Frankfurter Einladung 2. Группа авторов
Die Aufzugtür schloss sich hinter mir, klinkenlos, kein Entkommen, und mit einem Ruck ging es nach oben. Der Kloß in meinem Hals wurde nicht kleiner, während ich die Stockwerksanzeige beobachtete: Hinter den vielen Zahlen leuchtete jeweils ein Licht, aber es bewegte sich nicht kontinuierlich nach oben wie die Kabine selbst. Nein, das Licht spielte Ping-Pong, hinauf, hinunter, fröhlich und ohne erkennbares System. Wenn ich je da oben ankomme, schwor ich mir, und vielleicht sogar heil wieder runter, werde ich vor nichts mehr Angst haben.
Das Vorstellungsgespräch verlief dagegen außerordentlich gut. Von nun an würde ich also jeden Tag in einem dieser Aufzüge fahren, lange Zeit noch starr und mit klammem Blick auf die Zahlen. Doch, von nun an war ich verliebt. Verliebt in die Aussicht von ganz oben über die Frankfurter Skyline, die ich jeden Tag gratis bekam. Ich thronte jetzt wie in einem Hochsitz über der großen Stadt. Die Seminarräume zeigten alle nach Norden, boten exklusiven Feldberg-Blick; die Büros lagen hingegen zur Südseite ausgerichtet, ich konnte von morgens bis abends das geschäftige Treiben unten auf dem Messegelände beobachten. Die Plakate wechselten ständig, aber fortwährend schossen die Fontänen der Springbrunnen in der Ludwig-Erhard-Anlage ihr Wasser in die Höhe und vor dem Messeturm schwang der Hammermann gemächlich sein Werkzeug zu dem lebhaften Wimmelbild auf der Straße.
An klaren Tagen konnte ich – hinter dem einzigen Hochhaus von Langen, das irgendwie auf halber Strecke im Weg stand – den Odenwald sehen. Bei Nebel hingegen blickte man auf eine weiße Wand, die unmittelbar vor dem Fenster aufgebaut zu sein schien, nicht greifbar und undurchdringlich. Gewitter waren von hier oben ein atemberaubendes Schauspiel. Nahte die dunklere Jahreszeit, dann fror der Weiher in der Anlage zu und am Messe-Torhaus ging der Weihnachtsbaum an – eine Lichterkette auf der Fassade des Gebäudes schmückte dieses weithin sichtbar.
Das Beste war aber die Einfahrt zur Tiefgarage unter der Festhalle. Wer mit dem Auto von der Senckenberganlage oder der Theodor-Heuss-Allee kommend Richtung Hauptbahnhof wollte und sich ohne Überholwunsch bescheiden ganz rechts hielt, der geriet vor der Festhalle irgendwann auf eine Spur, die in eine Tiefgarage führte. Da wollte aber fast nie jemand wirklich hin, und so hielten die Autofahrer verwirrt an, noch bevor sie ins Dunkle abtauchten, und legten zaghaft den Rückwärtsgang ein. Man konnte Wetten darauf abschließen: Der Nächste fällt drauf rein, der Übernächste zieht noch rechtzeitig nach links, ach, und da fährt einer rückwärts, während von hinten schon ein Weiterer in die Falle geht. Zwölf Jahre lang wurde ich dieses Schauspiels nicht müde. Doch, gearbeitet habe ich im Büro auch hin und wieder.
Dabei habe ich vom ersten Tag an gewusst, dass wir umziehen würden. Mein Mentor führte mich zu einem Fenster auf dem Gang, das nach Osten zeigte, und wies mit dem Finger vielsagend in Richtung IG-Farben-Haus. Regelmäßig entschwand er zu Planungs-Meetings, die unserer neuen, noch nicht erbauten, Behausung auf dem anderen Campus Gestalt verleihen sollten. Trotzdem schaute ich in den folgenden Jahren nie nach Osten, nie auf die Baustelle, die es dort gegeben haben muss.
Als die Zeit des Umzugs nahte, ging ich nach der Arbeit oft durch das Gebäude und machte Erinnerungsfotos. Nicht von der Art, wie sie später in so vielen Büchern und Zeitungsberichten erschienen sind. Vielmehr wurden es Bilder von verwaisten Büropflanzen, dem Vertrocknen preisgegeben, von elektrischen Schreibmaschinen, die keiner mehr brauchte, von stehen gelassen-en Röhrenbildschirmen und Bergen alter Videokassetten, Tonbändern und Computerdisketten, die auf dem Gang ein Hindernis bildeten.
