Ahrenshooper Narrenspiel. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Narrenspiel - Tilman Thiemig


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diesem Augenblick klingelte es abermals. Behutsam. Freundliche Begrüßungen aus dem Flur. Elisabeth Müller-Paul betrat das Esszimmer und betrachtete den herbstfestlich gedeckten Tisch. Das allerorten rötelnde Weinlaub. Die Trockensträuße. Doldenstände. Bärwurz. Wilde Möhre. Schafgarbe. Und begann sogleich zu deklamieren:

      »Up Wischen un up Wegen

      Klingt Harvestesmelodie.

      De welken Bläder ruscheln

      Tau unsen Fäuten dal,

      Un in de greunen Kuscheln

      Is ’t lerrig nu un kahl.

      De griesen Nebel decken

      Dat öde Stoppelland,

      Un Well un Wogen trecken

      Mit Brusen an den Strand …«

      Sie wechselte die Position und fuhr fort: »Martha Müller-Grählert. Ich liebe sie. Poetin aus Barth. Dann Zingst. Und Schöpferin des Gedichtes ›Mine Heimat‹, das zunächst als Lied von den Ostseewellen bekannt wurde und später als jenes von den Nordseewellen große Erfolge feierte. Von denen hat sie kaum einen Pfennig gesehen und starb stattdessen fast blind, verarmt und einsam im November 1939 in einem Altersheim. Ein trauriges Ende.«

      »Ob Nord- oder Ostseewellen. Oder gar Donauwellen. Hauptsache etwas zu essen!«

      Es hatte zwischenzeitlich abermals geklingelt und Lore abermals geöffnet. Kempowski stand nun in der Tür.

      »Aber zunächst einmal herzlich Willkommen, mein lieber Zimmermann. Willkommen tu Hus!« Kempowski griente. Umarmte den Freund. Mit sozialistischem Bruderkuss.

      Müller-Paul stockte im Anblick dessen. »Mensch, natürlich, ich bin immer so impulsiv, lasse mich von Gefühlen tragen. Stimmungen. Schön, Sie zu sehen, lieber Herr Zimmermann! Doch die Martha, die sollten Sie mal lesen! Das wird Ihnen gefallen. Und ihr Schicksal kann einen schon rühren. Allein diese Gemeinheit mit den Tantiemen. Aber jetzt kümmern sich zwei Enthusiasten aus Barth um Müller-Grählerts Werk, ihren Nachlass und die Erinnerung an sie: Die Arlts haben dort sogar ein kleines Museum eingerichtet. In der alten Druckerei. Ich werde die beiden sicherlich mal zu uns einladen. Zu einem Vortrag oder Leseabend.« Als Bibliothekarin und Lyrikfreundin oblag Elisabeth Müller-Paul im Team des Partikel-Hofes auch das Literaturprogramm. Überdies hatte sie den Ausstellungsbereich der Verfolgten unter den Künstlern und Künstlerinnen übernommen. Des Weiteren war sie für die Kommunikation zuständig. Naheliegend. So fuhr sie fort: »Aber nun erzählen Sie doch mal! Wie war es denn in Polen?«

      »Aufschlussreich. Danke der Nachfrage. Doch später mehr. Nach dem Mahl, das uns Lore gezaubert hat. Wundervoll, nicht wahr?«

      Jene hatte inzwischen aufgetischt. Was Küche und Keller hergegeben. Sowie die Terrasse, auf der Richard Sonntag gegrillt hatte. Thüringer Rostbratwurst natürlich. Schließlich stand der Abend ja im Zeichen von Lores Mutter Annelie. Der Thüringerin in der Darßer Diaspora. Zimmermann kam der Übergang zum Wesentlichen recht. Dem Essenziellen – im wahrsten Sinne des Wortes. Von seinem abgebrochenen Besuch in Auschwitz hatte er Kempowski bereits am Telefon erzählt. Das Wichtigste. Knapp. Mehr war nicht zu berichten. Allerdings wollte er sein Mitbringsel für den Fundus des Museums vorstellen: den Narren aus Zielonki. Doch der wäre eher etwas für eine besinnliche Stunde nach getaner Arbeit. Nichts, was zwischen Würsten und Brezeln, Kürbissuppe und Radi betrachtet oder erörtert werden sollte.

      Ein abermaliges Klingeln unterbrach den Genuss. Nur kurz. Wilhelm Hakala-Holappa erschien. Allerdings allein. Das Paar war erst in der Frühe aus Helsinki zurückgekehrt, sein Mann jedoch weiter nach Göttingen gefahren. Er war zwar für ein Forschungssemester freigestellt, hatte aber zuvor noch einiges an der Uni zu erledigen.

      Zimmermann hatte insgeheim darüber spekuliert, in welcher Gewandung der Profiler mit finnisch-schweizerischen Wurzeln den Herbst feiern würde. Im Frühjahr hatte er ja ein um das andere Mal mit seinem exotischen wie fantasievollem Kleidungsstil für Aufsehen gesorgt. Zu dem auch oftmals kurios anmutende Brillen zählten. Umso erstaunter war er, dass Wilhelm für den heutigen Abend eine eher schlichte Kombination gewählt hatte: hellbraune Cordhose, dunkelbraune Halbschuhe, beiger Pullover, ein weißer Hemdkragen, Tweedjacket. Die Brille in erdigem Horn. Eigentlich eher Kempowskis Stil. Auch sonst wirkte er verändert. Sehr ruhig. Freundlich zwar, doch zurückhaltend. Zuhörend. Dabei allerdings unkonzentriert. Zimmermann erklärte sich das mit dem Todesfall in der Familie. Obgleich ihn persönlich seinerzeit der Tod seines Schwiegervaters nicht übermäßig bedrückt und sehr lange beschäftigt hatte. Obwohl er dem alten Knaben zugetan war. Doch Menschen sind ja bekanntermaßen unterschiedlich. Wie Kürbisse.

