Krisendemokratie. Tamara Ehs
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Tamara Ehs
KRISENDEMOKRATIE
Sieben Lektionen aus der Coronakrise
mandelbaum verlag
ISBN 978-3-85476-893-7
eISBN 978-3-85476-704-6
© mandelbaum verlag, wien • berlin 2020
alle Rechte vorbehalten
Lektorat: ELVIRA M. GROSS
Satz: KEVIN MITREGA
Umschlag: MARTIN BIRKNER
Inhalt
Vorwort
Die Akutphase der CoViD19-Krise ermöglichte wie ein Brennglas den Blick auf die Stärken und Schwächen der österreichischen Demokratie. Wo es gute Routinen gab, funktionierten die Abläufe auch im Stress der Ausnahmesituation. Jene Bereiche, in denen das politische System aber schon im Regelzustand holprig läuft, gerieten in der Krise zum Stolperstein. Das betraf unter anderem das Selbstverständnis und damit die Handlungsmacht des Parlaments, die Stellung von Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung bei der politischen Entscheidungsfindung, die sozioökonomische Repräsentation der Bevölkerung und entsprechende Responsivität in der politischen Elite sowie die Beziehung der reichweitenstarken Medien zur Regierung.
Wenn es aus Sicht der Politikwissenschaft etwas aus der Krise zu lernen gibt, dann das: die Demokratie besser auf Ausnahmesituationen vorzubereiten, indem man bereits den Regelzustand korrigiert. Die Bundesverfassung liefert zwar seit 100 Jahren eine praktikable Handlungsanleitung – wie sich zuletzt 2019 in der Ibiza-Affäre und nachfolgender Regierungskrise eindrücklich gezeigt hatte – darüber hinaus muss aber die Demokratie immer wieder aufs Neue mit Leben erfüllt und verteidigt werden. Ebenso wie Brandschutzübungen gesetzlich vorgeschrieben sind oder Spitäler ihre Notfallpläne immer wieder adaptieren, müssten auch demokratische Abläufe nach jeder Krise einer Prüfung unterzogen werden: Was hat gut funktioniert? Was können wir verbessern? Was müssen wir unbedingt ändern, um beim nächsten Mal klüger zu agieren? Denn das nächste Mal kommt bestimmt. Sei es abermals eine Pandemie, ein terroristischer Anschlag oder am wahrscheinlichsten: ein Klimanotstand aufgrund der fortschreitenden und nicht hinreichend bekämpften Erderhitzung. Keines dieser Schreckensszenarien muss aber bedeuten, dass wir die Demokratie in Quarantäne schicken.
Im emotionalen Ausnahmezustand fällt es oft schwer, rationale Entscheidungen zu fällen. Beherrschen zudem Parteien und Politiker*innen das Geschehen, die der autoritären Versuchung ohnehin nicht abgeneigt sind, besteht eine Gefahr für das demokratische Zusammenleben, die über den Anlassfall hinausgeht. Zwar kann ein starker Rechtsstaat einige grobe Verwerfungen im Nachhinein wieder ausgleichen, doch das Vertrauen ins politische System und seine Institutionen, in die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit der Demokratie an sich, ja auch das soziale Vertrauen ineinander sind dann meist schon nachhaltig beschädigt. Umso wichtiger ist es daher, bereits im Regelzustand eine krisenfeste Demokratie zu etablieren und zu stärken. Demokratische Abläufe und die Sicherstellung ihrer sozialen Grundlagen müssen mehr als bisher zur Daseinsvorsorge gezählt werden – Demokratie als gemeinsames Recht auf das, was alle brauchen. Um mit dem Vokabular der Coronakrise zu sprechen: Demokratie ist systemrelevant.