In diesen letzten Wochen geschah es auch ein letztes Mal – beileibe nicht das erste Mal –, dass ich im Aufzug stecken blieb, zusammen mit einer Gruppe heiterer Studierender, von denen einige gar nicht mehr so fröhlich waren, als sie die Lage erkannten. Jetzt war ich es, die die Ruhe behielt und andere beruhigte, die auf den weißen Notrufknopf drückte und der Stimme aus dem Lautsprecher fast mit Stolz verkündete: Wir stecken fest. Die Portiers kamen zu mehreren herbeigeilt, kurbelten die Aufzugtür auf, ließen einen Stuhl in die Kabine hinabsinken, über den wir hinausklettern konnten. Denn wir hingen, wie sich herausstellte, etwa einen Meter unter dem 21. Stock. Meine Kolleginnen beneideten mich später um dieses letzte Aufzugserlebnis.
Bei der letzten Weihnachtsfeier im Turm erschien ein Professor meines Instituts als Turmgeist verkleidet. Erst da fragten wir uns zum ersten Mal: Hat der alte Betonklotz wirklich so etwas wie einen Geist? Eine Seele?
Bei der Feier wurde auch ein Quiz veranstaltet und auf die Frage, welchem architektonischen Stil der Turm angehöre, rief ich spontan »Brutalismus!« Heute freue ich mich, wenn ich irgendwo so einen alten Betonkasten sehe, der noch steht und dieses Sixties-Retro-Gefühl weiterleben lässt. Eine eigene Art von Schönheit, auch wenn nur ich sie wahrnehme.
In die entgegengesetzte Richtung habe ich nach dem Umzug oft gestarrt, vom nagelneuen Campus Westend Richtung Westen auf den Turm, an dem noch ein Jahr lang herumoperiert wurde, bevor er fiel. Danach sah ich nur das Loch in der Skyline, sah das, was nicht mehr da war.
Den Schlüssel habe ich noch. Als könnte ich jederzeit zurück. Ich stelle mir vor, dass da, wo jetzt nur noch Luft ist, mein Büro war. Dass das Loch, in das mein Schlüssel hineinpasst, irgendwo hoch oben schwebt, ich aber nie mehr da herankomme. Ein Luftschloss eben. Die Trauerfeiern unter den Kollegen – immer am 2. Februar – wurden nach zwei Jahren stillschweigend eingestellt. Der Turmgeist blieb.
Hans-Jürgen Heine
Dort wo die Blumen auf dem Zapfhahn blüh’ n
Dort wo die Blumen auf dem Zapfhahn blüh’ n
Und wo die Birnen an der Kette glüh’ n
Dort wo der Anwalt sitzt
Und wo die Dattel im Speckgürtel schwitzt
Dort wo man zwickt und kneift
Und so den Gast begreift
Dort wo der Curry bayrisch spricht
Und wo die Pastorin sitzet zu Gericht
Dort wo man warm und weiblich männlich heißt
Und wo im Advent der Zug entgleist
Dort wo der Scotch den Jäger meistert
Und wo mit Küssen jeder zugekleistert
Dort wo die Toilette nicht zu finden ist
Und wo Du voraus der Zeit um zehn Minuten bist
Dort wo zuweilen man den Gast auch schichtet
Und wo man neuerdings noch dichtet
Dort wo seit 40 Jahren ich geh ein und aus
Da sag ich heut ganz leis’: Applaus, Applaus
Tamara Labas
ferner schnee
das kind weint
draußen auf der straße
vater zerrt
an seinem arm
am frühen morgen
und ich sitze hier
in der küche
der kater liegt
ausgestreckt und schlafend
und wärmt mein bein
das weinen des kindes
ist vorbeigezogen
die luft riecht nach
fernem schnee
Mario Gesiarz
Der kleine Laden
D
er Junge kam in den kleinen Zeitungsladen in der Siedlung »Engelsruhe« in Unterliederbach. Eine ältere Frau stand hinter der Theke. Sie war klein, rundlich, hatte silberne Haare und ein volles Gesicht. Vor ihr auf dem Tresen lagen Zeitungen, Zeitschriften, ein Kasten mit Liebes- bzw. Arztromanen und einige Schreibartikel. Dazwischen befand sich eine kleine blaue Glasplatte für das Geld. Die Frau gab gerade einer Kundin Geld heraus, die eine »Bild«, einen Arztroman, eine Schachtel »Overstolz« und eine Geburtstagskarte