Der Fälscher. Günter Pelzl
und rannte gleich los, durch die Halle und die Umkleideräume; er immer hinter mir her. Es war ziemlich peinlich. Er schloss mich postwendend von der Klassenfahrt an die Ostsee aus. Gründe dafür hatte er ohnehin genug. Mich ärgerte das nicht. Als er später einmal meine Mutter fragte, was ich gegen ihn einzuwenden hätte, entgegnete sie nur, das solle er mich doch lieber selbst fragen. Das tat er aber nicht.
Das frohe Jugendleben, wie wir es nannten, organisierten wir uns ohne fremde Hilfe selbst. Besonders beliebt waren Tanzveranstaltungen. Da kaum einer in der neunten Klasse Tanzschritte beherrschte, war es Usus, dass alle gemeinsam die Tanzstunden besuchten. Die Tanzschule Zellmann am Camsdorfer Ufer war das einzige Haus am Platze und hatte schon seit 1950 ständig Schülerjahrgänge ausgebildet.
Der Chef war ein stattlicher Mann, seine Frau konnte ihm unter der Achselhöhle durchlaufen, was bei einigen Tanzfiguren möglicherweise recht günstig war. Er achtete penibel auf Etikette und versuchte, uns auch ein Mindestmaß an Benehmen beizubringen, hatte aber bei mir nicht viel Erfolg damit. Sein Sohn und seine Schwiegertochter halfen manchmal aus. Sie unterschieden sich nur durch die Größe der Partnerinnen.
Neben den Standardtänzen wurden noch Boogie-Woogie, Rock ’n’ Roll und Hully-Gully, aber auch heute weitgehend vergessene Tänze, wie zum Beispiel Rheinländer, gelehrt. Musikalisch sind mir besonders in Erinnerung geblieben: Connie Francis mit »Lipstick On Your Collar« und Wanda Jackson mit »Let’s Have A Party«. Da Tanzstunden gewissermaßen öffentliche Veranstaltungen waren, hätte der Hausherr diese Westplatten überhaupt nicht spielen dürfen, doch darüber setzte er sich hinweg, was auch ohne Folgen blieb.
Anzug, weißes Hemd und Schlips waren Pflicht, die Mädchen trugen Röcke oder Kleider. Die Tanzstunde begann immer damit, dass der alte Tanzlehrer Kerzenwachs auf das Parkett schnippelte. Das wurde dadurch höllisch glatt. Wenn er dann in gewohnter Manier »Die Herren bitte!« rief, lagen manche schon auf dem Bauch, bevor sie ihre Partnerin auf der gegenüberliegenden Seite des Saales erreicht hatten. Das war für manch einen praktisch, weil oft die gleichen Mädchen angepeilt wurden. Ich hatte Glück und mir eine feste Tanzpartnerin aus der Parallelklasse organisiert. Ute war eine sehr gute Tänzerin, hübsch dazu, wohnte allerdings außerhalb von Jena. Natürlich war ich in sie verknallt, wie man damals so sagte. Zum Tanzstunden-Abschlussball im Saal des Jenaer Hotels Schwarzer Bär sollten wir dann mit einem Wiener Walzer die Tänzerkolonne anführen. Der Tanzlehrer konnte seine Kerzenschnitzerei nicht lassen, und so legten wir uns beide sozusagen mit Wiener Schwung in der Kurve flach auf das Parkett. Das war höchstpeinlich, aber es ging vorüber. Ute studierte später in Budapest Zahnmedizin, und wir verloren uns leider aus den Augen.
Die musikalisch härteren Sachen gab es beim »Tanztee« in der Wöllnitzer Schönen Aussicht oder im Saal des Rathauses in Camsdorf. Beatles, Rolling Stones und The Kinks bildeten da die Spitzenreiter, und Tee wurde auch nicht ausgeschenkt, obwohl das Tragen eines Schlipses Pflicht war, was nun tatsächlich zum Tee gepasst hätte. Die Bands, die unsere Hits spielten, hießen Ohios oder Tutti, und ihr Englisch war vom Typus »gesungen, wie gehört«, aber uns war das egal, wir konnten es auch nicht besser. Bei Tutti, die sich einfacherweise nach dem Spitznamen ihres Chefs benannt hatten, hatte ich meinen einzigen Auftritt als Sänger mit »Shakin’ All Over« von den Swinging Blue Jeans und »Poor Boy« von den damals beliebten The Lords, einer westdeutschen Rockgruppe. Eine Beat- oder Rockmusik »Made in GDR« entwickelte sich erst allmählich und brauchte eine Weile, bevor sie von uns akzeptiert wurde.
Gingen wir einmal nicht zum »Tanztee«, besuchten wir unsere Lieblingskneipen. Die hießen Fuchsturm, Wilhelmshöhe und Geleitshaus. Später kamen noch Kleinvogels Gaststätte und die Weintanne dazu. Erhalten geblieben ist heute davon nur noch der Fuchsturm. Getrunken wurde Bier, gespielt wurde Doppelkopf, seltener Skat. Das Bier kam noch aus der Jenaer Brauerei, die schon seit 1332 im Felsenkeller Bier braute. Das schaffte sie aber nur bis 1990, dann wich sie höherer Gewalt. Wenn ein Produkt aus dem Osten im wiedervereinigten Deutschland nicht gebraucht wurde, dann war es das Bier.
