Herkules. Auguste Lechner
starrte sie Athene an. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu! Er hat mir wehgetan! Er ist viel zu stark für sein Alter! Vielleicht ist er ein kleiner Dämon!«
Athene begann plötzlich zu lachen.
»Warum lachst du denn?«, fragte Hera misstrauisch. »Du weißt, es gibt zwischen dem Himmel der Götter und der Erde der Menschen genug von diesen boshaften Geistern, die auch uns gerne einen Streich spielen, wenn sie können!«
Athene lachte noch immer. Sie wusste längst, wer dieses Kind war.
»Ich schwöre dir, es ist kein böser Dämon«, sagte sie. »Aber wir wollen doch nachsehen, ob er sich bei dem Sturz nicht verletzt hat.«
Aber der seltsame Knabe schien nicht den geringsten Schaden erlitten zu haben. Er lag ganz vergnügt da auf der Erde und sah so strahlend aus, als hätten ein paar Tropfen von der Milch der Göttin ihn vom Kopf bis zu den Zehen mit Kraft erfüllt. So war es auch. Und als Hera später erfuhr, wem sie das Leben gerettet hatte, und als sie begriff, dass dieser Knabe, der an ihrer Brust getrunken hatte, dadurch Unsterblichkeit erlangte, da weinte sie vor Wut.
Aber das alles wusste sie zu dieser Zeit noch nicht. »Was sollen wir denn jetzt mit dem Knaben anfangen?«, fragte sie ratlos. »Ich kann ihn nicht mitnehmen nach Theben, denn er würde mir hinderlich sein bei dem, was ich zu tun habe!«, fügte sie düster hinzu.
Jetzt schien es Athene an der Zeit einzugreifen, um Unheil zu verhindern. »Überlass ihn mir!«, sprach sie entschlossen. »Geh du in die Stadt und tu das, wozu du hergekommen bist! Ich werde inzwischen den Knaben zu Menschen bringen, die ihn aufnehmen! Danach kommen wir beide hierher zurück!« Hera machte sich sogleich auf den Weg. Sie dachte jetzt nur noch an ihre Rache. Athene blickte ihr eine Weile nach, dann folgte sie ihr langsam, das Kind auf dem Arm. Sie sah jetzt aus wie eine ärmlich gekleidete junge Frau und jedermann konnte sie sehen, denn es ist den Unsterblichen ja ein Leichtes, sich unsichtbar zu machen oder irgendeine Gestalt anzunehmen. Hera aber sah niemand. Sie schlüpfte durch eines der sieben Tore, das eben geöffnet wurde, und begab sich geradewegs zum Palast des Königs.
Es herrschte großes Gedränge in den Straßen und manchmal stieß sie an jemanden, der sich dann kopfschüttelnd umblickte, weil er nicht wusste, wer ihn da gestoßen hatte.
So kam die zornige Göttin an eine kleine Seitenpforte des Palastes, vor der ein riesiger Wächter stand.
Er fühlte sich plötzlich unsanft zur Seite geschoben und wusste nicht, wie ihm geschah. Da war doch niemand! Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirne. Hatten die Götter ihm den Verstand geraubt? Hera aber lief schon durch die Gänge des Palastes zu den Gemächern der Königin.
Da war eine goldene Tür, die stand offen. Lautlos trat Hera ein. Mehrere Frauen befanden sich in dem Saal mit den schimmernden Wänden und den Marmorsäulen. Es mochten wohl Dienerinnen sein.
Dann sah sie Alkmene. Hera wusste sogleich, dass sie es war. So wunderschön konnte keine andere Sterbliche sein. Aber warum schien sie so traurig? Und warum hatten die Mägde verstörte Gesichter und verweinte Augen?
Hera nahm sich nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Sie hasste Alkmene – aber ihr konnte sie wohl nichts anhaben, denn Zeus würde sie beschützen. Nein, sie wollte das Kind, diesen Knaben Herakles!
Noch wusste sie nicht, was sie mit ihm tun wollte. Nur fortnehmen würde sie ihn und ihn irgendwohin bringen, wo ihn selbst Zeus nicht mehr fand – und wenn sie sogar in die grausige Nacht des Hades hinabsteigen musste, um ihn zu verbergen! Aber wo war der Knabe?
Sie lief schon wieder weiter, von einem Gemach zum anderen. Endlich kam sie zu einer kleinen Kammer, die war prächtig ausgestattet mit Teppichen und Kissen und allerlei kostbaren Dingen. An der Wand stand eine Wiege, sie musste aus purem Gold sein, mit kunstvollem Bildwerk verziert und mit vielen Edelsteinen besetzt.
Heras Herz begann, wild zu klopfen. Endlich! Aber – da in der Ecke saß ja schon wieder ein Magd, hielt die Hände vor das Gesicht und heulte. Was hatten sie nur alle? Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Was kümmert es mich?, dachte sie. Ich will das Kind, sonst nichts!
Mit ein paar schnellen Schritten stand sie vor der Wiege. Im nächsten Augenblick schrie sie vor Wut und Enttäuschung auf. Die Wiege war leer!