Dieser Essay nahm seinen Anfang, als mich APA-Science Ende März 2020 um einen Text für die Rubrik »CoronaAlltag« bat. Ich verfasste basierend auf den ersten Erfahrungen der Akutphase eine »(Not)-To-do-Liste: Coronakrise und Demokratie«, die in aller Kürze aufzeigte, was hinsichtlich demokratischer Abläufe gut funktionierte und was bereits bedenklich aus dem Ruder lief. Swissinfo, die öffentlich-rechtliche Nachrichtenplattform der Schweiz, und Democracy International, ein globales Netzwerk zur Stärkung von direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung, nahmen meine Gedanken in weiteren Beiträgen auf, zumal sich international ähnliche Verwerfungen im Umgang mit demokratischen Grundrechten abzeichneten wie in Österreich. Vielerorts traten die Extreme zum Vorschein: Bereiche des demokratischen Aushandlungsprozesses, die schon in sogenannten Normalzeiten vernachlässigt sind, fanden in der Stunde der Not gar keine Einflussmöglichkeit mehr vor. Politische Entwicklungen und Handlungsweisen, die bereits zuvor hegemonial waren, wurden nun eine Zeit lang gar nicht mehr konfrontiert. In ihrer Zuspitzung offenbarte die CoViD19-Krise mit bislang ungekannter Vehemenz, wo demokratische Routine im Sinne von Pluralismus und Vielstimmigkeit fehlt.
Intellektuellen Anreiz fanden meine Überlegungen zur Demokratie in der Coronakrise im Gesprächskreis #besserentscheiden, den der Politikberater Andreas Kovar vor einigen Jahren ins Leben gerufen hatte. Parteiübergreifend mit Politiker*innen, Wissenschafter*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft besetzt, sahen wir unsere langjährige Kritik am österreichischen politischen System in der Krise bestätigt. Vorschlägen, wie wir sie seit 2015 im Leitbild Parlament oder im Grünbuch: Offene Gesetzgebung entwickelt hatten, schien die CoViD19-Krise Nachdruck zu verleihen. Mehr denn je hätte das politische Verfahren institutionalisierte Abläufe nötig gehabt, die auch in der Ausnahmesituation und gebotenen Eile Deliberation und breite Beteiligung ermöglichten. Einige unserer Ideen und Utopien stelle ich am Ende des Essays vor.
Die Politikwissenschaft kann in der Krise anbieten, was auch sonst ihre Maxime ist: einen Beitrag zur Stärkung der politischen Urteilskraft zu leisten. Denn selbst wenn wir in Bezug auf ein neuartiges Virus immunologisch naiv sind, können wir mit Blick über die Grenzen oder in unsere eigene Geschichte autoritäre Tendenzen sehr wohl frühzeitig erkennen und uns gegen einen Shutdown der Demokratie zur Wehr setzen. Das Buch richtet sich daher an alle Demokratinnen und Demokraten und an jene, die es noch werden wollen. Es zieht sieben Lektionen aus der Akutphase (März/April 2020) der CoViD19-Krise und fordert von allen Beteiligten – Politiker*innen, Medienvertreter*innen und Zivilgesellschaft – mehr Bemühen um die Verteidigung der Demokratie ein.
Der Philosoph Walter Benjamin ging davon aus, »dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist«. Ökonomische Unsicherheit, Abstiegsängste, schlechte Teilhabechancen trotz guter Ausbildung, die Erosion von Zukunftsgewissheit und schließlich verminderte Möglichkeiten einer planbaren, zukunftsorientierten Lebensführung stellten bereits vor dem 16. März 2020 die Realität allzu vieler Menschen dar. Die Coronakrise erweiterte allerdings jene »Zone der Verwundbarkeit«, wie der französische Soziologe Robert Castel die neue soziale Frage nannte, und warf Schlaglichter auf massenhaft gewordene prekäre Arbeitsverhältnisse und verschärfte soziale Ungleichheiten. Deren Einfluss auf die Stabilität der Demokratie und ihre Wehrhaftigkeit gegen eine autoritäre Übernahme ist hinlänglich bekannt. Was, wenn die soziale Katastrophe bereits zuvor eingetreten war, aber erst in der Krise zur Kenntlichkeit entstellt wurde? Dieser Essay ist daher allen Armutsbetroffenen,