Krisendemokratie. Tamara Ehs
hätte jener Ausschuss in Permanenz nach den wertenden Kriterien und Entscheidungsgrundlagen der Regierung gefragt und diese öffentlich gemacht. Rechtlich hätte es sich um einen Unterausschuss gehandelt. Für dessen Einrichtung hätte man aber nicht nur eine Mehrheit in einem bestehenden Ausschuss (zum Beispiel im Finanz- oder Gesundheitsausschuss), sondern wohl auch eine Verfassungsänderung gebraucht, weil der Unterausschuss besondere Rechte (etwa auf Vorlage von Dokumenten und auf Öffentlichkeit) beanspruchen würde. Mit genügend politischem Druck und Einigkeit hätte die Opposition diesen Unterausschuss im Austausch mit dem »nationalen Schulterschluss« wohl durchsetzen können.
Solch ein begleitendes Kontrollinstrument hätte unter anderem Einsicht in die Beratungsprotokolle der Taskforce Corona gefordert, die der Öffentlichkeit schließlich nur durch Whistleblower und Leaks an Zeitungen zugänglich wurden. Parlamentarische Kontrolle dient der Informationsgewinnung und deren Veröffentlichung; sie ist außerdem »das einzige (formelle) Mittel der Parlamentarier*innen […], um an Informationen aus dem Bereich der Regierung zu gelangen. Damit wird sie zu einer primären Wissensressource in diesem Bereich«, so Christoph Konrath weiter. Leider gehört es nicht zum Selbstverständnis des österreichischen Nationalrats, dass die Abgeordneten der Regierungsparteien »ihre« Regierung einer Überprüfung unterziehen. Das Ausbleiben solch einer Kontrolle veranlasste Kritiker*innen der Parlamentswirklichkeit wie den ehemaligen oppositionellen Nationalratsabgeordneten Alfred J. Noll, den Nationalrat beziehungsweise vor allem die Abgeordneten der Regierungsparteien abermals als »Erfüllungsgehilfen der Regierung« zu bezeichnen.
Obwohl die österreichische Verfassung kein Ausnahmerecht kennt, hatte das Parlament durch umfassende Ermächtigungsgesetze das Ruder aus der Hand gegeben, sodass sich die CoViD19-Krise doch noch zur »Stunde der Exekutive« wandelte. Denn zu den politischen Inhalten, die aufgrund der im COVID-19-Maßnahmengesetz vom 16. März in den Paragraphen 1 und 2 festgehaltenen Verordnungsermächtigung gesetzt wurden, hatte das Parlament fortan nichts mehr zu sagen. Es hatte sich selbst aus dem Spiel genommen, das Heft aus der Hand gegeben und vom Inhalt der Politik, der doch eigentlich seine Hauptbeschäftigung darstellen sollte, verabschiedet. Die zunehmende »Exekutivierung« des politischen Geschehens ist zwar nicht neu und wird auch längst politikwissenschaftlich beklagt; die Krise zeigte diese Entwicklung jedoch in einer Verdichtung und Klarheit, die Demokrat*innen erschaudern lassen muss: Noch nie wurde so wenig Politik durch das Parlament gemacht wie in jenen Tagen. Manfred Matzka, vormals Präsidialchef des Kanzleramts und zuletzt Berater von Bundeskanzlerin Bierlein, verglich die CoViD19-Ermächtigungsgesetze, die ohne gründliche parlamentarische Debatte und noch dazu in Sammelgesetzen eilig in Kraft gesetzt worden waren, gar mit dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917, auf dessen Grundlage 1933 der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt und der Austrofaschismus nach der politischen auch gesetzliche Realität wurde.
Damit im auf diese Weise selbst verursachten »Verordnungsstaat« (Alfred J. Noll) wenigstens die Opposition noch ansatzweise ihrer Kontrollfunktion nachkommen kann, ist es notwendig, dass Parlamente alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, um überhaupt zusammentreten zu können. Die parlamentarische Demokratie benötigt die physische Begegnung, um auch für die Bevölkerung sichtbar zu sein und Gegenentwürfe sowie Korrektive zur Regierungspolitik in den diskursiven Prozess zu bringen. Der Rechtswissenschafter Uwe Volkmann von der Goethe-Universität Frankfurt kritisierte, dass zwar in vielen Parlamenten während der CoViD19-Krise ein notdürftiger Betrieb aufrechterhalten worden war, »wenn auch nicht in einem unmittelbar politischen Sinne, das heißt als Austrag grundsätzlicher Alternativen, sondern auf die technisch-administrativen Fragen der Erreichung eines als alternativlos anerkannten Ziels bezogen«. In der pluralistischen Demokratie ist keine Maßnahme alternativlos. Doch gerade in angstbesetzten Krisensituationen wie angesichts CoViD19 neigten selbst ansonsten kritische Journalist*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zur Schockstarre und zum Eintritt in den nationalen Schulterschluss des »Team Österreich«. Auch die Oppositionsparteien trugen diese gelebte Negation der pluralistischen Demokratie beinahe einen Monat lang mit. Umso wichtiger war es, dass die Tagungsfähigkeit trotzdem aufrecht erhalten wurde, wenn auch die parlamentarische Kontrolle nur mit Verzögerung einsetzte.
