Tin Men. Mike Knowles
hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Es war dunkel im Bad, zuerst konnte er nichts erkennen. Aber die Dunkelheit löste sich schnell in eine helle, lebendige Erinnerung auf. Woody sah seine tote Frau. Ihre Oberschenkel mit schwarzem Blut verkrustet. Seine kleine Tochter in ein Handtuch eingewickelt. Das Handtuch bedeckte das Gesicht des Babys, und Woody wünschte sich, es würde so bleiben, aber seine Halluzination wollte es anders. Das Handtuch wurde zurückgezogen, und Woody konnte nicht wegschauen – konnte nicht mal die Augen schließen. Er sah ein unschuldiges Gesicht ohne Leben. Die Haut war bleich, fast sah es aus, als würde sie schlafen. Fast. Das Gesicht war zu still und die Muskeln zu schlaff, als dass sie nur schlafen würde. Die Geburt war für beide zu viel gewesen, und Woody blieb allein mit der winzigen Leiche in einem Handtuch zurück.
Woody hatte diese Vision schon früher gehabt, aber in den letzten Monaten war sie seltener geworden. Vielleicht, weil er jede Nacht weniger schlief. Er war einfach so müde. Er wurde krank und brauchte Schlaf. Reine Erschöpfung, das war alles. Er machte Rückschritte, aber das konnte er wieder in den Griff kriegen – er brauchte bloß mal eine Pause. Er tastete nach der Tür und an ihr entlang zum Lichtschalter an der Wand. Die starken Birnen über dem Spiegel explodierten mit grellen hundert Watt. Woody erblickte sich im Spiegel – der Dreitagebart, die roten Augen, die eingefallenen Wangen. Er sah aus wie eine der Geiseln, die man nach einem Monat in Gefangenschaft von IS-Terroristen im Fernsehen sah. »Nicht so schlimm«, sagte er. Ein Monat in der Wüste war nichts, er lebte seit über einem Jahr in der Hölle.
Er drehte den Hahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Die Kälte tat ihm gut, beim zweiten Blick in den Spiegel sah er schon ein bisschen menschlicher aus. Er drehte das Wasser ab und sah sich im Bad um. Der Waschbeckenrand war nass. Woody tauchte einen Finger ein und stellte fest, dass das Wasser wärmer war als das, mit dem er sich gerade das Gesicht nass gemacht hatte. Noch jemand hatte mit Wasser herumgespritzt. Os? Woody schüttelte den Kopf. »Passt nicht zu ihm.« Os ließen Leichen kalt. Aus seinem Mund stammten einige der kranksten Witze über Tote. Die meisten Mordermittler fanden Os’ Witze großartig, weil sie immer zu den unangemessensten Zeitpunkten kamen. Nicht immer lachten sie gleich, aber wenn sie später über den Tatort sprachen, erzählten sie sich, was Os gesagt hatte. Die Witze waren wie ein Geburtstagskuchen – am nächsten Tag noch besser.
Woody sah sich das Wasser genauer an. Es waren keine Seifenblasen darin.
»Und nirgendwo abgetrocknet«, sagte er.
Dann sah er sein Gesicht im Profil und bemerkte den Arzneischrank über dem Spülkasten. Er machte vier Schritte und öffnete den Schrank mit einem Kugelschreiber, den er in der Tasche hatte. Die drei Regalbretter waren gefüllt mit frei verkäuflichen Medikamenten und mehreren kleinen, orangefarbenen Plastikfläschchen mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Auf den Fläschchen klebten weiße Etiketten von verschiedenen Apotheken. Es waren einige Antibiotika darunter, mehrere Medikamente für die Schwangerschaft, und ein Regal war voller Pillenpackungen mit langen, langen Namen. Woody erkannte einige. Julie hatte zahlreiche Antidepressiva im Schrank. Er las die Namen, ignorierte das Prozac, suchte nach etwas Besserem, entdeckte Adderall, nahm das Fläschchen aus dem Regal und öffnete den Deckel. Adderall wirkte aufputschend und würde mehr gegen das Heroin ausrichten als Koffein. Woody schluckte drei Tabletten trocken herunter und drückte den Deckel wieder auf das Fläschchen. Er wollte es gerade in die Tasche stecken, als die Badezimmertür aufging. Woody drehte sich um und erblickte Os.
»Alles in Ordnung?«, fragte Os.
Woody hielt die Tabletten hoch. »Julie hat ein paar heftige Medikamente genommen. Hier stehen ein Haufen Antidepressiva aus verschiedenen Apotheken.«
»Ich nehme nur eins«, sagte Os.
»Das ist üblich. Wer mehr will, holt sich von mehreren Ärzten Rezepte und geht in unterschiedliche Apotheken.«
»Kommst du wieder rein?«, fragte Os.