Im Sommer suchte die Brauerei Jena immer händeringend nach Aushilfskräften. Es bot eine gute Gelegenheit, den Geldbeutel aufzubessern. Zwei Wochen hielt ich später als Student in den endlosen finsteren Gängen des roten Buntsandsteinfelsens durch. Man hatte zwar den Eindruck, dass die Hälfte der Belegschaft ständig im Tran war, aber die Arbeit war einfach.
Ich saß an einem schmalen Band, auf dem die Bierflaschen in mäßigem Tempo an mir vorüberzogen. Ein Kommilitone saß kurz vor mir und fischte aus einem Eimer mit lauwarmem, hefigem Wasser die Flaschenverschlüsse heraus. Irgendein Witzbold hatte die bewährten Kronenverschlüsse aus Blech durch Plasteverschlüsse ersetzt. So etwas nannte man in der DDR »Neuerervorschlag«. Dafür bekam man Geld. Die neuen Verschlüsse waren aus brauner Plaste und sahen aus wie kleine Mützen mit Schirm. Mit dem Schirm konnte man, wenn er kalt war, die Mütze abhebeln. Ansonsten benötigte man eine Wasserpumpenzange.
Diese feuchtwarmen Mützen also setzte mein Mitarbeiter den gefüllten Flaschen auf, und ich musste sie mit einem Holzhammer den Flaschen gewissermaßen über die Ohren kloppen. Am Anfang zerstörte ich jede zweite Flasche, aber ich war geduldig und hatte bald den Bogen heraus. Abends konnte man dann für einen schmalen Taler zwei Flaschen Bier ohne Etikett – den sogenannten Haustrunk – mit nach Hause nehmen. Jetzt war mir auch klar, warum die Belegschaft immer so schräg dreinblickte.
Bei dieser Produktionsweise und bei dem ohnehin hart umkämpften Biermarkt hatte die Jenaer Brauerei nach der Wende nicht den Hauch einer Chance. Nichts erinnert heute mehr an den Spruch »Jenaer Bier – eine Spitzenleistung – seit 1332«. Ein kleines Bier, das waren 0,33 Liter, kostete übrigens 49 DDR-Pfennige aus Aluminium, das sind mit Um- und Abwertungen heutig etwa 12 Cent aus Kupfer. Warum dieselbe Menge Bier theoretisch auf dem Oktoberfest 3,50 Euro kostet, erschließt sich mir nicht. Außerdem würde sich niemand auf dem Oktoberfest trauen, ein Drittel Maß Bier zu bestellen.
6. Kapitel
Zwei unauffällige Herren vom MfS • Feinde und Helden • Getarnt wie Luther • Ich zeige langhaarigen Bayern unser Berlin • Poor Boy und eine Sommerliebe • Wallenstein und das Abitur • Eine folgenschwere Reise nach Polen
Es war 1964 in Gera während einer mehrtätigen Zusammenkunft zur Vorbereitung des »Deutschlandtreffens der Jugend«, das zu Pfingsten in Berlin stattfinden sollte, als ich abends im Aufenthaltsraum von zwei Herren im Anzug angesprochen wurde. Sie verwickelten mich in ein Gespräch über den Sozialismus im Allgemeinen und im Besonderen und fragten mich dann ohne Verrenkungen, ob ich bereit wäre, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten.
Dass es das MfS gab, wusste ich und hatte keine Probleme damit. Westfernsehen gab es bei uns zu Hause nicht, und im Westradio interessierte mich nur die Musik. Radio Luxemburg war immer eine beliebte Quelle. Politische Themen hatten die selten auf der Antenne.
Auf meine Frage hin, was sie sich unter einer Zusammenarbeit so vorstellten, blieben die beiden Herren ziemlich allgemein beim Klassenfeind und seinen Angriffen gegen die DDR, und ich hatte eigentlich nichts dagegen, diesen Feinden ein paar auf die Finger zu hauen.
Schon in der Grundschule hatten wir über aufgedeckte Pläne von Agenten aus dem Westen diskutiert, die vorhatten, die Saaletalsperren zu sprengen. In Jena hätte dann das Wasser zwölf Meter hoch gestanden. Da wären wohl eine Menge von lieben Brüdern und Schwestern in der Zone mit Sicherheit ersoffen. Die Niederlage der amerikanischen Invasoren in der kubanischen Schweinebucht 1961 fiel mir ein und dass die Amis gerade dabei waren, Vietnam zurück in die Steinzeit zu bomben. Che Guevara, Fidel Castro und Ho Chi Minh waren unbestritten aktuelle politische Vorbilder für mich. Kein anderes Ereignis in dieser Zeit hat meinen politischen Werdegang so nachhaltig beeinflusst wie der Vietnamkrieg. Für mich gab es keine Alternative dazu, diesen Krieg mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Dass die westdeutsche Regierung bedingungslos hinter der amerikanischen Politik stand, war kein Geheimnis. Nein, befreundet war ich mit denen nicht, obwohl ich dort jede Menge Tanten und meine Großeltern hatte, die der von den deutschen Faschisten entfesselte Krieg vom Sudetenland nach Stuttgart-Bernhausen in eine Fremdarbeiterbaracke vertrieben hatte. Aber mein Vater hatte sich nie an den Landser-Geschichten beteiligt, die anderen nach dem nötigen Quantum Bier hochkamen.
Konkreter