Ahrenshooper Narrenspiel. Tilman Thiemig
er dennoch für mehr als genug Aufmerksamkeit. An der Ecke zum Schifferberg mussten sie zudem noch eine größere Reisegruppe passieren, die wohl das neue Museum suchte. Den Partikel-Hof. Heute war ja der große Tag: das Richtfest.
Die kleine Strafparade ließ aber alle Blicke von aufgeschlagenen Karten und Smartphonedisplays aufschrecken. Man stupste sich an. Sog den ungewöhnlichen Anblick geradezu ein. Genoss ihn. Überschlug sich mit Kommentaren. Mutmaßungen. »Ob das ein Attentäter ist?« – »Hat das was mit der Kanzlerin zu tun? Die will ja auch kommen.« – »Mutti? Na, nur gut, dass sie den haben!« – »Sieht aber gar nicht aus wie so ein Islamist …«
Hakala-Holappa verzichtete auf Kommentare. Bloß weg! Nun sah er auch noch aus den Augenwinkeln einen Wagen aus Richtung Born herankommen. Einen bekannten Wagen. Einen alten Wartburg. Im Zweifarbendesign. Braun und beige. Als Cabrio. Kempowskis ganzer Stolz. Rasch in den Bus! Fort von hier ist unser Ziel …
6. Dagonet
Zimmermanns Ziel war es gewesen, um einen persönlichen Auftritt beim Richtfest herumzukommen. Auf eine Ansprache zu verzichten. Es würde genug geredet werden. Mit Sicherheit. Davon hatte ihn der Blick auf das sorgfältig konzipierte Programm überzeugt. Das Team vom Partikel-Hof war jedoch anderer Ansicht gewesen. Hatte einhellig darauf bestanden, dass er sich in den Reigen der Festredner einreihte. Sicherlich, das würde er schon schaffen. Vielleicht mit einer Erinnerung an die Stunden in Partikels Atelier verbunden, die er damals sehr genossen hatte. Den Blick auf die Bilder des Malers. In allen Stadien des Werdens. Wachsens. Den Geruch nach Farben und Terpentin. Dem Kakao von Tante Doro. Trotzdem hatte er ein wenig Lampenfieber. War unruhig. Ob das an der Begegnung mit der Kanzlerin lag, die sich ja angekündigt hatte? Sogar ein Gespräch mit ihm wünschte. Eigentlich eher nicht. Zumal er die Dame schätzte, gar sympathisch fand, was er ansonsten von nur wenigen Personen aus dem Dunstkreis der Politik sagen konnte.
»Schau mal, die Jungs haben schon Position bezogen. Obwohl, sieht eigentlich gar nicht so aus wie ein Einsatzwagen. Komische Karre …« Kempowski wies auf ein Fahrzeug am Straßenrand. Ecke Schifferberg.
Er hatte Zimmermann mit seinem Wartburg abgeholt. Sonntag und Lore Bradhering wollten später nachkommen. Zimmermanns Wirtin fühlte sich nicht. War außerdem beleidigt. Gekränkt. Er hatte sich inzwischen durchgerungen, ihr seine baldige Abreise zu beichten. Ihre Reaktion war eindeutig gewesen. Ein Wandteller von Tante Wilhelm. Von der Wand gefegt. Mit links. Ein Scherbenmeer. Wie ihre Freundschaft?
Entsprechend gedanklich beschäftigt hatte Zimmermann Kempowski nur mit halbem Ohr zugehört. Komische Karre? Ihm war nichts aufgefallen. Dafür sah er den komischen Kerl aus Wieck wieder. Den Mann in Schwarz. Man in black. Mit Helm und Sicherheitsweste in Schrillgelb. Ein Zeichen? Ein Déjà-vu?
»Ach guck, der Käfer. Hast du den schon kennengelernt? Ist ja unser Architekt. Heißt eigentlich Gregor Kafka. Da muss er sich über solchen Nökelnaam nicht wundern. Hat er sich ja auch ausgesucht. Freiwillig. Ist ein geborener Müller. Den Namen hat seine Frau mitgebracht. Genau wie das Architekturbüro.« Kurz vor der Schifferkirche hupte Kempowski schnell zur Begrüßung.
Der Baumeister drehte sich zunächst rasch um und schaute zornig. Flüchtig zeigte er einen bestimmten Finger, bevor er den Wagen und den Fahrer erkannte. Und freundlich strahlte. Wie ausgewechselt. In Sekundenschnelle. Die rechte Hand nun ein Peacezeichen.
Manche Radfahrer auf dem Darß waren Zimmermann schon ein bisschen unheimlich. Allerdings war er insgeheim froh, dass das Geheimnis des bislang Unbekannten so rasch gelüftet werden konnte. Er wollte seine letzten Tage hier in Ruhe verbringen. In Ruhe und Frieden. Ganz in Ruhe. Darum hatte er auch um eine persönliche Führung gebeten, um sich den Bau vor dem großen Festakt zeigen zu lassen.
Die übernahm nun der Käfer, obgleich er Zimmermann ja eher wie eine Biene erschien. Oder Wespe. Gar als Hornisse, wenn er gereizt. In seiner Radlerrüstung, von der er sich inzwischen jedoch befreit hatte, um Kempowski und Zimmermann ein weiteres Mal zu begrüßen. Jetzt mit Handschlag. Dann mit einladender Geste. Zum Bodden! Den Paetowweg entlang, am gleichnamigen Hof vorbei. Der alte Paetow, Friedrich mit Vornamen, der einst um 1871 das Gehöft erworben und als Bauer geführt hatte, weilte längst auf der anderen Seite.
