Der Fälscher. Günter Pelzl

Der Fälscher - Günter Pelzl


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mit den Noten Eins für Qualität und Fünf für Normzeit abschloss. Auf jeden Bohrer oder Fräser musste ich besonders lange warten. Leider konnte ich mir diese Art von Aufsässigkeit auch später nicht abgewöhnen. Dass man sich damit das ganze Leben versauen kann, brachte mich bis heute nicht zur Einsicht, dass man es nicht unbedingt laut sagen müsse, wenn einem etwas ungerecht vorkomme.

      Der VEB Carl Zeiss Jena hatte bei Saalfeld ein Kinderferienlager. Da ich ja auch Betriebsangehöriger war, bewarb ich mich dort, um in den Ferien als Helfer zu arbeiten. Das Lager lag in einer Saaleschleife über dem Dorf Remschütz. Meine Aufgabe war es, einen Bungalow zu betreuen, in dem die Kinder Bastelarbeiten durchführen konnten. Das machte viel Spaß, denn jeden Tag kamen andere Gruppen. Wir fertigten Flugzeug- und Schiffs­modelle, kleine Fernrohre und vieles andere. Hier entdeckte ich meine Liebe zur Fotografie. Damals baute Zeiss noch Kleinbildkameras. Ich begann mit einer »Werra 3«. Im Fotolabor des Ferienlagers konnte ich meine Bilder selbst entwickeln.

      Neben den Kindern der Betriebsangehörigen gab es auch zwei Gruppen französischer Mädchen und Jungen. Ihre Dolmetscherin hatte einen eigenartigen Namen. Sie hieß Stuhlsaft und stammte aus dem französischen Elsass. Wenn sie den Namen französisch aussprach, klang das ungeheuer vornehm; manchmal nannten wir sie »Mademoiselle Saftstuhl«, doch sie nahm uns das nicht übel. Hier lernte ich auch einen interessanten Mann kennen. Er hieß Florimond Bonte und war Mitglied des Zentral­komitees der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Von einem Besuch des Konzentrationslagers (KZ) Buchenwald nach Remschütz kommend, um nach den französischen Kindern zu schauen, nutzte er die Zeit seines Aufenthalts bei uns dazu, mich viel über die Einstellung der deutschen Jugend zum Faschismus und zum Krieg zu fragen. Er war schon ein alter Herr, Jahrgang 1890, aber sehr an politischen Dingen interessiert.

      Einige Jahre später schickte mir Florimond Bonte aus Paris ein Buch: Les antifascistes allemands dans la resistance française. Obwohl ich kein Französisch beherrschte, stöberte ich oft in diesem Buch und stieß auf viele Namen, die mir bekannt waren. Seltsamerweise wurde dieses Buch in der DDR nicht verlegt. Das konnte ich mir damals nicht erklären. Möglicherweise gefielen den Obrigkeiten der DDR einige der dort aufgeführten Namen nicht. Trotzdem kam einer von ihnen noch nach der Wende zu großen Ehren: Der Journalist und ­Résistance-Kämpfer Gerhard Leo (1923 – 2009) wurde 2004 vom französischen Präsidenten zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Eine vorherige entsprechende Anfrage an die Bundesregierung blieb unbeantwortet. Die DDR hatte ihm schon den Vaterländischen Verdienstorden in Silber und später in Gold verliehen. Das minderte seinen »Gebrauchswert« im Nachwende-Deutschland erheblich.

      Die Schule beanspruchte mich, wie gesagt, nicht über­mäßig, es gab ja auch noch andere, wichtige Dinge im Leben. Mein Klassenleiter Franz, ein wirklich humanistisch gebildeter Lehrer, erkannte das sofort und ordnete mich in seine Kategorie »stinkend fauler Knochen« ein. Wir kamen gut miteinander aus. Deutsch, Sport und ­Latein waren seine Fächer, aber er sprach auch Französisch und Englisch, und wenn er gut drauf war, rezitierte er vor der Klasse Homers Ilias auf Altgriechisch und fütterte uns mit Jamben und Trochäen. Seine Vortragsweise belustigte mich, und es klang, als würde er beim Rezitieren auf einem Pferd reiten. Vielleicht war es das Dichterross Pegasus, aber das hatte ja Flügel. Die Liebe zur Literatur, und vor allem die zu Goethe und Heine, habe ich zweifels­ohne ihm zu verdanken.

