Herkules. Auguste Lechner
einem Schrei, der so wild klang wie der Schrei eines zornigen Tieres, sprang er vorwärts.
Der Löwe fuhr in die Höhe und ließ das Fleischstück fallen, das er zwischen den Zähnen hielt.
Er duckte sich blitzschnell. Einen Augenblick sah Herakles die schillernden gelben Augen auf sich gerichtet – dann schnellte das Untier im Bogen durch die Luft …
Herakles schwang die Keule mit beiden Fäusten hoch über seinen Kopf.
Und einen winzigen Augenblick, bevor der riesige gelbe Tierleib auf ihn niederkrachte, fuhr sie herab. Es gab einen dumpfen Schlag und ein hässliches Knirschen –
Der Löwe drehte sich, noch in der Luft, auf eine sonderbare Weise um sich selbst, dann stürzte er zur Erde, streckte noch einmal die Läufe und lag still.
Herakles wartete ein wenig und war auf der Hut. Denn wenn sein Schlag den Löwen nur betäubt hatte … Aber er schüttelte sogleich den Kopf. Nein, er hatte das Knirschen deutlich gehört, mit dem die Schädelknochen des Untieres zerbrachen. Der Schlag war gut gewesen und es war eines geschickten Jägers würdig, den Löwen im Sprung zu treffen, dachte er zufrieden. Doch er wusste genau, hätte er nur einen Herzschlag lang gezaudert oder um eine Handbreit fehlgeschlagen, so läge er jetzt mit aufgerissener Kehle unter den Pranken des Löwen.
Aber er hatte nicht gezögert und nicht fehlgeschlagen! Herakles richtete sich auf und stieß einen lauten Siegesruf aus. Dann nahm er das Seil von der Schulter, mit dem er sonst zuweilen ein verlaufenes Kalb einfing, band die Hinterläufe des toten Räubers zusammen und schleifte ihn hinter sich her dem Waldrand zu. Bei den Göttern, das Ungetüm war schwer genug, selbst für seine Riesenkräfte!
Draußen auf der Wiese war es gerade noch so hell, dass er dem Löwen das Fell abziehen konnte. Es war ein schönes großes Fell und er gab gut acht, um es nicht zu verderben. Zuletzt schnitt er den Schädel vom Rumpf, höhlte ihn aus, so gut es ging, und stülpte ihn auf den Kopf wie einen Helm. Das Fell warf er sich über Rücken und Schultern und schlang die Läufe vorne zu einem Knoten: So umgab es ihn wie ein Gewand. Den wunderlichen Helm rückte er so zurecht, dass er durch die Augenhöhlen hinaussehen konnte.
Während er über die Weiden zu den Hütten hinabwanderte, lachte er ein paarmal vor sich hin. Ei, wie würden die anderen Hirten sich wundern, wenn sie ihn in seinem seltsamen Schmuck erblickten! Überall im Gras lagen die Rinder und schliefen und sahen aus wie unförmige dunkle Felsblöcke.
In einer der Hütten brannte ein Feuer und durch die offene Tür sah er die Hirten, die verschlafen um die Herdstelle hockten oder auf ihrer Streu schliefen.
Auf diese Hütte ging er zu. Er musste sich bücken, als er durch die Türöffnung trat. Die Männer drinnen wandten ihm die Gesichter zu, als sie seine Schritte hörten.
»He, Herakles, wir meinten schon, der Löwe hätte dich gefressen«, murmelte einer halb im Schlaf und versuchte, die Augen aufzureißen. »Was hast du denn so lange –« Das Wort blieb ihm im Halse stecken und nur noch ein erstickter Schrei kam aus seinem Mund. Im nächsten Augenblick brach in der Hütte ein solches Schreckensgeheul los, dass Herakles selbst erschrocken zusammenfuhr. Ein paar von den Männern sprangen auf und rannten taumelnd jenseits zur Tür hinaus, andere warfen sich zu Boden, vergruben den Kopf in den Armen, ächzten vor Entsetzen und flehten die Götter um Rettung vor dem Ungeheuer an, das da so plötzlich aus der Nacht aufgetaucht war.
Herakles stand verblüfft da. Was hatten sie denn nur? Konnte er etwa nicht mit Recht erwarten, dass sie begriffen, er habe den Löwen erschlagen, und ihn für seine Heldentat gebührend rühmten? Stattdessen lagen sie da und heulten oder liefen davon! Woher sollte er auch wissen, wie grausig er aussah, da im flackernden Feuerschein, statt des Kopfes einen Löwenschädel auf den Schultern, von dem das Blut herabtroff und in roten Rinnsalen über das Fell und an seinen Beinen hinablief? Nein, man konnte ihn wahrhaftig nicht ansehen, ohne dass einem der Angstschweiß ausbrach!