Woody nickte. Er hätte gern noch ein paar Minuten gewartet, damit das Adderall seine Wirkung tun konnte. Wenn er wieder Visionen bekäme, wäre er nutzlos. Aber es gab keinen guten Grund, länger im Bad rumzuhängen.
»Geht hier die Party ab?«
Verdammter Dennis.
6
»Was machst du da in der Ecke, Woody?« Dennis stellte die Frage auf Zehenspitzen. Er hatte versucht, einen Spalt im Türrahmen zu finden, der nicht von Os’ massiger Gestalt verstopft war, und einsehen müssen, dass eine Aussicht nur möglich war, wenn er sich auf die Zehen stellte. Dabei bemühte er sich, über Os’ Schulter hinwegzusehen, ohne mit ihr in Berührung zu kommen. Dennis Hamlet maß keine eins siebzig und war eher dick als rundlich. Nicht so wie Jerry, aber auf dem Weg dahin. Es sah aus, als würde er unter seinem Anzug noch eine Schicht Kleidung tragen. Wenn man Dennis wie eine von diesen russischen Puppen auseinandernehmen würde, müsste man Hülle um Hülle von Fett abziehen, um endlich das innere Arschloch im Kern zu finden. Sein Lieblingsthema war er selber, er konnte tagelang mit seinen Ermittlungserfolgen angeben, ebenso wie mit den unzähligen Frauen, die er angeblich gevögelt hatte. Wer ihm zuhörte, konnte den Eindruck gewinnen, kein anderer hätte je irgendeinen Verbrecher gefasst. Man ließ ihm seine Storys, was hieß, niemand sagte ihm je, dass er die Schnauze halten solle. Woody kaufte ihm keine einzige ab. Er bezweifelte nicht, dass Dennis seine Fälle löste, war aber sicher, dass es nie so ablief, wie Dennis behauptete. Jede von Dennis’ Geschichten triefte vor Eigenlob und ging wenig ins Detail. Cops stehen auf Details. Nichts ist ihnen lieber als ein Verdächtiger, der sein Leben so weit im Griff hat, dass er sagen kann, was er wann wo getan hat. Sobald ein Detail ausgelassen wird, merkt der Cop das und wird sauer. Er wird sauer, weil es für ihn eine Beleidigung ist. Wenn man mit etwas durchkommen will, indem man etwas auslässt, hält man den Cop für dämlich. Kluge Cops wissen genug, um sauer zu werden. Die dämlichen, die nie etwas schnallen, rollen so lange im Streifenwagen durch die Gegend, bis ihre Pension reicht, um die Rechnungen zu bezahlen. Dennis’ Geschichten ließen in Woodys Kopf die Alarmglocken klingeln; jede einzelne war wie ein »Fuck you« mit endlosen Windungen.
Woody sah, dass Os die Augen verdrehte und nach vorne trat, um Dennis abzuschütteln. Er wusste, was Os von dem drallen Cop hielt.
»Hey, Dennis, was geht?«
»Ich würde sagen, eine Menge, mit der kleinen blonden Fotze da draußen. Wenn nicht sonst jemand seinen Finger drauf hat?«
Os und Woody ließen die Bemerkung kommentarlos verpuffen. Woody wusste nichts zu sagen, die Leiche im Schlafzimmer tauchte bei jedem Blinzeln vor seinen Augen auf.
Dennis hielt das Schweigen für Ermutigung. »Dann steche ich da später mal meine Fahne rein –«
Os drehte sich um. Dennis trat eilig einen Schritt zurück und schaffte es gerade noch, Os auszuweichen, bevor der an ihm vorbeimarschierte.
Dennis sah Woody an und fragte: »Was ist los?«
Woody zuckte die Achseln, gab die Hoffnung auf eine baldige Wirkung des Adderall auf und folgte Os. »Im Schlafzimmer geht’s ab, Dennis. Also los.«
Dennis folgte ihm so dicht auf den Fersen, dass er seinen schnellen Atem hörte.
»Was ist denn passiert? Raub? Ehekrach? Was?«
Woody sagte nichts. Er sah Os mit gesenktem Kopf ins Schlafzimmer gehen. Er bewegte sich immer noch so schwerfällig, als würde er auf das tiefe Ende eines Schwimmbeckens zuwaten. Woody holte tief Luft und betrat das Schlafzimmer. Er sah das Bett und sah Natasha darin liegen. Seine Frau trug noch den Krankenhauskittel, der rechte Arm war von der Bettkante gerutscht. Das Patientenarmband hing lose an ihrem schmalen Handgelenk.
Woody schüttelte den Kopf und ging in die Ecke des Raums. Er blinzelte zweimal und rieb sich die Augen. Das Bild verschwand, Julie war wieder da, tot und entblößt. Er sah Dennis an, der erstarrt in der Tür stand – ein weiteres Opfer der ermordeten Medusa auf dem Bett.
»Was … was zum Henker ist hier passiert?«
Niemand antwortete.
»Im Ernst.