Ahrenshooper Narrenspiel. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Narrenspiel - Tilman Thiemig


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Auch wenn das Szenario am ehesten auf Sven schließen ließe. Auch der Hund passte dazu. Haberkamps Dobermann. Der fehlte. War wohl einst ein Geschenk des Sohnes gewesen und jetzt nicht mehr auf dem Gelände aufzufinden. Auch die Suche im Dorf und in der Umgebung war bislang erfolglos geblieben. Allerdings hatte die Spusi Hinweise entdeckt, dass der Täter das Tier verletzt haben musste. Womöglich schwerer. Wenn nicht gar getötet. Doch warum dann den Kadaver mitnehmen? Und was hatte Kempowski mit der ganzen Geschichte zu tun?

      Hakala-Holappa griff zum Kaffeebecher. Rostock, rechts der Autobahn, auf der er nun ein kleines Stück fuhr, ließ er liegen, ebenso den Fall Haberkamp und rauschte weiter Richtung Süden. In den Morgen, der grau dämmerte und so auch fortan bleiben wollte.

      Ebenfalls grau empfing ihn der Fuchsbau. Die JVA Waldeck bei Dummersdorf. Der kleine Hans erwartete ihn! Hakala-Holappa hatte hoch gepokert. Seine letzte Karte ausgespielt, um Hans von Wustrows Schweigen zu brechen, das für ihn ein Fallbeispiel totalen Mutismus darstellte. Das vollkommene Verstummen eines Menschen infolge eines Traumas. Auch wenn dazu in Lehre und Forschung kontroverse Meinungen vertreten und diskutiert wurden. In dieser speziellen Konstellation drängten sich für ihn die Zusammenhänge geradezu auf. Wie ein aufgeschlagenes Buch: Lies mich! Schau, was ich dir zu zeigen habe! Überdies stellten ja Verbrechen nicht nur für die Opfer traumatische Verletzungen dar. Zudem suchte der Profiler tiefer. Ahnte die Wurzeln für die Störungen Hans von Wustrows im Erdreich jener Stunde im Ahrenshooper Holz. Vor über siebzig Jahren. Als der Kleine seinen Vater gesehen hatte. Und Alfred Partikel. Daher setzte Hakala-Holappa nun auf die Katharsis. Die im Geist der Antike geborene Lehre der Reinigung durch Konfrontation. Der Jahrestag des Verschwindens des Malers erschien ihm dazu ein idealer Anlass. Auch wenn er sicherlich gerne dem Richtfest beigewohnt hätte. Doch die Erkenntnis hatte Vorrang vor der Zerstreuung.

      Schon seit Wochen hatte er die Exkursion vorbereitet. Die entsprechenden offiziellen Ohren waren erfreulich offen gewesen. Selbst der Anstaltsleiter hatte sein Placet gegeben. Zumal von Wustrow sich im Fuchsbau mustergültig verhielt. Friedlich, freundlich, fleißig. Deshalb waren ihm bereits einige Vergünstigungen zuteilgeworden. Wie zum Beispiel die wöchentlichen, bewachten Spaziergänge vor den Toren der JVA zu den Volieren mit den Tauben und Finken, die er sehr zu mögen schien. Fütterte. Ihnen das Wasser wechselte. Reichte. Zusammen mit einem anderen Insassen namens Franck, einem ehemaligen Stasioffizier. Und Gattinnenmörder. Mit dem sich von Wustrow auch ohne Worte verstand. Stillschweigend. Beinahe wie gute Freunde. Zwei komische Käuze. Aber in den Augen der Anstaltsleitung inzwischen harmlos. Zudem waren drei Beamte als Eskorte vorgesehen. Und ein entsprechend präpariertes Fahrzeug. Ein Kleinbus. Ausbruchsicher. Einen der Männer kannte Hakala-Holappa: Maik Celinski. Ein feiner Kerl mit der Statur eines Bären. Der nebenbei in Häschendorf eine Bikerkneipe betrieb, zu deren Besuch Wilhelm auch noch keine Zeit gefunden hatte.

      Celinskis Anwesenheit beruhigte ihn. Er begleitete das Kommando vom Beifahrersitz aus. Die anderen beiden wirkten recht mürrisch. Vor allem jener, der von Wustrow zur Seite gestellt war. Mit Handschellen verbunden. Sie saßen ihm in einer Art Käfig gegenüber. Der Transportzelle.

      »Ich bin bereit, wenn Sie es sind …«

      Keine Reaktion. Von beiden. Scheinbar nicht nur mit Handschellen verbunden.

      Derart in Schweigen wie in Sicherheit gehüllt fielen Hakala-Holappa wenig später die Augen zu. Eigentlich hatte er Hans von Wustrow als Geschichtenerzähler auf die anstehende Begegnung mit seiner Kindheit einstimmen wollen. Mit Märchen. Da kamen ja oftmals Wälder vor. Tief und voller böser Wesen: Hexen, Riesen, Zauberer und Kobolde. Biblisches hatte er auch in Erwägung gezogen. Vielleicht das Gleichnis vom verlorenen Sohn? Bei seinen ersten Besuchen in Waldeck hatte er es mit Kafka-Lektüre versucht. Der »Brief an den Vater«. Das hatte sich als falscher Ansatz erwiesen. Von Wustrow hatte nur stumm gegähnt. War am Tisch eingeschlafen. Wie von Kempowski vorausgesagt, dem sich Wilhelm anvertraut hatte.

