Ahrenshooper Narrenspiel. Tilman Thiemig
weiß ich? Auf jeden Fall war er dann da. Wie aus dem Nichts tauchte dieser Höllenhund ein paar hundert Meter hinter Altheide auf und lief dann über die Straße. Direkt in den Gegenverkehr. Direkt vor den Sprinter. Irgendein Paketdienst. Hetzen ja allerorten durch die Gegend. Immer in Hektik. Und der Fahrer hat auch wirklich blitzschnell reagiert. Das Lenkrad herumgerissen. Ist ausgeschert. Anstatt den Hund einfach mitzunehmen. Und so in unseren Bus geknallt. Was für ein Geräusch! Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Habe erst dadurch mitbekommen, was passiert ist. Die Büchse hat ja keine Fenster im Fahrgastraum. Auf jeden Fall hat der Niemann, also unser Fahrer, auch noch ausweichen wollen, was ihm nur bedingt geglückt ist. So sind wir dann nach rechts in die Böschung. Dann der Überschlag. Das Herumwirbeln. Arme. Beine. Körper. Herumgeschleudert. Gegen den Holm. Zu Boden. Zur Decke. Der Schmerz im Arm. Im Handgelenk. Der Schreck. Die Schreie. Das Jammern. Wimmern. Vom Schildknecht. Und im Kopf minutenlang ein schwarzes Loch. Minutenland. Schweben durchs Minutenland. Die Finsternis. – Bis die Seitentür geöffnet wurde. Die nun das Dach bildete. Durch die Celinski hereinschaute. Mit blutiger Stirn. Einer mächtigen Brusche, ansonsten aber erstaunlich wohlauf. Energisch. Entschlossen. Hilfsbereit. Was ihm zum Verhängnis geworden ist. Uns. Mir.« Hakala-Holappa brach ab. Setzte sich auf einen Baumstamm am Wegesrand.
Kempowski malte sich aus, was sich anschließend ereignet haben musste. Er konnte sich Celinskis Dilemma vorstellen. Zwei schwer verletzte Kollegen. Ein ebensolcher Unfallgegner. Eingeklemmt. Im Sprinterwrack. Ein leicht verletzter Hakala-Holappa. Der war aber keine große Hilfe in dieser Situation. Rauchentwicklung im Motorraum. Und – Hans von Wustrow. Anscheinend unverletzt. Verständlich also, dass Celinski ihn der Handschellen entbunden hatte, damit er ihn bei der Rettung Schildknechts unterstützt. Was von Wustrow auch tatsächlich getan hatte. Wer mochte es dem Mann von der JVA verdenken, dass er sich zunächst weiter um den Schwerverletzten gekümmert hatte? Vorrangig. Und darüber schlichtweg versäumte, den Gefangenen wieder zu fixieren …
»Und das ist ja das Fatale an der ganzen Situation. Dass Celinski mit seiner Entscheidung, seinem Eingreifen wahrscheinlich Schildknecht das Leben gerettet hat. Wie in einem griechischen Drama. Schicksal.« Hakala-Holappa hatte den Gesprächsfaden wieder aufgenommen. Bestätigte Kempowskis Mutmaßungen. Bestätigte dessen Befürchtungen. »Er hat ihn ja auch noch im Auge behalten und gesehen, wie sich der Alte um Niemann gekümmert hat. Der war da gerade kollabiert. Und von Wustrow hat sogar gute Arbeit gemacht. Erste Hilfe geleistet. Stabile Seitenlage. Die Zunge. Alles richtig gut. Doch dann …«
»Wollte Celinski auch dich noch aus der Büchse holen, weil der Qualm stärker wurde. Und statt zum Feuerlöscher …«
»… hat er in die Scheiße gegriffen. Den Finnen gerettet. Die Büchse der Pandora geöffnet. Woher wusstest du …?« Kempowskis Intuition überraschte Hakala-Holappa.
»Ich kenne das Leben, die Menschen, das Schicksal.« Bedeutungsvoll zog Kempowski an seiner Zigarette, ließ den Rauch aufsteigen und folgte dessen Auflösung.
»Dann weißt du sicherlich auch, wo von Wustrow jetzt ist. Wo er hinwill. Was er vorhat. Und ob er die Waffe benutzen wird. Niemanns Dienstpistole …«
»So gut nun auch wieder nicht. Leider. Aber wir sollten zurückfahren, um mit Zimmermann und den anderen Freunden zu sprechen. Außerdem muss ich dir auch noch etwas erzählen, eher beichten. Doch nun los! Es ist spät geworden. Dunkel.«
8. Oskar Matzerath
Er liebte das Dunkel. Die Nacht. Nachtfalter und Nachtgestalten. Nachtkerze und Nachtgetier. Seine Freunde. Gefährten. Schon als kleiner Junge hatte er sich im Finsteren zu Hause gefühlt. Oft auch am Tage die Augen geschlossen. Um daheim zu sein. Im Land der kleinen Blicke. Im Schattenreich. Wo er sich sicher war. Um die Schritte wusste. Die Spuren. Die Wege. Die zu beschreiten waren. Die Dinge, die zu tun.