      Die nun Elisabeth Müller-Paul ins Spiel brachte. »Nur der Kürbis ist ein Kopf ohne Sorgen, wie man in Italien sagt.« Sie hatte Hakala-Holappas Verstimmung ebenfalls wahrgenommen und spielte mit einer der gehöhlten Früchte auf dem nun wieder vom Geschirr befreiten Tisch. »Apropos, kleines Rätsel: Von wem ist wohl das: ›Kürbisranken schmiegten sich auf am veralteten Stamme, und schon krachte das Glied unter den Lasten der Frucht. Dürres Gereisig neben mir an, dem Winter gewidmet, den ich hasse, denn er schickt mir die Raben aufs Haupt …‹ Na, meine Herren, meine Dame? Aus wessen Feder stammen diese Zeilen?« Ein auffordernder Blick in die Runde.

      Zu der nun auch wieder Lore Bradhering gehörte. Und sich traute: »Womöglich von der Martha? Oder vielleicht Käthe Miethe? Am Ende von Ihrer Kaschnitz?« Eigentlich eher eine Freundin leichter Lektüre, hatte Lore im Frühjahr literarisch einiges dazugelernt und sich auch mit den Werken jener Damen beschäftigt, von denen die Bibliothekarin so begeistert war.

      »Nein, leider alles falsch. Das ist von einem Mann. Natürlich. Das stammt vom großen Goethe. ›Römische Elegien‹. Epilog. Doch, woher haben Sie eigentlich diese herrlichen Früchtchen, liebe Lore? Die ja eigentlich Beeren sind.«

      »Die? Die habe ich von den Krauses. Agnes und Astrid Krause. Mutter und Tochter, ein unzertrennliches Gespann. Etwas eigen, bisschen spleenig. Kann man aber auch werden, wenn man da oben lebt. In Müggenburg. Ganz kleines Nest in Zingst. Also noch hinter dem eigentlichen Ort. Beim Osterwald. Da wo früher das Gut war. Das VEG. Da haben die ihr Gärtchen. Was da nicht alles wächst. Eigentlich erstaunlich bei dem Boden. Doch die beiden entlocken dem die wundervollsten Gemüse. Und tuckern dann mit ihrer alten Brockenhexe los. Sind auf allen Wochenmärkten der Gegend. Ich besuche die immer in Wieck.«

      »So, meine Damen, nun brauche ich aber etwas Platz. Ich will auspacken.« Zimmermann war nach dem Gelage auf sein Zimmer gegangen. Kehrte nun mit dem sorgsam verpackten Gemälde zurück. Befreite es umständlich von mehreren Lagen. Packpapier. Alte Zeitungen. Seidiger Zellstoff. »Trommelwirbel. Steigende Spannung. Der Vorhang hebt sich. Voilà, da ist er: Stańczyk. Der große Narr am polnischen Hofe. Meine Morgengabe für den Partikel-Hof. Zumal das Bildnis fein von Katarzyna Gawłowa gemalt wurde. Zumindest signiert.«

      »Faszinierend!« Der Anblick des Narren hatte auch Hakala-Holappa aus seiner bislang anhaltenden Verhaltenheit gerissen. »Allein das Rot des Gewandes. Grell. Gleich Blut. Schreiend. Und dann diese Haltung. Wie er da sitzt. Auf seinem Stuhl. Armstuhl. Thron womöglich. Diese Verzweiflung. Ein resignierter Regent. Nein, das ist kein Narr, das ist ein Herrscher, der soeben von der letzten, vernichtenden Niederlage seines Heeres erfahren hat. Der Bote steht noch im Raum. In den Händen die unheilverkündende Botschaft. Faszinierend! Allerdings, hat die Gawłowa nicht andere Motive bevorzugt? Heiligenbilder, Marienerscheinungen, Volksfeste, Hochzeiten, so etwas halt? Außerdem«, der Profiler beugte sich näher über die Arbeit und untersuchte gründlich die Oberfläche, »erinnert mich der Pinselstrich frappierend an den Stil Libudas.«

      »Über ihn haben wir leider kaum etwas in Erfahrung bringen können. Haben uns ja länger in Zielonki umgesehen. Der Sonntag und ich. Der kann ja ein bisschen Russisch. Etwas Polnisch. Und mit einigen älteren Einwohnern konnten wir uns auch auf Deutsch unterhalten. Doch ein Mann dieses Namens war keinem der Befragten bekannt. Auch auf dem Friedhof haben wir nichts gefunden. Und die alten Kirchenbücher sind im Krieg verbrannt. Wie die im Rathaus. Nur eine ganz alte Dame konnte sich noch daran erinnern, dass kurz nach ’45 ein Mann bei der Gawłowa aufgetaucht ist. So um die Vierzig. Jünger als sie. Ein vermeintlicher Neffe. Der


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