Frankfurter Einladung 2. Группа авторов
Kostümen.
Weihnachten kündigte sich damals noch Mitte November recht kurzfristig an, nicht so wie heute schon kurz nach den Sommerferien. Da kamen zunächst die Adventskalender ins Angebot. Verschiedene Größen, mit und ohne Glitzer oder Kunstschnee. Hinter den vierundzwanzig Türchen fanden die Kinder dann kleine bunte Bildchen – und freuten sich darüber. Kurz vor Weihnachten gab es dann vor allem noch Geschenkpapier in riesiger Auswahl und als einzelne Bogen. Da wurde minutenlang ausgesucht und zusammengestellt. Nikolaustüten gab es und für den Baum Kerzen, dicke, dünne, rote, weiße, bunte, außerdem »Engelshaar« und Lametta – ja, früher war mehr Lametta. An solchen Tagen reichte eine Kraft im kleinen Laden nicht aus. Man glaubt es kaum, aber hinter der Theke standen dann manchmal drei Familienmitglieder und halfen: Die Großmutter, ihre Tochter und Mutter des Jungen, dessen Vater, später sogar der Junge selbst.
Um 14 Uhr war an Heiligabend das Ziel erreicht. Alle Zeitungen waren verkauft, der kleine Restposten an Weihnachtskarten für das nächste Jahr weggepackt. Ermattet von der Schlacht wurde der kleine Laden abgeschlossen und es ging die paar Meter nach Hause, denn heute kam auch hier »des Krisskinnsche«. Das war schon ein kleines Wunder, denn die Familie war alles andere als religiös. Die Großmutter war schon früh aus der Kirche ausgetreten, ihr Enkel und ihre Tochter, die Mutter des Jungen, noch nicht einmal getauft. Der Vater war aus Polen, aber inzwischen auch nicht mehr in der Kirche. Überhaupt die Kirche. Nicht belegt ist, ob jemals ein Pfarrer den kleinen Laden betreten hat. Wäre ihm wahrscheinlich auch nicht gut bekommen. Denn hier verlor die Großmutter alle Toleranz und Gutmütigkeit: »Kersch, des brauche merr net!« Die rüdesten Reden hielt sie auch dann, wenn dieses Thema aufkam und eine Kundin sich als mehr oder weniger »Scheinheilische« herausstellte. Da gab es schon einmal eine Portion kostenloser und ungewollter Lebensberatung extra, denn Kirche und alles Drum und Dran war für die Großmutter ein rotes – oder besser schwarzes – Tuch. »Dess aahle Kristsche! Was wolle die dann mit dem liebe Gott. Uns hat da noch kaaner jemals geholfe …«, so oder ähnlich klang das dann – in der harmlosen Version.
Skurril war, dass anfangs die »Nationalzeitung« im Angebot war. Denn eigentlich hielt die Großmutter mit ihrer politischen Gesinnung nicht hinter dem Berg. Als der Junge das eines Tages ansprach, wurde dieses Angebot gestrichen. Man konnte ja auch etwas subtiler vorgehen. Zum Beispiel, indem man die Flugblätter gegen den Vietnamkrieg einfach der Bildzeitung beilegte. Es hat sich übrigens nie jemand darüber beschwert. Allerdings wurde auch keiner aus der Siedlung auf der Demo gesehen. Außer dem Jungen.
Rolf Schwob
Heimspielsamstag
M
it der Regionalbahn 70 bis zur Haltestelle »Sportfeld« fahren, bei Bubi noch schön einen zischen, kleines Stückchen durch den Wald und dann rein, Stehplatz versteht sich, gleich neben den ganz harten Fans im G-Block. So verliefen früher die Heimspielsamstage, als sein Vater jung und er noch gar nicht auf der Welt war. So hat es der Alte ihm erzählt, jedes Mal, wenn sie auf dem Weg raus ins Stadion waren. Heute sieht sich Rüdiger auf dem Bahnsteig um, sucht in den Gesichtern der alten Männer nach etwas, das er wiedererkennen könnte, findet aber nichts. Die anderen Fans sind so alt wie er oder jünger, Kinder natürlich auch und viel mehr Frauen als damals, hübsche noch dazu, sie tragen Trikots mit Spielernamen und haben sich die langen Haare zu wippenden Pferdeschwänzen zusammengebunden.
Rüdiger nimmt einen Schluck aus der Dose, das Bier ist lauwarm und schmeckt abgestanden, obwohl er den Verschluss eben erst geknackt hat. Die S-Bahn fährt ein, Türen gleiten auf und er wird von der Menge auf dem Bahnsteig fast ohne eigenes Zutun ins Abteil geschoben. Die RB 70 fährt auch heute noch regelmäßig, aber die S7 fährt öfter, die Haltestelle »Sportfeld« wurde in »Stadion« umbenannt und »Bubis Bahnhof« schon vor Jahren dichtgemacht. Das alles nötigt Rüdiger nur ein Achselzucken ab, aber dass man das Waldstadion nach dem Umbau in Commerzbank-Arena umgetauft hat, daran kann und will er sich nicht gewöhnen.
