Ahrenshooper Narrenspiel. Tilman Thiemig
dass sie gerade dabei sind, das Elternhaus zu verkaufen; die Mama muss jetzt in ein Pflegeheim. Und auf dem Dachboden hat sie Unmengen von Joachims frühen, früheren Arbeiten entdeckt: Zeichnungen, Radierungen und sogar Kupferstiche. Ich dachte eigentlich, dass er das alles verbrannt hätte. Wie er immer gerne vollmundig verkündet hat. Doch das stimmt wohl nicht so ganz. Typisch Jo halt. Elke hat auch ein paar Fotos geschickt. Klasse, sage ich euch. Ein paar Sachen kenne ich noch von früher. Wir haben ja beide eine Zeit zusammen an der HBK in Braunschweig studiert. Fand ich fantastisch. Er zählte wirklich zu den ganz großen Talenten damals, wobei er selbst sein größter Kritiker war. Er fand dann irgendwann den ganzen ›Scheiß‹ zu bürgerlich, konventionell, bildnerisch und wandte sich der Malerei zu. Seinen ›Körperlandschaften‹, wie er es nannte. Mit Unterbodenschutz. Also, ich möchte auf jeden Fall mal hin und mir das anschauen. Außerdem habe ich da unten auch noch andere Gräber zu besuchen.«
»Mag sein, Dörte. Fände ich schon schön. Und sehen möchte ich seine Arbeiten ja auch. Wie lange haben wir denn noch Zeit? Im Augenblick ist verdammt viel zu tun. Wenn ich nur an das Richtfest denke!«
»Ja, das ist das Problem. Eigentlich soll das Haus bis Ende des Monats geräumt sein. Und bei sich hat Elke auch nicht so viel Platz. Ihr Mann ist ebenfalls Künstler. Bildhauer sogar. Das nur zum Thema Spießbürger. Er arbeitet allerdings als Dozent an der Steinmetzschule dort. Auf jeden Fall ist ihr Häuschen voll bis zum Dach mit irgendwelchen Skulpturen, Werkstücken, Entwürfen, wie sie sagt.«
Kempowski fand die Idee, eine Exkursion nach Königslutter in das Œuvre des frühen Majakowski zu unternehmen, ebenso reizvoll.
Der ja zumal dort ganz in der Nähe einen Baum hatte. Im Friedwald. Den hätte er schon gerne besucht. Mit einer Flasche Wodka. Um noch einmal anzustoßen. Das wäre ja mit einer Buche, einem Bergahorn, womöglich gar einer Birke einfacher. In diesem Augenblick klingelte sein Telefon. Und der Regen hörte auf. Eine gute Konstellation, die Terrasse aufzusuchen. Er verabschiedete sich kurz. Zündete sich noch auf der Türschwelle eine an. Und meldete sich.
Gut zehn Minuten und drei Zigaretten später legte er auf. Setzte sich. Zündete sich noch eine an. Ein merkwürdiger Anruf von einem alten Bekannten, der bei der Polizeiinspektion Wismar arbeitete. Polizeihauptmeister Heie Timmendorf. Ein Mann ohne Karriereambitionen. Ähnlich wie er. Dafür mit einer gehörigen Portion Loyalität. Bei dem Kempowski noch etwas guthatte. Gehabt hatte. Denn nun hatte sich Timmendorf über gewisse dienstliche Pflichten, Selbstverständlichkeiten hinweggesetzt, das Gebot der Verschwiegenheit gebrochen und ihm von einer ganz merkwürdigen Geschichte erzählt, die sich vor ein paar Tagen auf einem kleinen Dorf Richtung Grevesmühlen ereignet hatte. Wo der Besitzer eines Reiterhofes auf bestialische Weise umgekommen war. Zunächst hatte es wie ein Unfall ausgesehen, als ob das Opfer von seinem eigenen Pferd zu Tode getrampelt worden wäre. Ein übler Anblick. Das hatte Timmendorf nachdrücklich betont. Bei näherer Untersuchung hatte man jedoch bestimmte Details entdeckt, die aus dem Unfall einen Mord gemacht hatten. Merkwürdige Details. Sonderbare Spuren. Wie bei einer Inszenierung. Für die es nun zahlreiche Verdächtige gebe. Der Tote war alles andere als beliebt gewesen. Das fing schon in der Familie an: zwei Söhne, zwei geschiedene Frauen. Mindestens vier Motive.
Kempowski hatte Timmendorf irritiert zugehört. Und neugierig, zugegebenermaßen. Auch wenn er nach dem Ahrenshooper Frühling eigentlich genug von Leichen hatte. Von Verdächtigen. Verdächtigungen. Allerdings schien das Schicksal für ihn anderes vorzusehen. Denn als Höhepunkt seiner Vertraulichkeit hatte ihm der Vertraute aus Wismar schließlich mitgeteilt, dass im Rahmen der weiteren Ermittlungen auch er ins Spiel gekommen sei. Er. Andreas Kempowski. Aus Rostock, jetzt wohnhaft in Ahrenshoop, am Weg zum Hohen Ufer. Denn auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer des Toten waren zwei Notizzettel recht frischen Datums gefunden worden: mit Kempowskis Namen und seiner Telefonnummer. Mit der Erinnerung, ihn anzurufen und dem Hinweis auf einen anstehenden Termin: ein gemeinsames Essen im Alten Schweden in Wismar am 14. November. Daher, so endete Timmendorf, habe sich der Chef entschlossen, ihn vorladen zu lassen. Zu einer ersten Anhörung. Natürlich nur als Zeuge. Die Post sei schon unterwegs.
