Magie am Hof der Herzöge von Burgund. Andrea Berlin
etwa zu fragen sein, inwieweit die Ereignisse Auswirkungen auf das Verhältnis das Grafen von Étampes zu Herzog Philipp dem Guten und seinem Sohn hatten, aber auch, welchen Stellenwert dieses Verhältnis für die zu dieser Zeit ohnehin schon problematische Beziehung des Grafen von Charolais zu seinem Vater hatte. Die angespannte Situation zwischen dem Herzog von Burgund und seinem einzigen Erben führt für diese Untersuchung zu der Annahme, dass die Reaktionen Karls insbesondere durch seine prekäre Machtsituation und das Verhalten seines Vaters bedingt waren. Ein Fokus soll zudem auf die Frage nach einer konkreten Instrumentalisierung des Prozesses durch den Grafen von Charolais und die damit verbundenen Konsequenzen für den Grafen von Étampes gerichtet sein.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht folglich die Aufarbeitung des Prozessgeschehens in seinen politischen Konstellationen und seine Kontextualisierung in der burgundischen Hofgesellschaft sowie den magischen Vorstellungswelten seiner Zeit. Nach einem kurzen Literatur- und Quellenüberblick soll zunächst zur besseren Einordnung der Befunde ein resümierender Blick auf die burgundische Geschichte des 15. Jahrhunderts geworfen und ein Überblick über die Forschung zu politischen Prozessen und dem crime de lèse-majeté, dem Majestätsverbrechen, gegeben werden, bevor – nach einer biographische Skizze zum Grafen von Étampes und seinem Wirken am burgundischen Hof – die Darstellung des Prozesses erfolgt.
1.1. Quellen und Literatur
1.1.1. Quellenlage
1.1.1.1. Der Processus contra dominum de Stampis
Im Mittelpunkt dieser Studie steht ein Konvolut von Abschriften aus dem späten 15. Jahrhundert, das man als Ganzes nach einer Notiz auf dem Umschlagblatt als Processus contra dominum de Stampis bezeichnen kann. In diesem frühen Vertreter des Aktenzeitalters werden Schriftstücke verschiedener Provenienz zu dem besagten Gerichtsprozess (hier: kopial) zusammengeführt.4 Der Forschung war dieses Material bislang gänzlich unbekannt, was eine Konsequenz aus der Überlieferungssituation ist. Ursprünglich dem Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies (AOGV) zugehörig ist es vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem AOGV entliehen und nicht zurückgegeben worden. Ein Konvolut mit Unterlagen von Payer von Thurn, in dem sich die Akte fand, erwarb der Doktorvater der Autorin, Dieter Scheler, in den 1960er Jahren im Wiener Antiquariatshandel.5 Die Prozessakten wurden im März 2013 wieder an das Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies zurückgegeben, wo sie im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien unter der Signatur HHStA, AOGV, Akten, Karton 5, Dossier: Ausschließung Nevers (Türck’sche Systematik 2. Partie, § 2, 11 C) zu finden sind.
Der Processus liegt mit dieser Arbeit erstmals vollständig ediert und kommentiert vor. Zur Erschließung dieses außergewöhnlichen Stücks burgundischer Rechts- und Politikgeschichte waren aber selbstverständlich weitere archivalische und gedruckte Quellenbestände aus den ehemaligen burgundischen Landen, in der Hauptsache also aus Archiven und Bibliotheken des heutigen Frankreichs und Belgiens, heranzuziehen.