Wie eben. Vorhin. Wie lange war es her, seitdem er den Wagen verlassen hatte? Die Männer. Den Unfall. Eine Stunde? Zwei vielleicht? Oder mehr? Es kam ihm vor wie Tage. So viel Freude hatte er seitdem empfunden. Glück womöglich. Laut gelacht, gesungen, gejuchzt, lauthals. Aber ganz leise, nur in seinem Kopf. Er wollte die Lippen nicht öffnen. Nicht sprechen, plaudern, quasseln, dummes Zeug quatschen. Wie der Doktor es wollte. Und der andere Mann. Der mit dem komischen Namen. Auch wenn er es konnte. Er war ja nicht krank. Nein, ganz und gar nicht. Aber er hatte ein Gelübde abgelegt. Vor seinem Vater. Für seinen Vater. Dass das keiner verstehen konnte? Warum ließ man ihn nicht einfach in Ruhe? Immer diese Gespräche, Fragen, Quälereien, Verhöre, Versuche. Wie diese Fahrt ins Holz, die dann zur Reise in die Welt werden sollte. Für ihn. Wie gut, dass der Hund gekommen war und sein Bitten, sein Flehen, seine Gebete verstanden hatte. Ein Freund, der ihn kannte. Schon immer gekannt hatte. So wie der Franck im Gefängnis. Und die Vögel. Davor. In der kleinen Freiheit. Sie machten sich auch nichts aus Worten. Hörten ihm trotzdem zu. Einfach so. Schauten ihn mit verständnisvollen Augen an. Verständnis, das auch die Hunde hatten, die ihm nun folgen sollten. Er hatte sie schon in der Ferne gehört, hatte gewusst, dass sie ihn suchen würden. Dass die Polizei unterwegs war. War daher den Weg der Wechsel gegangen. Nach Norden zunächst. In den Westen dann. Später gen Süden. Er war ein guter Läufer, ein Waldläufer, Lederstrumpf. Schon immer gewesen. Das Holz, der Darß – sein Revier. Und nun eroberte er die Rostocker Heide. Nein, er war kein Gejagter, kein Freiwild. Er war der Jäger, der Freischütz. Der auch um die Kanzeln wusste, die Ansitze fand, eine Hütte sogar. Und dort das Notwendigste: trockene Kekse, eine Wurst, Wasser, Wodka, Feuerzeug. Eine neue Garnitur: Lodenjacke und Kniebundbuxe. Bei ihm jedoch knöchellang.
Kurz hatte er überlegt, ob er die alten Sachen verbrennen sollte, sie dann aber doch im Stall versteckt. Dort, wo er das Rad entdeckt hatte, das er nun schob. Noch. Das Bellen der Hunde war leiser statt lauter geworden, kaum noch zu hören. Die Meute der Verfolger schien Richtung Norden zu ziehen. Zur Küste, wie er es gehofft hatte. Vielleicht glaubten sie ja, dass es ihn zum Fischland zog? Auf den Darß? Nach Ahrenshoop. Born. Bliesenrade. Prerow. Wieck. Täter und Tatort. Tatorte. Aber er folgte seinen eigenen Spuren, die ihn zunächst weiter in den Süden führten, wo der Wald sich lichtete. Aber noch nicht die Nacht, die ihn nun unter Schwarzhimmel empfing. Kein Mond zu sehen. Kein Stern. Finsterwolken. Pechrabenschwarz. Nur weiter voraus ein paar Lichter. Ein Dorf, klein. Rostocker Wulfshagen. Wie ihm die Karte verriet.
Nun stieg er aufs Rad, machte Strecke. Und einen Bogen um die Handvoll Häuser. Er hatte alles, was er brauchte. Genügend Proviant und einen Schlafsack auch. Nur ein passendes Quartier fehlte noch. Jetzt wäre es Zeit für einen weiteren Hochsitz. Geschlossen. Es fing zu regnen an. Er radelte schneller einem weiteren Waldrand entgegen. An einem Gehöft vorbei. Menschenleer. Weiter in Treckerfurchen. Der Regen wurde vom Wind getrieben zu Hagel. Einem Sturm. Er hielt an, suchte Schutz unter dem ersten Baum und hörte dem Tanz der Lüfte zu. Wunderte sich, dass Jacke, Hose, Haare trocken, ungeachtet, dass es wie aus Kübeln goss. Hörte Hufschlag. Galopp. Das Rollen großer Räder. Eisenbeschlagen. Eine Peitsche. Stimmen. Menschen. Das »Hü, hüja, hüh!« des Kutschers. Eine weinende Frau. Ein grobes »Koom bi mi, du Suddelmaars! Koom!« Männergrob. Dann wieder Gebrause. Getöse. Zerbrechende Äste. Das Weinen.
Ein mächtiger Schatten näherte sich ihm. Schoss vorbei in den Wald. Dann: Stille. Vollkommene Ruhe. Plötzlich, von einer Sekunde zur nächsten, kein Regen mehr, kein Hagel, keine Kutsche, kein Sturm. Nur ein ganz leiser Ton. Ein Schluchzen. Zu seinen Füßen ein Mädchen. Noch keine zwanzig Jahre alt. Zitternd. Das Haar blutverschmiert. Ebenso ihre Kleidung. Ihre? Er schaute genauer hin. Untersuchte den Stoff. Jacke und Hose. Erkannte das Zeichen der Haftanstalt. Das Wäschezeichen. Seinen Namen. Ja, es waren die Stücke, die er gestern Morgen in Waldeck angezogen hatte. Wie konnte das geschehen? Er hatte sie doch so gut versteckt. In der alten Plane eingewickelt. Und, was war mit der jungen Frau passiert? Wo war die Kutsche geblieben? Nur einmal hatte er Ähnliches erlebt. In einer Sommernacht. Vor Jahren auf dem Friedhof von Prerow. Dort, wo er ihr begegnet war. Dem kleinen Gretchen, das mit ihm spielen wollte. Verstecken. Zwischen den Gräbern. Und dann mit ihm zum Lied der Nachtigall getanzt hatte, bis sie zu husten anfing. Immer stärker. Bis sie verschwunden war. Sich in Luft aufgelöst hatte. Wortwörtlich. Vor seinen Augen. Wie Rauch. Ebenso wie eben das Fuhrwerk. Doch Gretchen hatte ein schönes Kleidchen getragen. Aus Kaisers Zeiten. Nicht seine