Ahrenshooper Narrenspiel. Tilman Thiemig

Ahrenshooper Narrenspiel - Tilman Thiemig


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Das schöne Büchlein war jedoch bereits 1924 erschienen. Passend zu solchen Gedanken hatte Zimmermann nun das Grab von Elfriede Paul erreicht. Ärztin. Autorin. Widerstandskämpferin. Mitglied der Roten Kapelle. Sowie Tante von …

      »Da steckst du also. Elisabeth ist schon ganz nervös. Der Rest der Meute auch. Du wirst erwartet!« Kempowski reichte dem Freund eine Taschenflasche aus gediegenem Silber. Ein Geschenk von Zimmermann als Erinnerung an ihre erste Begegnung. Beide schätzten guten Brandy. Auch zu früherer Stunde.

      Zusammen mit zahllosen Gästen und Neugierigen, die sicherlich auch durch die Musik angelockt wurden, machten sie sich auf den Weg. Jazz. Zimmermann glaubte Chet Baker zu erkennen. »Autumn leaves«. Herbstlaub. Stimmig.

      »Ja, die Burschen haben schon mal angefangen. Oscar, Leander. Und ein Adrian ist auch dabei. Sogar einen Aaron gibt es.« Kempowski lächelte. Eilte.

      Zimmermann folgte. Schön, dass die Jungen ihr Versprechen gehalten hatten. Aufspielten. Obwohl, Jungen? Nun gut, junge Männer. Die Urenkel Alfred Partikels waren schließlich auch alle schon über zwanzig. Schade nur, dass ihre Großmutter in Hamburg geblieben war. Er hätte Cornelia gerne noch einmal gesehen. Nele. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

      Als Robert Aaron Zimmermann später erwachte, schaute er in das besorgte Gesicht Dörte Wahnschaffes, das sich nun jedoch aufhellte.

      »Schön, dass Sie wieder bei uns sind! Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Plötzlich einfach so umzukippen – das geht doch nicht. Allerdings hat Dr. Saalfeld nach der ersten Untersuchung Entwarnung gegeben. Nur ein kleiner Schwächeanfall. Die Aufregung. Deshalb haben wir die Sanitäter gebeten, sie ins Haus Lukas zu bringen. Hier im Schau ins Land haben Sie ja einen schönen Ausblick, wenn nachher die Illumination, also diese Projektion überm Bodden, beginnt. Und Frau Bradhering meinte, sie würde Ihnen auch nachher noch Gesellschaft leisten. Sie ist ja die ganze Zeit nicht von Ihrer Seite gewichen.«

      Zimmermann erhob sich ein wenig von seiner Lagerstatt. Blickte aus dem Fenster. Wandte den Kopf. Erblickte Lore. Schöne Aussichten. »Aber das ist doch selbstverständlich. Und, so viel werde ich schon nicht verpasst haben. Wobei ich die Frau Merkel ja schon gerne einmal kennengelernt hätte.«

      Lore Bradhering kam näher und setzte sich nun aufs Bett. Um ein Haar hätte sie Zimmermanns Hand ergriffen.

      »Aber den Höhepunkt haben wir doch alle verpasst, liebe Frau Bradhering. Die Ansprache des guten Herrn Zimmermanns. Ansonsten wurde ja wirklich viel geredet. Ein bisschen zu viel. Der Bürgermeister. Die Ministerin. Die Kanzlerin. Johannas Festvortrag. Das hat sich ganz schön hingezogen. Dann noch die Performance. Die Musik. Das viele Essen … Apropos, der Kempowski holt Ihnen gerade was. Und ich muss leider wieder … mich um die Lichtkunst kümmern.« Wahnschaffe winkte kurz und war verschwunden.

      Verpasst? Zimmermann glaubte, dass seine kleine Unpässlichkeit durchaus zur rechten Zeit gekommen war. Allerdings, zwei Dinge hätte er doch gerne getan: den Handwerkern zuprosten. Auf ihr Werk anstoßen. Und ein, zwei halbe Mettbrötchen dazu. Doch vielleicht dachte Kempowski daran und stellte sein Carepaket nicht nach diätischen oder sonstigen gesundheitsorientierten Aspekten zusammen. Er hatte schon ein bisschen Hunger, was er als gutes Zeichen deutete. Ansonsten bestätigte ihn der Vorfall darin, dass es für ihn Zeit war, nach Halifax zurückzukehren. Deutschland war ihm eindeutig zu turbulent.

      »Na, mein Freund. Wieder wach? Hast uns ja einen gehörigen Schreck eingejagt. Aber das hier bringt dich wieder auf den Damm.« Kempowski tauchte in der Tür auf, trat ein und stellte einen wahren Rotkäppchenkorb ab. Wahrlich märchenhaft. Zimmermann erblickte nicht nur die erhofften Mettbrötchen, sondern auch drei, vier Flaschen der bekannten Prerower Brauerei. Sowie ein paar Wiecker Wickel zum Dessert. Lore war bereits unterwegs, Teller und Servietten zu holen. Plötzlich plätscherten Ostseewellen durch den Raum. Es erklang die Melodie von Müller-Grählerts Heimatlied.