Kempowski fühlte sich wie von einem Panzer überrollt. Einem T-55. Dem Eierschwein. Gesteuert von Generalmajor Janshen. Was sollte das? Was hatte er mit einem mysteriösen Mord bei Wismar zu tun? Und was mit diesem Haberkamp? Heinz Haberkamp … Er grübelte. Gehört hatte er den Namen schon einmal. Aber schon länger her. Irgendein Prozess war das gewesen. Heinz Haberkamp. Alter Schwede? Dann fiel es ihm ein. Wie Schuppen von den Augen.
4. Prangerl
Lore Bradhering fing mit dem linken Auge an. Immer. Sie liebte das Gefühl, wenn das Messer die äußere Schicht durchstieß. Spitz. Schartig. Scharf. Und dann wanderte. Kleine Wege zog. Von links nach oben. Schräg weiter nach rechts. Unten. Und wieder zurück. Manchmal auch im Zickzack. Zwischendurch ein kurzer Griff zum Handtuch, die Finger abtrocknen. Eine etwas klebrige Angelegenheit. Dennoch schien sie Feuer und Flamme. War ganz bei der Sache.
Zimmermann schaute ihr fasziniert zu. Er kannte das. Aus Kanada. Dort war es sehr beliebt, das Phänomen der geschnitzten Gesichter. In seiner Heimat sprossen sie schon Ende September aus dem Boden. Die Fratzen. Masken. Larven. Die Grimassen des Grauens. Doch Halifax galt auch als Hochburg des Halloween. Hier an der Ostseeküste hatte er allerdings keine so große Passion fürs Kürbisschlachten vermutet. Schon am Morgen hatten ihn Lores Cucurbita-Kompositionen mehr als erstaunt.
Wenig später hatte sie ihn aufgeklärt. »Ach, weißt du, Robert, meine Mutti stammt ja aus Thüringen. Aus Schalkau. Ganz im Süden. Sie hat es nach dem Krieg nach hier oben verschlagen. Und da hat sie den Brauch des Rübengeisterns einfach mitgebracht. Mit mir als Kind ihre geliebten Rubebötz geschnitzt. Und gelöffelt. Eigentlich sind das nur echte, wenn man dafür Futterrüben nimmt. Zur Not auch Zuckerrüben. Gab es ja früher in Barth von der alten Zuckerfabrik. Da fiel schon mal was ab für uns Kinder. Ist aber eine mordsmäßige Arbeit. Da sind die Kürbisse schon leichter und sehen auch schöner aus.«
Sie hatte recht. Inzwischen hatte sie ihr Werk vollbracht und auf der bereits gedeckten Tafel im Esszimmer arrangiert, wo sie zwischen Geschirr und Servietten blau-weiße Lichtakzente setzten. Beim Frühstück war ihr die spontane Idee zu einem kleinen Oktoberfest gekommen. Zur Feier von Zimmermanns Rückkehr. Eigentlich in richtig großer Runde. Die Vorbereitungen des anstehenden Richtfestes in wenigen Tagen hatten ihr jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht: Fast alle Eingeladenen vom Partikel-Hof hatten absagen müssen und sie auf später vertröstet. Nach dem großen Tag. Nur Elisabeth Müller-Paul hatte zugesagt. Wollte erscheinen. Natürlich mit Kempowski. Zimmermann freute sich auf das Wiedersehen mit dem Weggenossen. Mitstreiter. In stürmischen Tagen.
Es klingelte Sturm. Doch zunächst stand nur Richard Sonntag in der Tür. Mit zwei Kästen Weizenbier. Es sollte zünftig werden, wie Lore verkündete. Zimmermann hatte vage Befürchtungen. Er hatte zwei, drei Male Oktoberfeste in Kanada besucht. Auf Einladungen von Mandanten. Es war fürchterlich gewesen. Hoffentlich verzichtete Lore wenigstens auf die typische Musik. Und hatte an den Kümmel gedacht. Doppelkümmel. Immerhin kam das Bier aus der Gegend.
»Hoppen un Molt, us de Herrgott erhalt!« Sonntag hatte die ersten Flaschen geöffnet. Eingeschenkt. Prostete Zimmermann zu. Zwei Humpen. Halbe Liter. In Blau-Weiß. Mit Seeadler. Und Kranich. Im Flug.
»Trinkt man das nicht eher aus langen, schlanken Gläsern?« Zimmermann schaute etwas irritiert.
»Aber die sind doch von Tante Wilhelm. Komm, ein Prost auf die Dame!« Von deren künstlerischem Schaffen in Lores Pension manch anderes Geschöpf ihrer Hände kündete. Nach dem Verkauf des Hauses an den finnisch-schweizerischen Psychologen und Profiler Wilhelm Hakala-Holappa schien sich die Anzahl der Wandteller, Kerzenleuchter, Übertöpfe, Kannen, Vasen und Skulpturen aller Größen mehr als verdoppelt zu haben. Allein die vielen Büsten. Von allen Regalen schauten sie einen an. Aus allen Winkeln verfolgten sie einen. Zimmermann hatte in den vergangenen Stunden versucht, sie zu identifizieren. Zuzuordnen. Hatte auch etliche Bekannte entdeckt – Lore natürlich. Den guten Sonntag. Sogar Jo Majakowski. Selbst Alfred Partikel. Seine Kinder: Adrian, Barbara, Cornelia. Sich selbst hatte Wilhelmine von Wustrow auch zum Relikt werden lassen.