Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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Typhus ist ausgebrochen«, erzählt der Militärarzt am Nachmittag im Fünf-Uhr-Saal.

      »Wie schützt man sich vor Typhus?« fragt die jüngere Tochter Kanners.

      »Der Tod wird uns alle holen!« erklärt der Militärarzt, und Fräulein Kanner wird blaß.

      Vorläufig aber holt der Tod nur ein paar Arbeiterfrauen. Die Kinder erkranken und kommen ins Spital.

      Man schließt die Armenküche, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern. Also bekamen die Hungrigen keine Suppe mehr.

      Die Heimkehrer konnte man nicht mehr in den Baracken internieren.

      Es waren zu viele Heimkehrer.

      Es waren ganze Völkerscharen.

      Der Polizeioffizier erzählt, daß man um Verstärkung nachgesucht habe. Der Polizeioffizier war nicht aufgeregt. Er trägt eine Dienstpistole, und er steht nicht um zehn Uhr auf, sondern um neun. Er wedelt mit den Wildlederhandschuhen, als herrschte kein Typhus.

      Die Krankheit ergriff ein paar arme Juden. Ich sah, wie man sie bestattete. Die jüdischen Frauen erhoben ein gewaltiges Wehklagen, die Schreie standen in der Luft.

      Zehn, zwölf Menschen starben jeden Tag.

      Der Regen fällt schräg und hüllt die Stadt ein, und durch den Regen fluten die Heimkehrer.

      In den Zeitungen flammen die schrecklichen Nachrichten auf, und jeden Tag ziehen die Arbeiter Neuners vor das Hotel und schreien.

      Eines Morgens fehlen Bloomfield, Bondy, der Chauffeur und Christoph Kolumbus.

      In Bloomfields Zimmer lag ein Brief für mich, Ignatz brachte ihn.

      Bloomfield schreibt:

      »Geehrter Herr, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und erlaube mir, Ihnen ein Honorar zu übergeben. Meine plötzliche Abreise wird Ihnen verständlich sein. Wenn Ihr Weg Sie nach Amerika führen sollte, so werden Sie hoffentlich nicht verfehlen, mich zu besuchen.«

      ***

      Ich fand ein Honorar in einem besonderen Umschlag. Es war ein königliches Honorar.

      In aller Stille ist Henry Bloomfield geflüchtet. Mit abgeblendeten Scheinwerfern, auf lautlosen Rädern, ohne Hupenschrei, im Dunkel der Nacht floh Bloomfield vor dem Typhus, vor der Revolution. Er hat seinen toten Vater besucht, er wird nie mehr in seine Heimat kommen. Er wird seine Sehnsucht unterdrücken, Henry Bloomfield. Nicht alle Hindernisse kann das Geld aus dem Weg räumen.

      Am Abend kamen die Gäste in der Bar zusammen, sie tranken und sprachen von der plötzlichen Abreise Bloomfields.

      Ignatz brachte ein Extrablatt aus der Nachbarstadt. Dort kämpften die Arbeiter gegen Militär aus der Hauptstadt.

      Der Polizeioffizier erzählt, man hätte schon dringend um Militär telephoniert.

      Alexanderl Böhlaug wollte in den nächsten Tagen nach Paris reisen. Frau Jetti Kupfer läutete gerade. Die nackten Mädchen sollten auftreten.

      Da geschah ein Knall.

      Ein paar Flaschen kollerten vom Büffet herunter.

      Man hörte das Klirren zersplitterter Fensterscheiben.

      Der Polizeioffizier rannte hinaus. Frau Jetti Kupfer riegelte die Tür ab.

      »Machen Sie auf!« schreit Kanner.

      »Glauben Sie, wir wollen bei Ihnen krepieren?« ruft Neuner, und die Schmisse brennen auf seiner Backe, als wären sie mit Karmin aufgemalt.

      Neuner stößt Frau Jetti Kupfer fort und öffnet die Tür.

      Der Portier liegt blutend auf seinem Fauteuil.

      Ein paar Arbeiter stehen im Flur. Einer hat eine Handgranate geworfen.