Herakles begann, sich allmählich zu ärgern. »Seid ihr närrisch geworden?«, knurrte er, packte den nächsten, der da am Boden lag, mit seiner gewaltigen Faust im Genick und schüttelte den armen Burschen, der vor Entsetzen nur noch ein heiseres Gurgeln hervorbrachte.
Jetzt aber hatten die anderen seine Stimme erkannt. Langsam hoben sich die verstörten Gesichter und starrten ihn an.
»Du bist es also!«, sagte einer und richtete sich mit einem erleichterten Atemzug auf. »Ich … wir hielten dich für … ich weiß nicht, wofür – du siehst aus, als hätte dich der Hades ausgespien!« Ein anderer schlich sich heran, die Augen ungläubig aufgerissen. Zögernd, mit äußerster Vorsicht griff seine Hand nach dem Löwenfell. »Du hast doch nicht … du hast doch nicht etwa den Löwen erschlagen?«, fragte er, stotternd vor Aufregung. Herakles lachte. »Nein, er hat mir freiwillig sein Fell gegeben, damit ich euch erschrecken kann, ihr tapferen Helden!«, spottete er. Aber sogleich wurde er wieder sehr ernst. »Ich werde den Göttern einen jungen Stier opfern«, sagte er, »denn es hätte leicht geschehen können, dass ich jetzt in Stücke gerissen oben im Wald läge.«
Dies war das erste Abenteuer des jungen Helden Herakles. Und als er später an diesem Abend auf seiner Streu lag, dachte er, dass es ein gutes Abenteuer war. Ich habe das Land von einem Ungeheuer befreit und die Menschen werden es mir danken! Und noch ein wenig später, als ihm eben die Augen zufallen wollten, fuhr er plötzlich in die Höhe. »Du wirst so lange in der Einöde bleiben, bis du begriffen hast, dass du deine große Kraft nicht zum Bösen, sondern zum Guten nützen sollst«, sagte er ganz laut in die Dunkelheit hinein und eine große Freude überkam ihn. Ja, so hatte der Urteilsspruch gelautet. Und er wusste, dass er nun fortgehen durfte.
Am Morgen verließ er Amphitryons Landgut und machte sich auf den Weg nach Theben.
Damit begannen für den jungen Herakles die seltsamen Abenteuer, von denen die Sänger noch nach Jahrhunderten erzählten.
Herakles befreit Theben
Der Mond war noch nicht voll geworden, seit er Amphitryons Landgut verlassen hatte. Da kam er eines Tages an eine der großen Straßen, die das Land durchzogen. In der Ferne bemerkte er schon die Mauern von Theben, allerlei Volk begegnete ihm und die Leute betrachteten ihn scheu und furchtsam oder auch mit Bewunderung; denn er trug noch immer das Löwenfell über den Schultern und den schrecklichen Schädel mit dem offenen Rachen statt eines Helmes.
Manche ergriffen bei seinem Anblick schleunigst die Flucht. Dann musste er stets lachen. Denn er wollte doch ganz gewiss niemanden etwas zuleide tun, wenn er auch wild und schrecklich genug aussah.
Als er eine Weile der Straße gefolgt war, kamen ihm drei Reiter entgegen.
»Sie kommen nicht aus Theben«, sagte er nachdenklich zu sich, »ihre Rüstungen sind anders als die unsrigen, auch tragen die Thebaner nicht solche Bärte. Ich möchte wohl wissen, was sie hier suchen!«
Er stellte sich in die Mitte der Straße, pflanzte seine Keule vor sich auf und wartete.
Die Reiter näherten sich zögernd und musterten Herakles mit Staunen und Misstrauen.
»Aus dem Weg, du Unhold!«, befahl der Anführer barsch und bemühte sich, sein Pferd zu beruhigen, das vor der großen Gestalt im Löwenfell erschrocken zurückgeprallt war. Herakles runzelte die Stirn. »Hüte deine Zunge!«, sagte er zornig. »Es könnte dich sonst reuen!«
Der Reiter hatte mit einem Blick gesehen, dass der gewaltige Mann da vor ihm keine anderen Waffen trug als diese ungefüge Keule. Nun, sein Schwert würde schneller sein! Seine Hand fuhr nach der Seite. Aber er vermochte das Schwert nicht zu ziehen. Eine riesige Faust packte ihn am Rock, hob ihn ganz einfach vom Pferd und stellte ihn unsanft auf den Boden. »Hör zu!«, sagte Herakles und blickte ernsthaft auf den Mann hinab, dem unter dem harten Griff die Knie zu schlottern begannen. »Ich will dir nichts tun, obgleich du mich einen Unhold genannt hast. Aber ich will wissen, was ihr hier vor der Stadt Theben sucht! Und du wirst es mir sagen.«
Der Fremde schielte hinüber zu seinen Gefährten,