Der österreichische Nationalrat traf sich während der Coronakrise entweder in geschrumpfter Zusammensetzung oder auf zwei Stockwerke verteilt, um genügend physischen Abstand sicherzustellen. Andere Parlamente wie etwa jenes der Schweiz wichen auf einen größeren Raum aus und traten im Messegelände der Bern-Expo zusammen; wieder andere nutzen Videokonferenzen, um die »virtuelle Anwesenheit aufrechtzuerhalten. Es geht um die Selbstbestimmung der freien Abgeordneten und um die Selbstbestimmung der Gesellschaft«, bekräftigten die Politologen Bernhard Weßels und Wolfgang Schröder. Ein eParlament ist zwar angesichts der erwähnten Tribünenfunktion suboptimal, aber immer noch besser, als seiner faktischen Selbstausschaltung zuzustimmen, wie dies in Ungarn geschehen ist, oder sich, wie es das australische Parlament anfänglich vorhatte, bis August zu vertagen und die CoViD19-Agenden einem demokratisch wenig legitimierten Krisenstab zu übertragen. Angesichts der zahlreichen, oftmals übereilten Selbstbeschränkungen von Parlamenten trat die Interparlamentarische Union (IPU) auf den Plan und bot Informationen für Parlamente in Zeiten einer Pandemie an. Ihre Website gab einen Überblick über alle infrastrukturellen und technischen Maßnahmen, die Parlamente weltweit nutzten, um weiterhin zusammentreten zu können. Zwei Handlungsanleitungen der IPU befassen sich zudem mit der Genderdimension der CoViD19-Krise sowie mit dem Thema Menschenrechte.
Ein wesentlicher Punkt, den Parlamente im Rahmen der Krisengesetzgebung sowie bei der Kontrolle ihrer Umsetzung laut IPU beachten müssen, betrifft die Befristung der Maßnahmen, vor allem wenn sich um die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten handelt. Da der Grat zwischen Missbrauch und Notwendigkeit ein schmaler und die Gefahr der Indienstnahme von Krisen für die Ausweitung staatlicher Kontrollmaßnahmen über den aktuellen Zeitpunkt hinaus nicht zu unterschätzen ist, muss jedes Gesetz eine sogenannte Sunset Clause beinhalten, also den Tag seines Außerkrafttretens benennen. Die österreichischen COVID-19-Maßnahmen wurden großteils mit 31. Dezember 2020 befristet. Gemäß Fachdossier der Parlamentsdirektion war dies dadurch begründet, dass Regelungen nur vorübergehend gebraucht wurden, wenig Zeit für die Vorbereitung war und einzelne Bestimmungen in Grundrechte eingriffen; Letzteres dürfe aufgrund der Bundesverfassung nur kurzfristig passieren.
Die Idee der Sunset Legislation stammt aus dem angloamerikanischen Rechtsraum. Sie unterscheidet sich von der gewöhnlichen Befristung darin, dass Gesetze nicht einfach nach Zeitablauf außer Kraft treten; vielmehr ist die Befristung mit dem Zweck verbunden, begleitend zu evaluieren, ob die gesetzten Ziele erreicht werden konnten. Die Intention ist eine bessere staatliche Regulierung. In Krisenzeiten dient die Sunset Legislation dazu, Maßnahmen in kurzen Zeitabständen vom Parlament überprüfen zu lassen. In der Akutphase der CoViD19-Krise geschah dies beispielsweise im Vereinigten Königreich alle drei Wochen. Österreich hingegen sah keine regelmäßige Überprüfung durch den Nationalrat und auch keine Evaluierung vor.
Eine Befristung schützt allerdings noch nicht vor einer (unter Umständen mehrmaligen) Verlängerung eines Ausnahmegesetzes. Diese Vorgehensweise war in den vergangenen Jahren zum Beispiel in Frankreich im Zusammenhang mit der Antiterrorgesetzgebung zu beobachten: Nach den Terroranschlägen von 2015 war der Ausnahmezustand sechsmal verlängert worden; als ihn die Nationalversammlung dann doch beendete, wurden manche der Notstandsgesetze in die normale Gesetzgebung übergeführt und sind nun fixer Bestandteil der französischen Rechtsordnung. Diese nachhaltige Legalisierung von Normsuspendierungen nennt Matthias Lemke, der im Fachbereich Bundespolizei der deutschen Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung lehrt, »Ausnahmezustand 2.0«. Über das Plausibilisierungsmuster der Insuffizienz, also der Behauptung, dass der bestehende Rechtsrahmen nicht genüge, um auch in Zukunft solch eine Krise und all ihre Folgekosten (zum Beispiel den nächsten Shutdown) zu verhindern, werden der Exekutive dauerhaft mehr Machtmittel zugestanden.
Es ist folglich Aufgabe sowie Kontrollfunktion des Parlaments, realiter insbesondere der Oppositionsparteien, nicht nur auf die Befristung der COVID-19-Maßnahmengesetze zu achten, sondern im Sinne der Sunset Legislation jede einzelne Maßnahme – sei sie auch auf den ersten Blick noch so gering – und ihre momentane Verhältnismäßigkeit immer wieder aufs Neue der Diskussion zu unterwerfen, vor allem dann, wenn vonseiten