Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke. Йозеф Рот

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des siebenten Stockwerks empor: »Herr Kaleguropulos!«

      Ich höre ihn rufen und breche eine Bahn zu ihm. Es geschieht so vieles hier. Mich aber geht Kaleguropulos an.

      »Wo ist Kaleguropulos?«

      »Er will nicht fort!« schreit der Direktor, »er will ja nicht!«

      In diesem Augenblick geht oben die Dachluke auf und Ignatz erscheint, der alte Liftknabe. Hat ihn heute sein Fahrstuhl so hoch hinaufgeführt?

      »Das Hotel brennt!« schreit Ignatz.

      »Kommen Sie doch herunter!« ruft der Direktor.

      Da bricht eine helle Stichflamme aus der Dachluke, Ignatz’ Kopf verschwindet.

      »Wir müssen ihn retten«, sagt der Direktor.

      Eine gelbe Flammengarbe bricht aus wie ein Tier.

      Im sechsten Stockwerk brennt es auf, man sieht weiße Lichtbündel hinter den Fenstern.

      Im fünften brennt es, im vierten. Es brennt in allen Stockwerken, während die Menge das Hotel stürmt.

      Ich erblicke Zwonimir im Getümmel und rufe ihn.

      Die Glocken der Stadttürme und Kirchen fallen schwer in den großen Lärm.

      Trommelwirbel erdröhnt, harter Schritt genagelter Stiefel, ein Kommandoschrei zuckt auf.

      Früher, als ich gedacht hätte, kommen die Soldaten. Sie schreiten genauso, wie wir auch einmal marschiert sind, in breiten, raumfressenden Doppelreihen, mit einem Offizier an der Spitze und einem Trommler zur Seite. Sie tragen die Gewehre mit den aufgepflanzten Bajonetten in der Hand, sie gehen durch den Regen, der Kot spritzt auf, und die ganze geschlossene Soldatenmasse stampft wie eine Maschine.

      Ein Kommandoruf löst die festgefügte Masse, Doppelreihen lockern sich, die Soldaten stehen da wie ein schütterer Wald in großen Abständen auf dem Ringplatz.

      Sie umringen den ganzen Häuserblock, die Menge ist im Hotel und in der engen Straße eingeschlossen.

      Zwonimir sah ich nicht mehr.

      Ich wartete die ganze Nacht auf Zwonimir.

      Es gab viele Tote. Vielleicht war Zwonimir unter ihnen? Ich habe seinem alten Vater geschrieben, daß Zwonimir in der Gefangenschaft gestorben ist. Wozu sollte ich dem Alten mitteilen, daß der Tod seinen starken Sohn unterwegs getroffen hat?

      Viele Heimkehrer hat der Tod im Hotel Savoy erreicht. Er hatte ihnen sechs Jahre lang nachgestellt, im Krieg und in der Gefangenschaft – wem der Tod nachstellt, den trifft er auch.

      In den grauenden Morgen ragen halbverkohlte Reste des Hotels. Die Nacht war kühl und windig und hat das Feuer geschürt. Der Morgen bringt grauen, schrägen Regen, er löscht verborgene Gluten.

      Mit Abel Glanz gehe ich zur Bahn. Der nächste Zug soll am Abend abgelassen werden. Wir sitzen im leeren Wartesaal.

      »Wissen Sie, daß Ignatz eigentlich Kaleguropulos war? – und Hirsch Fisch ist auch im Hotel verbrannt.«

      »Schade«, sagt Abel Glanz, »es war ein gutes Hotel.«

      Wir fahren in einem langsamen Zug mit südslawischen Heimkehrern. Die Heimkehrer singen. Abel Glanz beginnt:

      »Wenn ich zu meinem Onkel nach New York komme –«

      Amerika, denke ich, hätte Zwonimir gesagt, nur: Amerika.

      1924

      Die Baracken des Kriegsspitals Numero XXIV lagen am Rande der Stadt. Von der Endstation der Straßenbahn bis zum Krankenhaus hätte ein Gesunder eine halbe Stunde rüstig wandern müssen. Die Straßenbahn führte in die Welt, in die große Stadt, in das Leben. Aber die Insassen des Kriegsspitals Numero XXIV konnten die Endstation der Straßenbahn nicht erreichen.