Die Bahn setzt sich mit einem Ruck in Bewegung und Rüdiger muss sich kurzzeitig an den Schultern seines Vordermannes festhalten, in der linken Hand hält er immer noch die Dose mit dem Billigbier. Augen zu und durch, sagt er sich und trinkt die Plörre in einem Zug aus. Die Sonne scheint durch die Fenster, als die S-Bahn über den Main setzt. Draußen sind es 20, 21, vielleicht sogar 22 Grad, windstill und kaum eine Wolke am Himmel – bestes Stadionwetter, würde der Alte jetzt sagen, aber für den war eigentlich jedes Wetter bestes Stadionwetter.
Einmal waren sie vollkommen durchnässt von einem Spiel nach Hause gekommen und seine Mutter hatte sich furchtbar aufgeregt. Der Junge hole sich noch den Tod wegen dem Scheiß, schrie sie, woraufhin sein Vater sie packte und gegen die Wand im Flur drückte, und er, der kleine Rüdiger, stand dabei und dachte erst noch, es sei alles nur Spaß, aber dann sah er die Angst in den Augen seiner Mutter und fing an zu weinen. »Jungs heulen nicht!«, hatte ihn der Alte angebrüllt, von der Mutter abgelassen und war aus der Wohnung gestürmt, nur um später am Abend selbst als besoffenes, heulendes Elend zurückzukommen.
Rüdiger zerdrückt die leere Dose zwischen seinen Fingern, knetet das Weißblech, bis es Risse bekommt. Auf dem Bahnsteig in Niederrad stehen ein paar Schalker in königsblauen Trikots und trauen sich nicht, in die S-Bahn mit den lärmenden Frankfurtern einzusteigen. Als die Bahn wieder abfährt, recken sie die Mittelfinger. »Verdammte Feiglinge!«, brüllt einer mit Adler-Tattoo auf dem Hals und schlägt mit der flachen Hand gegen die Scheibe.
Nächster Halt: Stadion. Gedränge, Geschubse, Gegröle, die Polizisten am Wegesrand halten die Hunde zurück. Rüdiger steuert auf einen der kleinen Getränkestände zu, die von der Palette runter verkaufen. Es riecht nach verschüttetem Bier, Bratwurst und Schweiß. Die Dose ist nicht richtig gekühlt, der Schaum quillt sofort aus der Öffnung, Rüdiger trinkt ab.
Er war sieben, als sein Vater ihn zum ersten Mal von seinem Stadionbier nippen ließ. Damals juckte das hier draußen keine Sau. Das Bier schmeckte gallig und bitter und stieg ihm gleich zu Kopf, so dass er immer nur kleine Schlucke davon trank, wenn sein Vater ihm wieder mal lachend davon anbot, aber es war auch ein großartiges Gefühl mit der Bierdose in der Hand neben dem Vater zum Stadion zu laufen, über das Spiel zu reden und ehrfürchtige Blicke auf die Jeansjackenträger zu werfen, die den Adler auf dem Rücken und den G-Block-Schriftzug auf den Schultern trugen. Noch vor der Einlasskontrolle kaufte sein Vater Nachschub, aber Gottseidank nur für sich selbst, und später auf dem Heimweg steckte er ihm einen Wrigleys-Kaugummi zu, damit es zu Hause mit Mutter nicht wieder Ärger gab.
Rüdiger leert die Dose und reiht sich vor der Kontrolle ein, wird abgetastet, hält sein Ticket unter den Scanner und ist drin. Den alten offenen Stehblock gibt es natürlich nicht mehr, es gibt auch keine Sitzbänke mehr und teilüberdachte Tribünen. Dafür gibt es immer mehr Drumherum: Musik, Gewinnspiele und hinter der Haupttribüne Fressstände und Kinderbelustigung wie auf dem Rummelplatz. Einfach nur Fußball, das traut sich heute keiner mehr, denkt Rüdiger und nimmt seinen Platz im Block hinter dem Gästetor ein, mit freiem Blick auf die gegenüberliegende Fankurve.
Einmal, gegen die Bayern oder Gladbach, er weiß es nicht mehr genau, stand er im Stehblock vor seinem Vater auf einer der Stangen und konnte trotzdem nichts sehen, weil der Block rammelvoll war, und da hat ihn der Alte einfach auf die Schultern genommen und das Gemeckere der Typen hinter ihm so lange stoisch ignoriert, bis sie nichts mehr sagten. Rüdiger weiß nicht mehr wie das Spiel damals ausgegangen ist, aber in seiner Erinnerung saß er beide Halbzeiten lang auf den Schultern des Vaters, der ihm seine tellergroßen Hände auf die Oberschenkel gelegt hatte, damit er beim Torjubel nicht herunterfallen konnte.
Der Stadionsprecher gibt die Mannschaftaufstellung der Gäste durch, der Schalker Fanblock applaudiert, die Kurve gegenüber pfeift. Rüdiger sitzt neben zwei älteren Männern, die sich Sitzkissen mitgebracht haben und sich schwerfällig mit allen anderen erheben, als die Eintracht-Hymne Im Herzen von Europa erklingt: »Eintracht vom Main, nur du sollst heute siegen …«
In die Fankurve auf der gegenüberliegenden Seite kommt Bewegung, Fahnen werden geschwenkt und Schals in die Höhe gehalten. Dann die Aufstellung der Eintracht.
Der Stadionsprecher ruft: »Mit der Nummer 14: Alex …«
Und das ganze Stadion