Frankfurter Einladung 2. Группа авторов
»Grabowski, Hölzenbein …«, assistiert der andere und dann nicken beide und werden still.
Yeboah, denkt Rüdiger, Anthony Yeboah, das war der absolute Lieblingsspieler seines Vaters. Ausgerechnet Yeboah, wo der Alte doch sonst immer behauptete, die Neger hätten hier bei uns in Deutschland nix verloren. Unter der Woche wollte er abends nur seine Ruhe, da existierte Rüdiger gar nicht für ihn. Außer er hatte was verbockt und musste sich eine Ohrfeige abholen. In Ausnahmefällen gab es auch mal eine Mark für eine gute Note oder für das Straßenkehren. Wenn er abends im Bett lag, hörte er den Fernseher aus dem Wohnzimmer, schlief ein und wurde später wieder wach, weil seine Eltern sich lautstark stritten, dann zog er sich die Decke über den Kopf und steckte sich die Finger in die Ohren.
Meist denkt Rüdiger an seinen Vater, wie man an einen Toten denkt, nur hier im Stadion wird er wieder lebendig und lauert ihm an allen Ecken und Enden auf. Manchmal stellt er sich vor wie es wäre, ihn nach all den Jahren hier zu treffen. Wahrscheinlich würde er dieselben alten Heldengeschichten erzählen, vom Waldstadion, dem Europapokal, den Besäufnissen, den Zeiten im Stehblock und natürlich kein Wort über das Verlieren, was eigentlich zu besprechen wäre. Rüdiger ballt die Hände zu Fäusten und versucht, sich seinen Vater als alten Mann vorzustellen: immer noch groß und breit, aber fett und ohne Haare auf dem Kopf. Manchmal meint er während des Spiels aus der Menge im Block heraus ganz deutlich seine Stimme zu hören: »Gib ab!«, »Geh ran!«, »Fuß davor!« oder einfach nur: »Junge, Junge, Junge …«
Er war acht Jahre alt und saß mit seinem schwarzweißgestreiften Schal im Treppenhaus. Aus der Nachbarwohnung hörte er aufgeregte Stimmen aus dem Radio, die Bundesligakonferenz lief, die Eintracht spielte zu Hause gegen Köln. Der Alte war seit einer Woche weg. Rüdiger war sich so sicher gewesen, dass er heute, am Heimspielsamstag zurückkommen würde, immerhin ging es gegen Köln. Jedes Mal, wenn unten die Tür geöffnet wurde und jemand die Treppe heraufkam, stand er auf, und jedes Mal, wenn einer der Nachbarn sich lächelnd an ihm vorbeigeschoben hatte, setzte er sich enttäuscht wieder hin. Irgendwann war seine Mutter aus der Wohnung gekommen und hatte gesagt: »Jetzt komm schon rein.«
Es gibt diesen einen Moment. Diesen Moment kurz vor dem Anpfiff, wenn die Musik abgeschaltet wird, der Sprecher schweigt und der Schiri mit den Spielern am Mittelkreis steht. Dieser Moment, in dem es für den Bruchteil einer Sekunde ganz still wird im Stadion, so als würden fünfzigtausend Menschen gleichzeitig die Luft anhalten, dann zieht sich etwas klein und hart und schmerzhaft zusammen in Rüdigers Brust, und jedes Mal, bevor er meint es nicht mehr aushalten zu können, ertönt der erlösende Pfiff.
Joachim Durrang
Spuren
In den Gängen unter der Erde
wandeln Römer
Gewänder wehen im Schatten
von Säulenresten
Geborstene Steine enthüllen
Fußabdrücke
Spuren laufen über das Forum
irren durch Wegquadrate
Lateinische Stimmen murmeln
Geräusche von Fuhrwagen
dringen an die Oberfläche
des Nordwestzentrums
Da halten Plastikpuppen
im Sprung aus dem Schaufenster inne
Passanten zögern einen Augenblick
weiter zu wandern
in die entgegen drängenden
Männer und Frauen
Aus Geschäften regen sich
Einkaufswagen
mit Milchtüten und Glasflaschen gefüllt
Sie werden im Gang von Insekten
geschoben
Fühler tasten durch die Luft
Ein Springbrummen steigt
unter der Glaswölbung
Licht flutet durch Kristall
in den Atem von Menschen
In rituellen Bewegungen
berühren Füße den Boden
Geräusche mischen sich mit Sätzen
Wörter blühen
lehnen sich an das Geländer
einer Rolltreppe
Ingrid Walter
Der goldene Mantel
F
roh, von zu Hause wegzukommen, verließ sie das Haus und lief mit schnellen Schritten durch den Dreieichpark. Am Parkausgang, in der Nähe des kleinen weißen Pavillons, leuchtete ein Flecken mit Blausternen. Der Anblick beglückte sie und es überkam sie ein Gefühl von Freiheit nach den öden Osterfeiertagen voll Regen und Rumsitzen bei Eltern und Schwiegereltern.