      Sie waren blind oder lahm. Sie hinkten. Sie hatten ein zerschossenes Rückgrat. Sie erwarteten eine Amputation oder waren bereits amputiert. Weit hinter ihnen lag der Krieg. Vergessen hatten sie die Abrichtung; den Feldwebel; den Herrn Hauptmann; die Marschkompanie; den Feldprediger; Kaisers Geburtstag; die Menage; den Schützengraben; den Sturm. Ihr Frieden mit dem Feind war besiegelt. Sie rüsteten schon zu einem neuen Krieg; gegen die Schmerzen; gegen die Prothesen; gegen die lahmen Gliedmaßen; gegen die krummen Rücken; gegen die Nächte ohne Schlaf; und gegen die Gesunden.

      Nur Andreas Pum war mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen. Viele besaßen keine Auszeichnung, obwohl sie mehr als nur ein Bein verloren hatten. Sie waren arm-und beinlos. Oder sie mußten immer im Bett liegen, weil ihr Rückenmark kaputt war. Andreas Pum freute sich, wenn er die anderen leiden sah.

      Er glaubte an einen gerechten Gott. Dieser verteilte Rückenmarkschüsse, Amputationen, aber auch Auszeichnungen nach Verdienst. Bedachte man es recht, so war der Verlust eines Beines nicht sehr schlimm und das Glück, eine Auszeichnung erhalten zu haben, ein großes. Ein Invalider durfte auf die Achtung der Welt rechnen. Ein ausgezeichneter Invalider auf die der Regierung.

      Die Regierung ist etwas, das über den Menschen liegt, wie der Himmel über der Erde. Was von ihr kommt, kann gut oder böse sein, aber immer ist es groß und übermächtig, unerforscht und unerforschbar, wenn auch manchmal für gewöhnliche Menschen verständlich.

      Es gibt Kameraden, die auf die Regierung schimpfen. Ihrer Meinung nach geschieht ihnen immer Unrecht. Als ob der Krieg nicht eine Notwendigkeit wäre! Als ob seine Folgen nicht selbstverständlich Schmerzen, Amputationen, Hunger und Not sein müßten! Was wollten sie? Sie hatten keinen Gott, keinen Kaiser, kein Vaterland. Sie waren wohl Heiden. »Heiden« ist der beste Ausdruck für Leute, die sich gegen alles wehren, was von der Regierung kommt.

      Es war ein warmer Sonntag im April, Andreas Pum saß auf einer der rohgezimmerten weißen Holzbänke, die mitten im Rasen vor den Baracken des Spitals aufgestellt waren. Fast auf jeder Bank saßen zwei und drei Rekonvaleszente zusammen und sprachen. Nur Andreas saß allein und freute sich über die Bezeichnung, die er für seine Kameraden gefunden hatte.

      Sie waren Heiden, wie zum Beispiel Leute, die wegen falscher Eide und wegen Diebstahls, Totschlags, Mordes oder gar Raubmordes im Zuchthaus saßen. Warum stahlen die Leute, töteten, raubten, desertierten sie? Weil sie Heiden waren.

      Wenn jemand in diesem Augenblick Andreas gefragt hätte, was die Heiden sind, so hätte er geantwortet: zum Beispiel Menschen, die im Gefängnis sitzen, oder auch jene, die man zufällig noch nicht erwischt hat. Andreas Pum war sehr froh, daß ihm die »Heiden« eingefallen waren. Das Wort genügte ihm, es befriedigte seine kreisenden Fragen und gab Antwort auf viele Rätsel. Es enthob ihn der Verpflichtung, weiter nachdenken und sich mit der Erforschung der anderen abquälen zu müssen. Andreas freute sich über das Wort. Zugleich verlieh es ihm das Gefühl der Überlegenheit über die Kameraden, die auf den Bänken saßen und schwatzten. Sie hatten zum Teil schwerere Wunden und keine Auszeichnungen. Geschah ihnen nicht recht? Weshalb schimpften sie? Warum waren sie unzufrieden? Fürchteten sie um ihre Zukunft? Wenn sie weiter in ihrem Trotz verharrten, dann hatten sie wohl recht, um ihre Zukunft bang zu sein. Sie schaufelten sich ja selbst ihre Gräber! Wie sollte sich die Regierung ihrer Feinde annehmen? Ihn, Andreas Pum dagegen, wird sie schon versorgen.

      Und während die Sonne schnell und sicher am wolkenlosen Himmel ihrem Höhepunkt zustrebte und immer glühender und fast schon sommerlich wurde, dachte Andreas Pum an die nächsten Jahre seines Lebens. Die Regierung hat ihm einen kleinen Briefmarkenverschleiß übergeben oder eine Wächterstelle in einem schattigen Park, oder in einem kühlen Museum. Da sitzt er nun mit seinem Kreuz auf der Brust, Soldaten grüßen ihn, ein etwa vorbeigehender General klopft ihm


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