Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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zu versorgen. Ist er hierhergekommen, um in seiner Heimat ein Kino zu finanzieren? Er gibt nicht einmal dem Neuner Geld, und die Arbeiter streiken schon die fünfte Woche!«

      »Weshalb gibt er kein Geld?« sagt Zwonimir.

      »Frag ihn doch.«

      »Ich werde ihn nicht fragen. Es geht mich nichts an. Es ist eine Gemeinheit.«

      Mir schien, daß Neuner sich nur mit Bloomfield herausredete und daß ihm nichts mehr an den Fabriken lag. Es war eine schlechte Zeit, das Geld hatte seinen Wert verloren. Abel Glanz sagte, Neuner spekuliere lieber an der Züricher Börse, er handele mit Valuta. Er bekam jeden Tag Telegramme – sie kamen aus Wien, Berlin, London. Man kabelte ihm Kurse, er kabelte Aufträge, was ging ihn die Fabrik an.

      Es war vergeblich, Zwonimir diese verwickelten Dinge zu erklären, er wollte sie nicht verstehen, weil er fühlte, daß es ihn Mühe kosten würde, und weil er eigentlich ein Bauer war, der täglich in die Baracken ging, nicht nur wegen der Heimkehrer, sondern weil die Baracken in der Nähe der Felder standen und Zwonimirs Seele sich sehnte nach den Garben und Sensen und Vogelscheuchen der heimatlichen Äcker.

      Jeden Tag bringt er mir Nachrichten vom Weizen, und in seiner Tasche birgt er blaue Kornblumen. Er flucht, weil die Bauern hierzulande keine Ahnung haben von der richtigen Behandlung der Erde – sie lieben es, ihre Kühe laufen zu lassen, wie es den Tieren gefällt. Sie laufen auch in die Ähren, und man kann sie nur mit viel Mühe herauslocken.

      Und die Vogelscheuchen und die Prellsteine kann er nicht vergessen.

      Er kommt am Abend heim, Zwonimir Pansin, der Bauer, und bringt eine große Sehnsucht mit und ein gehütetes Heimweh. Er weckt in mir die Sehnsucht, und obwohl er sich nach Feldern sehnt und ich nach Straßen, steckt er mich an. Es ist so wie mit den Liedern der Heimat: Wenn einer sein Volkslied anstimmt, singt der andere sein eigenes, und die verschiedenen Melodien werden ähnlich, und alle sind nur wie verschiedene Instrumente einer Kapelle.

      Des Menschen Heimweh erwacht draußen, es wächst und wächst, wenn keine Mauern es beengen.

      Ich gehe Sonntag vormittag hinaus zwischen die Felder, mannshoch steht das Getreide, und der Wind hängt in den weißen Wolken. Ich gehe langsam dem Friedhof entgegen, ich will das Grab Santschins finden. Ich finde es nach langem Suchen. So viele Menschen waren in dieser kurzen Zeit gestorben und lauter Arme, denn sie lagen in der Nähe des Santschinschen Grabes. Es geht den Armen schlecht in dieser Zeit, und der Tod überliefert sie den Regenwürmern.

      Ich fand Santschins Grab und dachte, daß es galt, von seinem letzten irdischen Zeichen Abschied zu nehmen. Er war zu früh gestorben, der gute Clown, er hätte noch den Henry Bloomfield erleben sollen, vielleicht hätte er sogar noch eine Reise nach dem Süden gewonnen.

      Ich steige über den niedrigen Zaun, der den jüdischen Friedhof abschließt, und bemerke eine Aufregung unter den armen Juden, den Bettlern, die von der Gnade reicher Erben leben. Sie stehen nicht mehr einzeln wie einsame Trauerweiden am Anfang einer Allee, sondern in einer Gruppe und reden viel und laut. Ich höre den Namen Bloomfield und horche ein bißchen und erfahre, daß sie auf Bloomfield warten.

      Das schien mir sehr wichtig. Ich frage die Bettler, und sie erzählen mir, daß heute der Todestag des alten Blumenfeld ist und daß Henry, sein Sohn, deshalb hierherkommt.

      Die Bettler wissen die Todesdaten aller reichen Leute, und sie allein wissen auch, weshalb Henry Bloomfield da ist. Die Bettler wissen es, nicht die Fabrikanten.

      Henry Bloomfield kam seinen toten Vater Jechiel Blumenfeld besuchen. Er kam, um ihm zu danken für die Milliarden, für die Begabung, für das Leben, für alles, was er geerbt hatte. Henry Bloomfield kam nicht, um ein Kino zu gründen oder eine Fabrik für Juxgegenstände. Alle Menschen glauben, er käme des Geldes oder der Fabriken wegen. Nur die Bettler wissen den Zweck der Bloomfieldschen Reise.

      Es war eine Heimkehr.