      Draußen drängt sich eine große Menge in der schmalen Gasse und schreit.

      Hirsch Fisch kam in Unterhosen herunter.

      »Wo ist Neuner?« fragt der Arbeiter, der die Handgranate geworfen hat.

      »Neuner ist zu Hause!« sagt Ignatz.

      Er wußte nicht, ob er zum Militärarzt laufen sollte oder zurück in die Bar, um Neuner zu warnen.

      »Neuner ist zu Hause!« sagt der Arbeiter zu den Leuten draußen.

      »Zu Neuner! Zu Neuner!« schreit eine Frau.

      Die Gasse wird leer.

      Der Portier ist tot. Der Militärarzt sagt nichts. Ich habe ihn nie so bleich gesehn.

      Die ganze Bargesellschaft flüchtet. Neuner läßt sich vom Polizeioffizier begleiten.

      Der Morgen bricht mit einem schrägen Regen an wie alle Morgen vorher. Vor dem Hotel Savoy steht ein Polizeikordon. Polizei sperrt die schmale Gasse von beiden Seiten ab.

      Die Menge steht auf dem Marktplatz und wirft Steine in die leere Gasse. Die Steine füllen die Straßenmitte. Man hätte sie neu pflastern können.

      Der Polizeioffizier steht mit seinen wildledernen Handschuhen im Eingang. Er hält Zwonimir und mich zurück, als wir hinausgehen wollen.

      Zwonimir schiebt ihn zur Seite. Wir schleichen hart an den Mauern, um von den Steinen nicht getroffen zu werden. Wir passieren den Polizeikordon, drängen uns durch die Menge.

      Zwonimir hat viele Freunde. Sie rufen:

      »Zwonimir!«

      »Freunde«, ein Mann redet auf einem Brunnen, »man erwartet Militär. Heute abend werden sie dasein.«

      Wir gehen durch die Stadt, sie ist still, die Läden sind geschlossen. Ein jüdischer Leichenzug begegnet uns, die Leichenträger rennen mit dem Toten auf den Schultern, und die Frauen hasten schreiend nach.

      Wir wissen, daß wir das Hotel Savoy nicht mehr wiedersehn. Zwonimir lächelt schlau: »Unser Zimmer ist nicht bezahlt!«

      Wir kommen an jenem Tabakladen vorbei, an dem die Treffer der kleinen Lotterie ausgestellt werden. Ich erinnere mich an das Los.

      »Gestern war Ziehung«, sagt Zwonimir.

      Der Laden ist ängstlich und dicht verschlossen, aber die Ziehungen sind neben der grünen Ladentür an der Wand befestigt. Ich sah meine Nummern nicht, vielleicht hat man sie gestern mit Kreide aufgeschrieben – und der Regen hat sie ausgelöscht.

      Abel Glanz treffen wir im Judenviertel. Er hat gar nicht im Hotel geschlafen. Er erzählt Neuigkeiten:

      »Neuners Villa ist zertrümmert, Neuner und seine Familie sind im Auto fortgefahren.«

      »Umbringen!« schreit Zwonimir.

      Wir kommen zum Hotel zurück, die Menge weicht nicht.

      »Vorwärts!« schreit Zwonimir.

      Ein paar Heimkehrer wiederholen den Ruf.

      Ein Mann drängt sich durch die Menge, bleibt vorn. Plötzlich sehe ich, wie er die Hand ausstreckt, es knallt, der Polizeikordon wankt, die Menge wälzt sich in die Gasse.

      Der Polizeioffizier schreit einen schrillen Kommandoruf. Ein paar armselige Schüsse knattern, ein paar Menschen fallen, einige Frauen kreischen.

      »Hurra!« schreien die Heimkehrer.

      »Platz frei!« ruft Taddeus Montag, der Zeichner. Er ist lang und dünn und überragt alle um einen halben Kopf. Er schreit zum erstenmal in seinem Leben.

      Man läßt ihn hinaus, und ihm folgen andere. Viele Bewohner des Hotels drängen durch die Menge dem Marktplatz zu.

      Der Hoteldirektor steht auf


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