Der Fälscher. Günter Pelzl

Der Fälscher - Günter Pelzl


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Ruhe, und die ­Sache geriet erst einmal aus meinem Blickfeld.

      Das »Deutschlandtreffen der Jugend« 1964 in Berlin war eine große Sache. Es war das dritte Treffen dieser Art seit dem Bestehen der beiden deutschen Staaten, jedoch das erste, das nach dem Bau der Mauer stattfand. ­Extra aus diesem Anlass wurde das Jugendradioprogramm DT64 eingerichtet. Und mit einem Mal konnte man Rock ’n’ Roll im DDR-Rundfunk hören! »Sweet Little Sixteen« mit Chuck Berry, das war was! Da brachen doch echt neue Zeiten an!

      Ich war inzwischen als IM von der Staatsicherheit angeworben worden. Richtigerweise hieß das: Inoffizieller Mitarbeiter. Welcher Art die Mitarbeit war, legte der Führungsoffizier fest. Meiner hieß Roland und war ein umgänglicher Typ, nicht viel älter als ich. Ich bekam auch einen Decknamen, den sollte ich mir selbst aussuchen. Zuerst fielen mir alle möglichen Namen aus der hero­ischen Geschichte der Kommunistischen Parteien ein, aber dann fand ich das doch übertrieben. Ich wählte den Namen »Jürgen Junk«. Für mich war das eine ironische Wortschüttelei von »Junker Jörg«. Das war einmal der Deckname von Martin Luther. Ich musste das zum Glück nicht erklären, und so blieb ich unentdeckt mit meiner Ironie allein. Das war auch gut so, denn andernfalls hätte ich mir sicher einen neuen Decknamen ausdenken müssen. Ironie und Humor waren beim MfS nie sonderlich gut entwickelt.

      Ich betreute beim »Deutschlandtreffen« in Berlin eine Gruppe westdeutscher Linker, alle aus Bayern, und die meisten waren älter als ich. Den Job hatte mir Roland angeboten. Ich brauchte aber nicht über jeden meiner Linken einen Bericht zu schreiben.

      Diese Westlinken waren ständig auf der Suche nach marxistischer Literatur, wussten aber, dass ihnen das meiste bei der Einreise in die BRD wieder abgenommen werden würde, und so kauften sie alles doppelt und dreifach. Was mich besonders wunderte, war der Umstand, dass sie unser Bier nicht vertrugen, es war ihnen zu stark. Meine Vorstellungen vom Oktoberfest musste ich also korrigieren.

      Als wir dann irgendwo an der Karl-Marx-Allee standen und der Demonstration zuschauten, skandierten meine Westlinken plötzlich lautstark: »Von der Oder bis zum Rhein wird der Sozialismus sein!« Mir fielen sofort die Maas und die Memel ein, und die vor uns Stehenden drehten sich um, um zu sehen, wer hier solche Sprüche abließ. Nun waren meine Jungs an der Haartracht nach DDR-Maßstab nicht gerade als Linke zu erkennen, so dass die sich Umschauenden wohl meinten, das sei eine Provokation von langhaarigen Gammlern. Ich hatte reichlich Mühe, dieses Missverständnis aufzuklären – hatte ich doch selbst lange Haare –, aber es gelang schließlich. Den Spruch fand ich allerdings auch nicht gerade mitreißend revolutionär.

      Mein Studienwunsch war Chemie, daran gab es nichts zu rütteln. Mir hatten es besonders die Farben angetan. Also bewarb ich mich in der elften Klasse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von zu Hause weg wollte ich nicht. Meine Eltern engten mich nicht ein.

      Mit der Aufnahmeprüfung hatte ich keine Probleme. Der prüfende Professor fragte mich, einen Bleistift zwischen den Fingern drehend, warum der gelb sei. Schnell waren wir über die Absorption von Licht bei den Farben, und da war ich in meinem Element.

      1967 wurde ich Kandidat der Sozialistischen Einheits­partei Deutschlands (SED). Mein Deutschlehrer hatte mich geworben. Der Eintritt in die Partei entsprach meinen politischen Auffassungen, und ich kann auch heute nichts Ehrenrühriges an diesen Auffassungen entdecken. Ich war nicht der einzige Kandidat in meiner Klasse. Keiner übte auf mich Druck aus oder lockte mit irgendwelchen Versprechungen.

      Im Sommer nach der elften Klasse besuchte ich ein sogenanntes Lager der Erholung und Arbeit an der Ostsee. An die Arbeit kann ich mich nicht so recht erinnern, wohl aber an die Erholung. Mit von der Partie war die schon genannte Band Tutti, die für den Abschlussabend unbedingt noch einen Sänger suchte, da ihrer aus irgendeinem Grunde nicht einsatzbereit war. Nach ein paar kurzen Proben war ich engagiert und durfte zum Abschluss­konzert ohne Gage die schon erwähnten zwei Titel singen: »Shakin’ All Over« und »Poor Boy«. Das tat ich dann auch, und alle waren zufrieden. Was ich da in meinem Küchenenglisch gesungen hatte, verstand ich erst ein paar Jahre später genauer und war froh, dass sich inzwischen der Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet hatte.