      Ich wartete auf Henry Bloomfield. Er kam allein, er war zu Fuß auf den Friedhof gekommen, die Majestät Bloomfield. Ich sah ihn vor dem Grabe des alten Blumenfeld stehn und weinen. Er zog seine Brille ab, und die Tränen liefen ihm über die dünnen Wangen, und er wischte sie mit den kleinen Kinderhänden weg. Dann zog er ein Bündel Banknoten, die Bettler fielen über ihn her wie ein Fliegenschwarm, er verschwand in der Mitte der vielen schwarzen Gestalten, denen er Geld gab, um seine Seele loszukaufen von der Sünde des Geldes.

      Ich wollte nicht unbemerkt gelauert haben, ich ging auf Bloomfield zu und grüßte ihn. Er wunderte sich gar nicht, daß ich hier war – worüber wundert sich denn Henry Bloomfield überhaupt? Er gab mir die Hand und bat mich, ihn in die Stadt zu begleiten.

      »Ich komme jedes Jahr hierher«, sagt Bloomfield, »meinen Vater besuchen. Und auch die Stadt kann ich nicht vergessen. Ich bin ein Ostjude, und wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben. Wenn mein Vater in Amerika gestorben wäre, ich könnte ganz in Amerika zu Hause sein. Mein Sohn wird ein ganzer Amerikaner sein, denn ich werde dort begraben werden.«

      »Ich verstehe, Mister Bloomfield.« – Ich bin gerührt und spreche wie zu einem alten Freund:

      »Das Leben hängt so sichtbar mit dem Tod zusammen und der Lebendige mit seinen Toten. Es ist kein Ende da, kein Abbruch – immer Fortsetzung und Anknüpfung.«

      »In diesem Lande leben die besten Schnorrer«, sagt Bloomfield wieder lustig, denn er ist ein Mann des Tages und der Wirklichkeit, und er vergißt sich nur einmal im Jahre.

      Ich begleite ihn in die Stadt, die Leute grüßen uns, und ich erlebe noch eine Freude: Mein Onkel Phöbus Böhlaug kommt vorbei und grüßt zuerst und sehr tief, und ich lächle ihm herablassend zu, als wäre ich sein Onkel.

      Ich verstand Henry Bloomfield.

      Er hatte Heimweh, wie ich und Zwonimir.

      Die Leute kamen immer noch aus Berlin und aus anderen Städten. Es waren laute Menschen, sie schrien und logen schreiend, um das Gewissen zu übertönen. Sie waren Aufschneider und Prahlhänse, und alle kamen vom Film her und wußten viel zu erzählen von der Welt, aber sie sahen die Welt mit ihren Glotzaugen, hielten die Welt für eine geschäftliche Niederlage Gottes, und sie wollten ihm Konkurrenz machen und ebenso große Geschäfte eröffnen.

      Sie wohnten in den drei unteren Stockwerken und ließen sich von Zlotogor ihre Kopfschmerzen kurieren.

      Viele kamen mit ihren Frauen und Freundinnen, und dabei hatte Zlotogor erst recht zu tun.

      Es änderte sich viel im Hotel Savoy.

      Man gab Frauen-und Herrenabende und Tanzkränzchen, die Gesellschaft der Herren flüchtete um Mitternacht in die Bar und zwickte die nackten Mädchen und Frau Jetti Kupfer.

      Oben stieg Alexanderl herum, in Frack und Lack, und Xaver Zlotogor mit einem hochgeschlossenen Rock und tat geheimnisvoll und trug ein schelmisches Jungengesicht.

      Bloomfield kam und Bondy. Bondy sprach, die Frauen aber sahen nur Henry Bloomfield an, und weil er nichts sprach, schien es, als lauschten sie seinem Schweigen. Als hätten sie die Fähigkeit zu hören, was er dachte und verbarg.

      Zu mir kamen auch die Leute aus den oberen Stockwerken, und es nahm kein Ende. Ich sah, daß keiner von ihnen freiwillig im Hotel Savoy wohnte. Jeden hielt ein Unglück fest. Jedem war Hotel Savoy das Unglück, er wußte nicht mehr gerecht zu scheiden zwischen dem und jenem.

      Alles Mißgeschick stieß ihnen in diesem Hotel zu, und sie glaubten, Savoy heiße ihr Unglück.

      Es nahm kein Ende. Auch die Witwe Santschin kam. Sie lebte jetzt bei ihrem Schwager auf dem Lande und mußte schwere Arbeit im Hause tun. Sie hatte von Bloomfields Ankunft gehört und daß er allen Menschen half.

      Ich weiß nicht, ob die Witwe Santschin etwas erreicht hat.

      Ich weiß nicht, wie vielen Bloomfield geholfen hat.

      Der Polizeioffizier tauchte


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