Die Magd war bei dem Schrei entsetzt in die Höhe gefahren. Sie starrte um sich – doch da war niemand! Hatte ein böser Dämon sie genarrt! Aber sie hatte den zornigen Schrei doch ganz deutlich gehört! Ach, es geschahen schreckliche Dinge im Königspalast, der öde und unheimlich schien, seit der schöne Knabe fort war, den sie alle so sehr geliebt hatten und von dem jedermann sagte, er sei ein Sohn des Zeus! Schluchzend lief sie aus der Kammer. Aber was war das nun wieder? Gerade unter der Tür streifte jemand an ihr vorüber, leicht wie ein Hauch berührte sie ein Gewand oder was es sonst sein mochte. »Oh Götter!«, ächzte sie und lief den Gang hinab. Sie musste schnell zu anderen Menschen kommen, sonst würde sie vor Angst gewiss sterben! Derweilen hatte auch Athene den Palast erreicht. Das Kind war jetzt ganz still, und wenn sie es ansah, lächelte es, als wüsste es allerlei. Niemand hielt sie auf, als sie den Palast betrat, die Wächter mochten sie wohl für eine der vielen Dienerinnen halten. Sie begab sich geradewegs in den Saal mit den goldenen Wänden, wo sie Alkmene und eine Schar aufgeregter Mägde fand. Die Königin saß in ihrem Thronsessel, ihre Hand, in der sie die Spindel hielt, war hinabgesunken und sie blickte verstört die Dienerin an, die vor ihr kniete und mit schreckensbleichem Gesicht eine sehr merkwürdige Geschichte erzählte. Athene blieb einen Augenblick an der Tür stehen und hörte zu. Sie wusste, die Magd sprach die Wahrheit. Denn sie selbst hatte genau gesehen, wie Hera wütend den Palast verließ, zum Tor hinauslief und im Gewimmel der Straße verschwand. Sie war also hier, um Herakles zu holen!, dachte Athene. Ich habe es gewusst!
Aber sie hat keine Ahnung, dass unser zerlumptes Findelkind der verhasste Sohn der Königin sein könnte. Also ist der Knabe jetzt bei Alkmene in Sicherheit: Denn ein zweites Mal wird ihn Hera hier gewiss nicht suchen!
Doch dieses eine Mal irrte sie sich: Denn immerhin besaß die oberste Göttin große Macht und der Hass machte sie erfinderisch. –
Die Königin fuhr plötzlich auf: Ihr Blick war auf die fremde Frau gefallen, die unten am Eingang stand und ein Kind im Arm hielt. Und dieses Kind –
Im nächsten Augenblick stand sie vor der Fremden, nahm ihr den Knaben ab, drückte ihn an sich und über ihre Wangen stürzten die Tränen herab, während sie sich über das kleine Gesicht beugte. Endlich hob sie den Kopf. »Wo hast du meinen Sohn gefunden?«, fragte sie.
Aber da war niemand mehr, der ihr Antwort gab. Die fremde Frau war verschwunden und die Mägde liefen umsonst durch die Gänge des Palastes, um sie zu suchen. –
Athene erreichte sehr schnell den Platz vor der Stadt, wo Hera schon auf sie wartete. Das Gesicht der erhabenen Göttin trug jetzt einen zufriedenen Ausdruck und das gefiel Athene ganz und gar nicht! Hera hatte irgendetwas Neues ausgeheckt, um ihren Rachedurst zu befriedigen, das schien ihr gewiss. Aber was? Darüber dachte Athene vergeblich nach, während der goldene Wagen sie zurückbrachte zum Olymp.
Alles wusste selbst diese kluge Göttin nicht. Sie wusste nicht, dass Hera, während sie da wartete, zwei der listigsten und bösartigsten Schlangen aus der Unterwelt heraufgerufen und ihnen befohlen hatte, den Knaben Herakles zu suchen und ihn zu töten. Königin Alkmene aber war an diesem Abend so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Sie hatte ihren Sohn wieder nach einem langen schrecklichen Tag voll Angst und Kummer! Alles, was an diesem Tag geschehen war, schien ihr wie ein böser Traum. Früh am Morgen war die alte Seherin, die ihr zuweilen die Zukunft vorhersagte, in ihr Schlafgemach getreten. »Gib acht, Königin!«, hatte sie sehr ernst gesagt. »Dein Sohn ist in großer Gefahr. Hera hasst ihn und trachtet ihm nach dem Leben. Ich vermag dir nicht zu sagen, was die Göttin tun wird. Aber ich weiß, dass noch heute etwas geschieht. Bring Herakles in Sicherheit, wenn du kannst!« Damit war die Alte fortgegangen und Alkmene blieb mit ihrer Angst allein. So war es immer, dachte sie verzweifelt: Man erfuhr von diesen Sehern nur, dass irgendetwas Schreckliches geschehen würde, aber niemals erhielt man Gewissheit! Was sollte sie tun und was würde Hera tun? Götter vermochten vieles, von dem die Sterblichen nichts ahnten!