Ahrenshooper Narrenspiel. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Narrenspiel - Tilman Thiemig


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      Sonntag startete den Wagen. Blinkte ein paar hundert Meter weiter. Bog ab. Und parkte keine fünf Minuten später vor der Wiecker Backstube. Schlenderte hinein. »Moin Tanja!«

      Zimmermann wartete derweilen im Auto. In Grübeleien. Darüber, wie er Lore Bradhering beichten sollte, dass er in wenigen Tagen seine Zelte in ihrer Pension abbrechen würde. Ein Radler riss ihn aus jenem Gespinst. Ein großer Mann. Sehr schlank. Sehr schwarz gewandet. Hemd, Hose, Jackett, selbst die Krawatte. Die Stiefel ebenso. Anthrazite Symphonie. Eine Erscheinung. Wie Henry Fonda. »Spiel mir das Lied vom Tod«. Nur der schrillgrüne Fahrradhelm passte nicht ganz ins Bild. So wie die Weste mit ihren Reflektorstreifen und dem Klettverschluss. Ein Mann mit der Anmutung eines Auftragskillers sowie ausgeprägtem Sicherheitsbewusstsein. Eine interessante Kombination. Zimmermann musste an seine erste Begegnung mit einer ebenfalls ungewöhnlichen Gestalt denken, die in Ahrenshoop Körbchen genannt wurde. Auch er außergewöhnlich, auffällig. Nur anders.

      »Schau mal, die Finnen, die mag Lore besonders gern. Und hier, die Wiecker Wickel, die sind auch klasse. Mit Walnuss und Sanddornklecks. Schmecken sensationell!«

      Hungrige Blicke in geöffnete Tüten. Der Geruch frischer Backwaren. Und weiter ging die Fahrt nach Born, Nordstraße, Pension Kuhfuß.

      Lore Bradherings schmuckes Kapitänshaus empfing die Reisenden im goldenen Oktoberglanz. Schon links und rechts der Pforte Kürbisse in allen Größen. Von Kinderfaust bis King-Kong-Format. Ebenso bewacht: die Haustür. Flankiert von Strohgarben, gebunden in blau-weiße Bänder. Der Wein am Mauerspalier schenkte dem Farbenspiel schillerndes Rot.

      Nur eine Nuance blasser jenes auf den Wangen der heraneilenden Herrscherin dieses Reiches. »Robert! Wie schön, wie wunderfeinschön, dass du wieder daheim bist. Endlich!« Ein wenig zu stürmisch die Umarmung. Ein wenig zu lau ihr knappes »Hallo Richard«, mit dem sie ihren Schwager begrüßte.

      Zimmermann ahnte, dass er sich mit der Ankündigung seiner Abreise noch etwas Zeit lassen würde. Er war noch nie ein guter Hiobsbotschafter gewesen. Obwohl das in seinem langen Berufsleben als Anwalt und Notar ungezählte Male zum Job dazugehört hatte. Allerdings musste er sich um die aktuelle Gesprächsführung keine Sorgen machen. Die hatte Lore Bradhering sofort an sich gerissen. Vollumfänglich. Und sie sollte sie im weiteren Verlauf des Frühstücks nicht wieder aus der Hand geben. Es fing schon mit seinem Geschenk an. Den Rauschgoldengel aus Krakau hatte er für sie ausgewählt. Zur Erinnerung gedacht an ihr Abenteuer im Eiskeller. Ihre Nacht in kalter Angst. Vor gut einem halben Jahr. Als die Polizei die Entführte auf dem Nachbargrundstück aus ihrem Verlies befreit hatte. In güldene Rettungsdecke gehüllt, war sie ihm wahrlich wie ein Himmelswesen erschienen. Engelsgleich. Weihnachtlich.

      Lore fing den zugeworfenen Ball des Rückblicks dankbar auf. Öffnete das Tagebuch dieses Frühjahrs. Jener Wochen im März, April, Mai – ein ereignisreicher Lenz! Ausführlich schilderte sie die Geschehnisse, die allen bekannt waren. Ließ Namen fallen, einen nach dem anderen. Manch einer dieser Namen fand sich nun auf einem Grabstein oder auf kleinem Schild an einem Friedwaldbaum. Kurzes Gedenken. Stummer Blick. Um dann umso plaudriger fortzufahren. »Wisst ihr noch?« – »Kennt ihr noch?« – »Könnt ihr euch noch erinnern?« Auf Antworten konnte Lore gut verzichten. Auch die hatte sie parat. Leitete schließlich so geschickt aus der Vergangenheit in die Gegenwart über. Die Zukunft. Warf den Blick auf Ahrenshoop. Den Partikel-Hof. Das neue Museum. Das Haus des Verschwindens. Berichtete vom Stand der Bauarbeiten, die gut vorankamen. »Wir sind hier ja schließlich nicht Berlin!« Sie führte aus, wie schön das alles werden würde, schon jetzt aussehe. Mit dem Zaun, den Tafeln und Bildern daran, den Kunstwerken, der Aussichtsplattform und den Gucklöchern.