      An diesem Abend lernte ich ein Mädchen kennen. Sie hieß Gundula, aber ihre Freunde nannten sie Gunda. Sie gefiel mir sehr, jedoch für eine Sommerliebe schien es zu spät. Wir kamen gerade noch dazu, unsere Adressen auszutauschen, und ich versprach, sie noch in diesem Sommer zu besuchen. Vielleicht konnte man das mit der Sommerliebe nachholen.

      Tatsächlich machte ich mich ein paar Tage später auf den Weg in Richtung Frankfurt (Oder), um in das Dorf zu gelangen, wo sie wohnte. Wie es sich gehörte, wurde getrampt. Leider ging das nicht so schnell, wie ich angenommen hatte, und so kam ich in stockfinsterer Nacht in diesem Dorf an. Das Haus fand ich bald, aber alles war zappenduster. Zu klingeln traute ich mich nicht. Das Dorf war um diese Zeit so beleuchtet wie jedes Dorf in der DDR – nämlich gar nicht. Die DDR sparte Strom. Das macht heute keiner mehr. Bei der Suche nach einem Nachtquartier für Tramper stand ich plötzlich vor einem Scheunentor. Eine Taschenlampe hatte ich nicht, aber Streichhölzer. Also funzelte ich in der Scheune herum; die Tenne war leer, nur eine Leiter führte auf den Heuboden. Etwas wackelig und ein brennendes Streichholz in der Hand erklomm ich die Leiter. Der Oberboden war auch leer. Nur in einer Ecke lag ein kleiner Haufen, der wie Getreide aussah. Bei der Kokelei mit den Hölzern wurde mir langsam mulmig, ich pustete das Streichholz aus, legte mich einfach auf den Haufen und schlief ein.

      Ich wurde erst wach, als ich das Klappern von Eimern hörte. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass ich bis zum Hals in irgendetwas steckte. Leider war es kein Getreide, sondern die dazugehörige Spreu, die überall in meinen Sachen steckte und heftig piekte. Beim vorsichtigen Blick aus einer Luke erkannte ich, dass ich in der Nacht durch ein offen stehendes Tor mitten auf einen Bauernhof geraten war. Jetzt war guter Rat teuer. Ich konnte doch nicht einfach über den Hof hinausspazieren, auf dem die Bäuerin Hühner fütterte!

      Erst einmal musste ich meine Sachen von diesem ek­ligen Zeug befreien. Ich zog mich bis auf die Haut aus und polkte die Grannen, so gut es ging, aus Hemd und Hosen. Dann kletterte ich die Leiter hinunter und trat auf den Hof. Der war leer. Die Bäuerin werkelte klappernd im Schweinestall. Eigentlich hätte ich nun doch unbemerkt verschwinden können, aber die fünfzig Meter bis zur Straße – und wenn jemand aus dem Haus kam? Also ging ich mit klopfendem Herzen in den Stall und versuchte, der Chefin des Hauses zu erklären, wie ich in ihren Hof und in ihre Scheune gekommen war.

      »Und da oben haben Sie geschlafen?«, sie schüttelte den Kopf. Sie musterte mich und lächelte breit. Vielleicht hatte ich noch ein paar Spelzen auf dem Kopf. Von den Streichhölzern erwähnte ich ihr gegenüber vorsichts­halber nichts.

      Mir wäre es am liebsten gewesen, ich hätte Gunda »zufällig« auf der Straße getroffen, aber das war nicht zu erwarten. Ich musste also wohl oder übel der Familie einen ordentlichen Besuch abstatten. Die Aufnahme war freundlich – sie hatte also ihre Eltern vorbereitet. Es war mir alles etwas ungewohnt und zu offiziell, aber ich riss mich zusammen und spielte den guten Jungen. Auf die Frage, wie lange ich bleiben wolle, antwortete ich spontan: »Zwei oder drei Tage.«

      Ich bekam ein Nachtlager im Wohnzimmer. Gunda und ich spazierten durch das Dorf, sie zeigte mir die Ecken, wo sie als Kind immer gespielt hatte, aber das war schon eine Weile her. Jetzt ging sie in die neunte Klasse der EOS in Frankfurt (Oder). Der erste Tag war schnell vorbei, wenn man vom Familienabendessen absah.

      Schließlich saß ich allein auf meinem Schlafsofa. Ich sah mich im Wohnzimmer um. Zu allererst interessierten mich die Bücher. An den Büchern der Leute konnte man erkennen, mit was für einer Sorte Mensch man es zu tun hatte. Mit kundigem Auge erspähte ich ein in rotes Leinen gebundenes Buch, das wohl schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte. Um es herauszuholen, musste ich die Glastür des Schranks öffnen und erschrak, welchen Lärm das machte. Ich hatte mich nicht getäuscht, das war ein Buch über Sex. Wenn ich mich richtig erinnere, war es Auguste Forels Die sexuelle Frage. Der Untertitel besagte, dass es für Gebildete sei. Ich fing an, darin zu blättern, denn ich hielt mich für gebildet genug. Immer dann, wenn es spannend wurde, verfiel der Autor auf die Idee, in Lateinisch weiterzuschreiben. So gebildet war ich nun aber auch wieder nicht. Diese Geheimniskrämerei ärgerte mich. Plötzlich klapperte


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