      »Och nö, wo es gerade gemütlich wird …« Mit entnervter Miene holte Kempowski sein singendes Smartphone hervor. Müller-Paul hatte ihm den Klingelton aufgespielt. »Kempowski, ja bitte! – Ach, du bist es, Wilhelm, wir haben dich …« Weiter kam er nicht. Der Anrufer ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. Dafür erbleichen. Nach endlosen Minuten beendete er das Gespräch: »So eine Scheiße! Ja, mache ich. Versprochen. Bin schon unterwegs.« Er steckte das Gerät ein. Stand auf. Fuhr sich durchs Gesicht. Schaute ins Land. Dann auf Zimmermann. Verlegen. Nervös. »Ich muss los. Hakala-Holappa hat ein Problem. Alles andere später.«

       7. Dummer August

      Hakala-Holappa. Endlich! Über zwei Stunden hatte Kempowski für die gut 20 Kilometer von Ahrenshoop bis zum Treffpunkt benötigt. Zwar war der Verkehr von Altheide aus über Ribnitz-Damgarten umgeleitet worden, doch Wilhelm wünschte ja, direkt abgeholt zu werden. Am Meilenstein. Dem Obelisken an der Bundesstraße. 2 Meilen nach Rostock. Früher hatte sich Kempowski manches Mal darüber gewundert, wie lange sich doch zwei Meilen hinziehen können. Auch wenn jene Meile aus alten Postkutschentagen etwa 7,5 Kilometer heutiger Messung entsprach. Doch noch nie hatte die Fahrt so lange gedauert wie heute. Nicht einmal in der Hochsaison oder bei besonderen Veranstaltungen in Karls Erlebnis-Dorf.

      Inzwischen war wenigstens die vollständige Sperrung aufgehoben worden. Sämig quälte sich die Karawane voran. Von Polizisten auf der Gegenspur an der Unfallstelle vorbeigeführt. Glasscherben. Ein Außenspiegel. Abgestreute Lachen. Öl oder Benzin. Die Rettungswagen hatten inzwischen das Feld geräumt. Den Hubschrauber hatte Kempowski vor geraumer Zeit abdrehen sehen. Es musste mächtig gekracht haben!

      Vorsichtig manövrierte Kempowski den Wartburg am Schauplatz des Schreckens vorbei. Hielt hinter Warnleuchten und Leitkegeln. Stieg aus. Sah, wie der Freund sich von Warnwesten verabschiedete. Hörte sein »Dann werde ich mal. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können. Rufen Sie mich bitte sofort an, wenn Sie neue Informationen haben! Wenn …« Hörte das Zittern in seiner Stimme. Dabei sah er gar nicht so schlimm aus. Lediglich der rechte Arm schien etwas abbekommen zu haben. Das Handgelenk war bandagiert und nun von einer Schlinge getragen. Doch sehr blass, das Gesicht. Leichenblass. Er ging ihm entgegen. Stützte ihn. Half ihm beim Einsteigen.

      »Danke, mein Freund. Danke, dass du so schnell gekommen bist.«

      »Schnell? Nun ja. Aber erzähl doch mal, was genau passiert ist! Vorhin habe ich nur die Hälfte verstanden.« Kempowski startete den Motor. Versuchte zu wenden.

      »Ja, sicherlich. Aber lass mir noch einen Moment! Vielleicht können wir da vorne irgendwo spazieren gehen. Ein Stückchen. Da bei diesem Jagdschloss. Das wollte ich ja schon immer mal sehen. Perkele. Vittu Saatana Perkele. Dieser gottverdammte Gurt.« Wilhelms Lieblingsfluch. Das R gerollt. Kempowski hatte das noch nicht so oft von ihm gehört. Erfüllte daher seinen Wunsch. Schnallte ihn an. Fuhr noch ein Stück. Bog ab. Schlängelte zur einstigen Sommerresidenz Großherzogs Friedrich Franz III. zu Mecklenburg. Malerische Mixtur aus englischem Landhaus und russischem Bojarensitz. Neogotik mit einer Prise Romanow. Eine stilvolle Kulisse für dramatische Szenen.

      Hakala-Holappa zog es aber weiter in den Herbstwald hinein. Laubrascheln. Leichtes Frösteln. Im Hintergrund ein letzter Hirsch. Dabei war die Brunftzeit eigentlich schon vorüber.

      Sie schlenderten stumm voran. Es dauerte beinahe eine halbe Stunde und etliche Zigaretten, bis Hakala-Holappa den Pfad zum Beichtstuhl fand und zu erzählen begann. »Ich habe wirklich Riesenmist gemacht. Einen richtigen Bock geschossen. Einen kapitalen. In jeder Hinsicht. Allein schon diese Idee mit der Katharsis. Der Konfrontation. Idiotisch!« Ausführlich schilderte er nun seinen Plan, wie er Hans von Wustrows Schweigen hatte brechen wollen. Holte aus. Erzählte von den Vorbereitungen. Den erfreulich wie erstaunlich leicht einzuholenden Genehmigungen. Der Fahrt. Der Exkursion durchs Ahrenshooper Holz. Ließ auch das Lied nicht aus. »Bajuschki baju …« Ebenso wie von Wustrows Reaktion. Das Scheitern des Experimentes. Den Rückzug. »Doch, einfaches Versagen reicht einem Hakala-Holappa ja nicht aus. Daher kam mir dann noch die absurde Idee, einen Abstecher zur Büdnerei in Niehagen zu machen. Weißt du, jenem verfallenen Häuschen … Doch auch das war ein Reinfall. Kein Wort hat er gesagt. Nur plötzlich gelächelt, als ob er eine Vorahnung haben würde. Als ob er schon gewusst


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