nach Gleichgültigem, ja sogar Überflüssigem, Beschäftigung suchend, die gleichgültigen Züge zu kontrollieren pflegten, in denen nichts zu kontrollieren war. Und als hätte es erst der tschechischen Sokol-Uniform und der Untersuchungskommission bedurft, Heinrich P. in die neue Wirklichkeit zurückzurufen, und als hätte ihn erst eine ganz deutliche unzweideutige Änderung einer Äußerlichkeit auf die Veränderung seiner privaten Situation aufmerksam gemacht, begann Heinrich P. erst jetzt, an seine nächste Zukunft zu denken und sich mit den materiellen Sorgen zu beschäftigen, die zweifellos bald seine Existenz zu bedrohen anfangen sollten.

      Noch hatte er Geld. Ein paar tausend Mark hatte er von dem Offiziersgehalt sparen können, nun begann er, sich Vorwürfe zu machen, daß er das Angebot, in die neue Armee einzutreten, nicht angenommen hatte. Was konnte ein Mensch von seiner Passivität in dieser offenbar sehr aktiven Zeit beginnen? Er trieb sich, das fühlte er, an der Peripherie, nicht im Zentrum der Ereignisse herum, und er war ebensoweit davon entfernt, sie zu bestimmen, wie von ihnen bestimmt zu werden. Vorausgesetzt, daß er das Talent besaß, sie zu beschreiben, wollte er versuchen, sich mit ihnen von jener Perspektive aus auseinanderzusetzen, die allein dem Schriftsteller angemessen ist, aber – – – – wußte er, daß er die Fähigkeit besaß zu schreiben? Der Rektor seines Gymnasiums fiel ihm ein, der für das Stadtblatt Theaterkritiken zu schreiben pflegte. Lebte der alte Ritter von Hauer noch? Heinrich P. kam auf dem Bahnhof in Prag an, wurde von einem Soldatenrat empfangen, ließ seine Papiere prüfen und erlebte die ehrliche Freude, in dem Kommandanten des Soldatenrates den alten Pedell seines Gymnasiums zu erkennen. Er fuhr in die Wohnung seiner Tante.

      Sie gehörte zu jener Art von Verwandten, die das Wiedersehen mit männlichen Mitgliedern der Familie ebenso zu einer freudigen Begeisterung anregt wie zu Wehklagen über die miserablen Zeiten. Heinrich P. schenkte ihr das Geld, was sie im Augenblick zu brauchen vorgab, und ging in die Stadt. Er begab sich zum alten Rektor Hauer, feierte mit diesem ein ebenso sentimentales wie durch die Fülle und die Plötzlichkeit der politischen


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