1.1.1.2. Herangezogene Archivbestände
Zur Erschließung einzelner Aspekte in der Prozesshandschrift, besonders aber zur Analyse des Verhältnisses des Grafen von Étampes zum burgundischen Hof und zu Ludwig XI., konnten die französischen Archive nützliches Material liefern. Statt auf viele einzelne, sei hier einführend besonders auf die Aufsätze von Pierre Cockshaw, Bertrand Schnerb oder Sébastien Hamel verwiesen, die zur Orientierung in der burgundischen Archivlandschaft zu empfehlen sind und auf zahlreiche weiterführende Literatur hinweisen. Für die deutschsprachige Suche sollen hier beispielhaft Werner Paravicini, Holger Kruse und Sonja Dünnebeil genannt werden.6
Insbesondere sind hier die Bestände der Archives départementales du Nord in Lille hervorzuheben. Dort steht mit den sogenannten Écroes (escroes), die in der französischen Forschung häufig als états journaliers bezeichnet werden, eine Quellengattung zur Verfügung, die unter anderem auch die Zeit des Grafen von Étampes am burgundischen Hof betrifft.7 Sie werden von der historischen Forschung vor allem in zwei große Gruppen unterteilt, nämlich die escroes de la despense (de bouche), also die Sachausgaben, und die escroes des gaiges, die Tagegelder oder, wenn man so will, Personalausgaben. Bei den escroes de gaiges muss man allerdings – wie Paravicini bereits anmerkte – in Rechnung stellen, dass diese zwar prinzipiell den gesamten Hofstaat des entsprechenden Tages verzeichnen, dies allerdings nur insofern, als auch Tagegelder bezogen wurden. Personen, die sich auf Dienstreise befanden oder anderweitig Geld von einem jeweils anderen Hof erhielten, tauchen in diesen Listen nicht auf. Auch Unregelmäßigkeiten können vorkommen.8 Die Bestände nicht nur in Lille, sondern auch an anderen Orten haben zudem unter starken Verlusten gelitten, sodass man nur mit einer lückenhaften Überlieferungssituation arbeiten kann. Für den Grafen von Étampes etwa sind zwar Écroes der 1440er und 1450er Jahre überliefert, aber auch diese sind offenbar nicht vollständig erhalten.9
Neben den Écroes gibt es noch einen weiteren Quellenbestand in den Archives départementales du Nord, der den Grafen von Étampes direkt betrifft. Unter der Signatur Cumulus wird unter anderem Rechnungs- und Verwaltungsschriftgut für die Picardie aus den 1450er Jahren verwahrt. Diese Bestände sind noch größtenteils unerschlossen. Lediglich Marie Thérèse Caron hat den Bestand stichprobenhaft für ihren Aufsatz über den Grafen von Étampes verwendet.10
Die Bestände der Archives départementales du Nord konnten schließlich drittens für nähere Untersuchungen das Bistum Cambrai betreffend genutzt werden. Einige der einschlägigen Texte sind allerdings nur in Abschriften des 17. Jahrhunderts erhalten. Die gesichteten Dokumente gaben sowohl Aufschluss über den Bischof von Cambrai, der die Untersuchungskommission des Processus contra dominum de Stampis eingeleitet hatte, als auch über rechtliche Vereinbarungen, die das Bistum mit Herzog Philipp dem Guten getroffen hatte, sowie den Verbleib der Komplizen des Grafen von Étampes, Jean de Bruyère und Charles de Noyers.
Die im Zuge der Recherchen aufgesuchten weiteren regionalen Archive konnten hingegen nur vereinzelte Aspekte zum Wirken des Grafen von Étampes beleuchten. Die Archives départementales du Côte d’Or in Dijon erlaubten kleinere Einblicke in die Förderung des Grafen durch Philipp den Guten, die Archives départementales de Nièvre liefern hinsichtlich des Grafen von Étampes insbesondere Informationen zu seiner Tätigkeit als Graf von Nevers seit 1464. Die auch insgesamt vergleichsweise spärliche Überlieferungssituation ist, wie bei so vielen französischen Départementsarchiven, auf einen Brand aus den Revolutionsjahren – in Fall der Archives départementales de Nièvre im Jahre 1793 – zurückzuführen, bei dem besonders die Akten der Rechnungskammern und damit wichtige Zeugnisse der spätmittelalterlichen Verwaltungsgeschichte verloren gegangen sind.11
Auskünfte über das Wirken des Grafen im Gebiet der Somme-Städte konnte die Bibliothèque municipale d’Amiens geben. Zudem konnten zwei der im Processus benannten Edelleute durch Texte dieses Archivs näher identifiziert werden.
Größere Bestände den Grafen von Étampes betreffend finden sich schließlich in den Archives nationales in Paris, hier insbesondere die Bestände AN J und AN K. Sie liefern Informationen zur Rolle Johanns von Burgund während der Guerre du Bien Public, aber auch zu den nach seinem Tode sich entwickelnden Erbstreitigkeiten zwischen Jean d’Albret, Seigneur d’Orval, und dessen Ehefrau Charlotte de Bourgogne gegen Engelbert von Kleve.12 Zuletzt müssen auch die archivalischen und gedruckten Bestände der Pariser Bibliothèque nationale erwähnt werden, in deren Beständen