      »Dann kannst du mit ihm auch Star Wars anschauen. Anakin und Luke Skywalker, ganz großes Kino, passend zum Thema: Ich bin dein Vater! Schnorchelatem. Abgang. Sprung. Nein, Kafka führt in die falsche Richtung. Dann lieber dieses Kinderlied. Das öffnet vielleicht ein Fenster.«

      Einen ganzen Abend hatte er mit ihm geübt. Dieses »Bajuschki baju« einstudiert. Bei zwei Flaschen Wodka. Hakala-Holappa war regelrecht begeistert gewesen. Freute sich auf die Reaktion. Gespannt.

      Doch diesen Einstieg hatte er ja nun verschlafen. Der Wagen stoppte. Parkte. Rüttelte ihn wach. Halbwegs. Hakala-Holappa sortierte sich. Sein Vorhaben. Gut, das mit dem Lied musste er sich für den Gang ins Holz aufsparen: das Ahrenshooper Todholz.

      Die Tür wurde geöffnet. Endlich wieder Licht. Was aber nur etwas heller war als das Grau des frühen Morgens dieses 20. Oktobers. Der kleine Expeditionstrupp brach auf. Schon nach wenigen Schritten im Holz schien seine Rechnung aufzugehen. Mit kurzer Geste eingeladen, übernahm Hans von Wustrow die Führung. Schritt voran. Mit seinem Begleiter, der auf den Namen Schildknecht hörte. Nun ja, so hieß. Auf morastigem Pfad. Die ersten Stechpalmen begrüßten die Wanderer mit dem Rot ihrer Beeren. Rot. Giftig. Lockend. Ilex aquifolium. Hans von Wustrow folgte ihnen, als ob die Früchte aufgeschnürt. Einer Kette gleich. Aufgefädelt. Sie waren sein roter Faden, der ihn zu den Wurzeln führte. Dem Eingang des Geheimnisses.

      Hakala-Holappa stolperte hinterdrein. In Aufregung. Sollte sein Experiment gelingen? Er erhob die Stimme, brüchig zunächst, doch dann sicherer. Immer stimmiger in der Melodie der fremden Sprache: »Bajuschki baju«.

      Von Wustrow schien es nicht zu stören. Er schritt weiter unbeirrt voran durch das Gehölz. Längst war das Häuflein vom Weg abgewichen. Stromerte durchs Unterholz. An Suhlen vorbei. Aufgeworfen vom Schwarzwild.

      Die drei Beamten schienen ebenfalls unbeeindruckt. Machten ihren Job. Wechselten nur kurze, vielsagende Blicke.

      Hakala-Holappa wechselte nun zu den deutschen Versen:

      »Schlaf mein Kind,

      ich wieg dich leise,

      Bajuschki baju,

      Singe die Kosakenweise,

      Bajuschki baju.

      Draußen rufen

      Fremde Reiter

      Durch die Nacht sich zu

      Schlaf mein Kind, sie reiten weiter.

      Bajuschki baju.

      Einmal wirst auch

      Du ein Reiter …«

      Der kleine Hans hielt ein. Drehte sich ab.

      Hakala-Holappa bannte den Ort. Totholz. Stechpalmen, Kreuzdorn und Adlerfarn. Eine kleine Lichtung. Für ein Foto war keine Zeit. Der Schauplatz? Tatort? Er war sich sicher. Fieberte dem Augenblick entgegen, in dem von Wustrow den Mund aufmachen und etwas sagen würde. Etwas Entscheidendes. Vielleicht weinte. Schrie. Oder auch nur stammelte. Auf jeden Fall die Lippen öffnete.

      Doch jener öffnete nur die Hose, soweit es die Handschellen und Schildknecht zuließen, und – pinkelte. Um nach vollzogener Notdurft kehrtzumachen, einfach umzudrehen. Den gleichen Weg. Zurück, aus dem Holz heraus, zum Parkplatz, dem Fahrzeug.

      Hakala-Holappa war am Boden zerstört. Trottete abermals hinterher. Ein Trottel war er gewesen. Sich von solch einer dilettantischen Versuchsanordnung etwas zu erhoffen. Eine Lösung womöglich. Die letzten Meter glichen zudem einem Spießrutenlauf. Ein kurzes Stück mussten sie entlang der Ahrenshooper Dorfstraße gehen. Im Gänsemarsch, denn es war einiges los. Spaziergänger, Radler, Touristen, die das sonderbare Quintett mit großen Augen anstaunten. Starrten. Verwundert tuschelten.

      Wenigstens war Hakala-Holappa seinem neuen Dresscode treu geblieben. Seitdem Matti und er beschlossen hatten, mittelfristig ganz nach Born überzusiedeln, verzichtete Wilhelm auf die Paradiesvogelgefieder früherer Tage. Keine roten Lederhosen mehr. Keine zitronengelben Stiefeletten oder Rüschenhemden im Fliederton. Und auch der Janker mit Blütenmuster in Mauve hatte Ausgehverbot. Selbst auf die gewagten Brillen von seinem Bruder aus Basel verzichtete er. Schluss mit dem Mummenschanz. Den Narrengewändern. Er war Realist. Wollte die Toleranz seiner Mitmenschen nicht über Gebühr strapazieren.


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