Sie hatte sich vorgenommen in einem Café in der Brückenstraße an ihrem Vortrag für die Volkshochschule zu arbeiten und fuhr mit der Straßenbahn bis in die Textorstraße. Von dort waren es nur noch ein paar Schritte. Die Brückenstraße, mit ihren vielen Läden in den Gründerzeitbauten, kam ihr wie eine kleine Großstadtstraße vor, ähnlich wie man sie im sechsten oder siebten Wiener Bezirk antraf. Sie freute sich, dass sie so schnell dorthin gelangen konnte und ihre Stimmung wurde zusehends besser. In der Straße angekommen, flanierte sie links und rechts an den kleinen Boutiquen entlang, ihren Vortrag vergaß sie dabei für eine Weile. Bei einem Laden auf der linken Seite, dessen Auslagen aussahen wie aus einem 50er-Jahre-Film entsprungen, ja vielleicht wie aus »Frühstück bei Tiffany«, konnte sie nicht widerstehen, nahm die zwei Stufen nach oben und öffnete die Tür.
Kaum traute sie sich über den schönen alten Parkettboden zu laufen, denn das machte auffällig klack, klack und sie wollte doch am liebsten unbemerkt nur für sich schauen. Doch schon begrüßte die Betreiberin sie mit einem schelmischen Lächeln. Die dunklen Haare charmant nach oben gezwirbelt, sah diese trotzdem nicht unnahbar aus.
»Ich wollte mich nur einmal umsehen.«
Die Ladenbesitzerin nickte und ließ sie in Ruhe. Es gab Kleider in schönen klaren Farben, Röcke und hübsche, weibliche Oberteile. Alles sehr edel und eigentlich etwas zu teuer für ihre Verhältnisse.
Schon wollte sie den Rückzug antreten, da schimmerte auf der Stange direkt am großen Fenster ein Stoff goldbraun hervor. Er erinnerte sie an die Gemälde von Gustav Klimt und ihr Vortrag kam ihr wieder in den Sinn. Trug nicht Klimts Muse, die Designerin Emilie Flöge, solche Stoffe? Sie betrachtete die Muster genauer, schob die benachbarten Kleidungsstücke zur Seite. Es war ein Mantel mit einer Art Tapetenmuster eingeprägt, dabei schlicht geschnitten wie ein Morgenmantel ohne Kragen. Sie fand ihn prächtig.
»Probieren Sie ihn ruhig einmal an«, sagte die Inhaberin, die sie beobachtet hatte, und lächelte ihr aufmunternd zu.
Sie knöpfte ihn auf, nahm ihn behutsam vom Bügel. Der weiche, fließende Stoff war innen hell gefüttert. Der goldbraune Ton passte sehr gut zu ihrem hellen Teint und dem blonden Haar – und sogar zu ihren Schuhen, ein paar Schnürstiefeln, die sie eigentlich schon ein bisschen abgetragen fand. Ebenso die Jeans. Aber mit dem Mantel bekamen ihre alten Sachen auf einmal einen mondänen Glanz. Die Betreiberin kam zu ihr heran, um behilflich zu sein. Sie nahm den Gürtel, legte ihn um sie herum, schnürte ihn, band eine einseitige Schleife, ordnete die Falten an der Rückseite. Sie sahen sich beide im Spiegel an. Der Mantel stand ihr hervorragend.
Eigentlich wollte sie überhaupt keinen Mantel kaufen, der Preis überstieg ihren momentan vorhandenen Kontostand. Natürlich hatte sie ihn schon heimlich erspäht.
»Wie lässig er zu ihrer Jeans und den Stiefeletten aussieht«, sagte die Ladenbetreiberin und freute sich sichtlich.
Ohne einen ersichtlichen Grund versetzte