      Zimmermann wusste um den Stand der Dinge. Hatte erst vor wenigen Tagen mit Andreas Kempowski, seinem Adjutanten, telefoniert, der ihm bei seiner Mission im Frühling treu zur Seite gestanden hatte. Trotzdem freute es ihn, nun von Lore so viel Gutes zu hören. Überdies beruhigte es, zu erfahren, dass auch die zwischenmenschliche Chemie bei der Ahrenshooper »Bande« stimmen würde und sich die Damen Müller-Paul, Riese, Seegers und Wahnschaffe prächtig vertragen würden. Auch mit dem Herren Schiffers von der Bunten Stube. Obwohl der ja zwischenzeitlich was mit der Seegers gehabt hätte. Und mit dem Kempowski würde das ebenfalls prima klappen, der ja nun der Syndikus von dieser Stiftung wäre. Sie sprach das Y als Ü. Und wählte zwei S fürs Ende.

      Zufrieden griff Zimmermann zum zweiten Wiecker Wickel. Fast glücklich. Wie anders war doch die Atmosphäre im Frühjahr gewesen. Allein die Turbulenzen bei der Testamentseröffnung! Kabale und Ranküne. Eifersucht, Leidenschaften, Neid. Ahrenshoop hatte sich ihm als Jahrmarkt der Eitelkeiten präsentiert. Und nun: Friede, Freude, Eierkuchen. Nicht ganz. Denn Lore war am Kempowski hängen geblieben. An seinem Auszug. Umzug. Einzug bei Elisabeth Müller-Paul in Ahrenshoop. Was sie ja nun sehr, sehr bedauern würde. Doch zugleich betonte sie, wie schön es wäre, dass ja ihr lieber, lieber Robert, ihr Bobby, noch sein Zimmer bei ihr hätte. Sein Zuhause, das sie ihm auch immer recht behaglich machen würde, damit er sich bei ihr wohlfühle. Jetzt hatte sie ihn am Wickel. Am Borner.

      Er legte sich gerade die passenden Worte zurecht, als Lore den letzten Knust ihres Finnbrötchens als Stichwortgeber nutzte. »Habt ihr eigentlich mitbekommen, dass Hakala-Holappas Schwiegervater gestorben ist? Erst vor ein paar Tagen. Wilhelm und sein Mann sind gerade zur Beerdigung in Helsinki. Dabei haben sie eigentlich gar keine Zeit für so etwas. Wo sie doch so viel zu tun haben mit dem Haus. Sie wollen doch demnächst schon einziehen. Im November. Matti hat extra Urlaub genommen von der Uni. Ein so lieber Mann, sehr höflich und männlich und immer korrekt gekleidet. Nicht so bunt wie der Wilhelm. Keine albernen Brillen. Keine närrischen Anzüge. Keine rosa Zigaretten. Merkt man gar nicht, dass der … na ja, ihr wisst schon. Ich musste mich erst daran gewöhnen. Als die beiden eine Zeit lang bei mir unter einem Dach gewohnt haben während des Umbaus. Aber es sind ja beide so liebe Menschen.«

      Vom Tod des alten Holappa hatte Zimmermann noch nicht gehört. Und auch Matti kannte er nicht. Wusste nur, dass Wilhelms Partner einen Lehrstuhl für Finno-Ugristik an der Georgia Augusta in Göttingen innehatte. Und dass der Professor und der Profiler das Haus von Lores Patentante in Born gekauft hatten. Ihrer »Tante Wilhelm«. Wilhelmine von Wustrow. Künstlerin. Keramikerin. Und die Mutter Hans von Wustrows.

       3. Taugenichts

      »Hans von Wustrow ist das Problem. Sein Schweigen. Sieht man mal von allem anderen ab. Doch seine kategorische Verweigerungshaltung macht es noch schwieriger. Und ohne seine Einwilligung geht es nicht. Rein formal sind die Bilder Libudas ja sein Eigentum. Alles andere ist in der Schwebe. Das kann also ewig dauern.« Kempowski ließ zum wiederholten Male den kleinen Löffel durch das schwarze Kalt des Kaffees kreiseln und blickte dabei aus dem Fenster. Es regnete Bindfäden. Dabei bräuchte er jetzt dringend eine Zigarette. Zumal das Künstlerhaus Lukas über eine prächtige Terrasse verfügte. Rauchen mit Boddenblick.

      »Und du meinst, da lässt sich nichts machen, zum Beispiel über seinen Anwalt?« Dörte Wahnschaffe stippte enttäuscht Streuselkuchen in heiße Milch. Kramte im Chaos ihres Schreibtisches. Holte Fotos hervor. Betrachtete sie versonnen. Die Leiterin des Lukas’ hatte die Arbeiten Antoni Libudas damals zusammen mit zwei Künstlerfreundinnen entdeckt. Und war von Anbeginn an begeistert gewesen. Liebe auf den ersten Blick. Ungeachtet der dramatischen Begleitumstände. Der Gefahr.

      »Goldi? Den kannst du vergessen. Das ist ein echter ›Held der Arbeit‹. Kenn ihn ja schon Ewigkeiten, den guten Goltsche. Trägt seinen Spitznamen außerdem nicht ganz unbegründet. Und ist ja auch nur Pflichtverteidiger. Auf den können wir nicht zählen.« Ein weiterer Blick zum Fenster. Mit schlechten Aussichten. Kempowski hatte inzwischen sein Zigarettenetui hervorgeholt. Wenigstens ein bisschen Aroma schnuppern.

      »Schade nur, dass das Gericht Hakala-Holappa als Betreuer wegen Befangenheit abgelehnt hat. Obgleich das auf der anderen Seite auch verständlich ist, ja, fast abzusehen war.«

      Nun hatte er auch sein Feuerzeug hervorgeholt. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Ungeachtet des Dauerregens.

      Dörte Wahnschaffe streuselte derweilen ein weiteres Stück. Bester Plattenkuchen von nebenan.


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