      Unser Russischlehrer hieß auch Franz, aber trug einen anderen Nachnamen. Er war ein wahres Original und konnte keinem Schüler ein Leid zufügen. Er stammte aus den ehemals deutschen, jetzt polnischen Ostgebieten. Nach unserer Meinung beherrschte er weder die polnische noch die deutsche oder gar die russische Sprache richtig. Das war natürlich ein großes Missverständnis und beruhte allein darauf, dass wir, als er das erste Mal vor die Klasse trat und Russisch sprach, kein einziges Wort verstanden. Wir hatten doch schon fünf Jahre Russisch gelernt! Es gab also verschiedene Varianten dieser Sprache, und langsam gewöhnten wir uns an die Polzer’sche. Es war wahrlich kein Vergnügen, wenn man den Leit­artikel der Volkswacht – das war die örtliche SED-Zeitung – vor der Klasse stehend ins Russische übersetzen musste. Alle anderen fanden das ziemlich lustig. Franz hatte ein einfaches System, um zu verhindern, dass einer oder eine übersehen wurde: Er machte hinter dem Namen des nächsten Delinquenten im Klassenbuch einen Punkt mit dem Bleistift. Da das Klassenbuch immer auf dem Lehrertisch herum­lag, bekamen wir das schnell heraus und entschärften sein System: Jeder bekam einen Punkt. Kopfschüttelnd radierte er dann alle Punkte weg und fing wieder bei null an. War er einmal ungerecht, brachte er es im Gegensatz zu den meisten anderen Lehrern fertig, sich vor der Klasse zu entschuldigen. Dafür achteten wir ihn sehr und verziehen ihm seine Fehler, so wie er uns unsere verzieh. Er konnte auch gut Geige spielen, und es gelang uns manchmal, ihn zu einem Extra-Konzert vor der Klasse zu bewegen. Dann spielte er »myslivecku kochanecku«, ein von ihm geliebtes polnisches Volkslied, oder auch klassische Stücke. Wir nutzten es immer dann, wenn wir vor einer Klassenarbeit Schiss hatten. Ich glaube, er durchschaute uns, ließ es sich aber nicht anmerken. Hitlers Krieg, in dem er als Soldat dienen musste, war ihm verhasst, und er wollte diese Einstellung auch auf uns übertragen. Er erzählte uns einmal, wie sie auf dem Rückzug 1943 im eisigen Winter ihre gefallenen Kameraden auf dem Lkw mitnahmen, weil sie keine Zeit hatten, sie zu begraben. Als sie dann doch eine Pause machen konnten, waren die Leichen bereits steinhart gefroren. Einige in der Klasse wurden schon grün im Gesicht, aber Franz hatte sich in Rage geredet und merkte das nicht. So berichtete er weiter, dass sie versuchten, mit Hand­granaten in den harten Boden Gräber zu sprengen. Die Toten passten aber nicht hinein, und so legten sie diese über das Loch und versuchten, sie zu zerbrechen …

      Von einem anderen Kaliber war unser Chemielehrer. Er war ziemlich besessen von seiner Wissenschaft und konnte partout nicht verstehen, wenn einer das nicht so sah. Besonders berüchtigt waren seine Experimente vor der Klasse. Als er uns einmal demonstrieren wollte, wie man einen künstlichen Nebel erzeugt, hatte er sich wohl bei der Menge der sogenannten Berger-Mischung etwas vertan und vernebelte das ganze Schulhaus. Er riss die Tür auf, aber nicht, um zu lüften, sondern um die Reine­machefrauen hereinzuholen. Die sollten sehen, was echte Chemie ist. Wir saßen gehorsam an den Tischen und konnten unseren Vordermann nicht sehen. Ein andermal wollte er uns eine Knallgas-Explosion vorführen. Der Versuchsaufbau war geschickt und nutzte die noch wenig entwickelten technischen Möglichkeiten der DDR. Das Gasgemisch – Sauerstoff und Wasserstoff – befand sich in einem Rundkolben, der zugestöpselt war. In dem Korken steckte innen eine zerbrochene Taschenlampenbirne, das war der Zünder. Darüber kam ein hölzerner Papierkorb als Splitterschutz. Die Drähte führten nach außen durch den Abzug in den vom Klassenraum abgetrennten Vorbereitungsraum. Der Chemielehrer verzog sich hinter die Mauer und zündete. Es knallte ohrenbetäubend, und der Papierkorb hopste einen Meter in die Höhe. Es gab keine Verletzten, nur manche waren für eine Weile taub. Ich hatte damals längst meine Vorliebe für die Chemie entdeckt und wurde oft von ihm im Unterricht mit dem Handwagen des Hausmeisters zur Flora-Drogerie des Doktor Koch abkommandiert, um neue Chemikalien für die Schule abzuholen. »Dir kann ich sowieso nichts mehr beibringen«, meinte er.

      Komplettiert wurde die Reihe der beliebten Lehrkräfte durch den Sportlehrer und Direktor. Er hatte zwar den Spitznamen »Schinder-Otto« von uns bekommen, aber als Pennäler übertrieben wir damals genauso wie die Schüler heute. Er verlangte von uns nicht mehr, als er selbst konnte, ebenso wie Franz, der Deutschlehrer, der uns mit Schlips und pludrigen Trainingshosen am Barren und am Reck Übungen vorturnte, die kaum einer von uns beherrschte. Ottos Söhne waren auch Schüler unserer Schule, aber ich habe niemals bemerkt, dass sie von anderen Lehrern oder von ihm selbst in irgendeiner Weise deshalb bevorzugt wurden. Vom Sport jedenfalls verstand er etwas, das spürten wir nach dem Unterricht noch eine ganze Weile.

      Eine besondere Situation trat ein, als wir einen neuen Klassenlehrer bekamen. Sport, Geschichte und Staatsbürgerkunde waren sein Metier. Als er sich mit den Worten »Mein Name ist Herr Doktor Rauscher« vorstellte, war er bei mir unten durch. Ich hasste Autoritätsbeweise, und das war für mich einer. Eine anhaltende Feindschaft war begründet. Fortan nannte ich ihn nur Herr Rauscher, ohne Doktor. Alle Versuche von ihm, mir bei der Anrede einen Doktortitel abzuringen, scheiterten. Ich konnte eigentlich nur den Kürzeren ziehen. Zu dieser Zeit versuchte ich mich mit meinem Freund Rolf im Boxen. Da Rauscher auch Sportlehrer war, forderte er mich eines Tages nach der Sportstunde hämisch zu einem Boxkampf auf. Ich hatte jede Menge Fans,


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