Ob er seine letzte Ruhe am sanften Hang gefunden hatte? Gleich vis-à-vis? Vielleicht würde Zimmermann später dem ruhigen Ort im Schatten der Schifferkirche noch einen Besuch abstatten. Nun forderte jedoch die Zukunft seine ganze Aufmerksamkeit.
Die Gregor Kafka mit kurzweiligen wie feinsinnigen Ausführungen würdigte. Es überzeugte Zimmermann, was er hörte, sah, erahnen konnte. Was dort entstand. Schon der Grundriss hatte es in sich: ein Oktagon. Alle Achtung! Das Achteck – Urbild des achtstrahligen Sterns. Seit der Antike, dem Athener Turm der Winde Symbol baulicher Vollkommenheit. Die setzte sich im Inneren des entstehenden Museums fort. Wo künftig ein großzügiges Entree die Besucherscharen empfangen, leiten und weiterführen würde. In die verschiedenen Bereiche. Präsentationen. Geradeaus zur Sammlung mit den Arbeiten Alfred Partikels. Das Herz des Hofes. Flankiert von den vier anderen Ausstellungsbereichen, die zunächst noch mit Arbeitstiteln etikettiert waren: Vor Ort – Regionale Randerscheinungen. Verfolgt – Kunst im Kampf. Zu Besuch – Verschwundene aus aller Welt. Miteinander – Arbeiten im Gespräch.
Das Team hatte ihm gestern die jeweiligen Schwerpunkte bereits ausführlich vorgestellt. Den Rhythmus der Ausstellungen ebenso wie die Inhalte. Zahllose Namen waren gefallen, von denen ihm kaum einer bekannt. Doch so sollte es ja sein: Im Partikel-Hof jene Künstlerinnen und Künstler vorzustellen, die aus dem Bewusstsein des Publikums, dem Interesse der öffentlichen Wahrnehmung nahezu verschwunden. Es womöglich nie geschafft hatten, in jenem gespiegelt zu werden. Jeweils auf zwei Ebenen präsentiert. Verbunden mit Wendeltreppen sowie einem gläsernen Aufzug. Barrierefrei nannte man das jetzt. Wann würde Zimmermann auf diese Freiheit zurückgreifen müssen? Wahrscheinlich schon bald. Doch jetzt noch nicht.
Daher entschloss er sich im Anschluss zu einem kurzen Abstecher zum Schifferfriedhof. Er dankte Kafka für dessen Zeit, vor allem für seine großartige Arbeit, und floh dem Ort, der sich immer mehr mit Leben füllte. Technik wurde installiert. Stühle aufgestellt. Häppchen und Getränke arrangiert. Der Partikel-Hof rüstete sich für seinen ersten großen Auftritt. Zimmermann wanderte gegen den Strom. Die Wellen der diversen Servicekräfte. Erste Schaulustige und Medienvertreter. Auch Müller-Paul, Riese, Seegers und Wahnschaffe, die vier »Hofdamen«, sah er emsig hin und her wuseln. Geschäftig. Besprechend. Telefonierend. Er winkte, grüßte knapp, freundlich, schwang seinen Gehstock und entschwand. Er würde erst kurz vor seiner geplanten Ansprache zurückkehren. Bis dahin suchte er das Zwiegespräch mit den Verstummten.
Obgleich bereits im 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, hatte Ahrenshoop erst 1872 einen eigenen Friedhof erhalten. Drei Tage nach dem Ende der großen Sturmflut jenes Jahres war dort am 13. November die erste Beisetzung erfolgt: ein Mädchen namens Albertine Kirchner. Keine drei Jahre alt.
Der Gottesacker auf der Düne vorm Schifferberg wurde bald ein beliebtes Motiv der Künstler, die etwa zu jener Zeit das Dorf für sich entdeckten. Allen voran Paul Müller-Kaempff. Mit seinem großen Gemälde hatte er dem Ort ein Denkmal gesetzt. Zimmermann mochte das Bild. Ein zartes Memento mori. Der Maler und seine Frau Else ruhten nun auch hier. Erst vor wenigen Wochen waren ihre Urnen und der Grabstein aus Berlin überführt worden. Sie befanden sich jetzt in guter Gesellschaft: Elisabeth von Eicken, die Schwestern Gerresheim oder Ernst Schaumann, ein Landsmann Partikels aus Königsberg, den ebenfalls ein besonderes Ende ereilt hatte. Starb er doch 1955 beim Malen in Pramort, dem östlichen, einsamen Zipfel der Halbinsel. Auch an einem Oktobertag.
Zimmermann fröstelte. Er schritt weiter. Schlenderte sich durch das »Who’s Who« der Künstlerkolonie. Auch wenn manch einer, manch eine unter anderer Erde der Ewigkeit wartete. In Wustrow zum Beispiel. Wie Dora Koch-Stetter. Ihr Mann Fritz Koch-Gotha. Frida Löber. Die Miethe. Müller-Paul hatte einmal davon erzählt. Ausführlich.
Ach ja, Koch-Gotha. Der kleine Robert Aaron Zimmermann hatte dessen »Häschenschule« geliebt. Allerdings hatte ihm der Fuchs Angst gemacht, bis in seine Träume verfolgt. Der alte böse Fuchs.