Maminkas Sommerküche. Rumjana Zacharieva
Rumjana Zacharieva
Maminkas Sommerküche
Roman
Zacharieva, Rumjana: Maminkas Sommerküche. Frankfurt am Main, Größenwahn Verlag 2020
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-957712-80-6
Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ePub-eBook: 978-3-957712-81-3
Korrektorat: Sophia Krämer
Satz: 3w+p GmbH, Rimpar
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Widmung:
Für meine Töchter Svetlana und Darina und meine Enkelkinder Leonis, Laurent, Aleksandar und Teodora
1
Verwöhnt. Ein schönes Wort war das nicht, und ich trug es wie einen Stempel auf der Stirn. Was war es, das mir dieses Wort eintrug? Etwas mit mir schien nicht in Ordnung. Ich musste unbedingt dahinterkommen! »Achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei!« Das sagte ich immer, wenn ich fluchte.
Jeden Morgen stieg ich auf den Esstisch, hockte mich nackt vor den Spiegel meiner Großmutter Maminka und hoffte, endlich richtige Brüste zu entdecken. Mein Spiegelbild blickte mir matt entgegen: Zwei blasse, bräunlich auslaufende Augen – meine zukünftigen Brüste – sahen mich an und sonst nichts. Ich seufzte und zog mich wieder an. Nur Bedrisch, die einzige Türkin in unserer Klasse, hatte schon ein volles Dekolleté. Trotzdem war sie dreimal sitzengeblieben. Von diesem Standpunkt aus betrachtet war meine Lage nicht so hoffnungslos, wie sie im Spiegel aussah. Dieses Warten auf die Brüste machte mich nervös.
Manchmal, wenn ich die weißen Wände meines Zimmers betrachtete, packte mich die Lust zu malen, am liebsten Freitag und Robinson Crusoe an die Wand über dem Ofen, dazu in der Ferne die Silhouetten der Menschenfresser. Und zwischen Spiegel und Fenster den kleinen Clochard, wie er die Fahne der Revolution auf den Pariser Barrikaden schwenkt.
Ich wollte für die Freiheit sterben. Manchmal. »Pioniere! Man kann Heldentaten vollbringen, wenn man will!« Der Organisationsleiter hatte Recht. Man hätte zum Beispiel mehr Kamille als vorgeschrieben in den Ferien pflücken können. Ich zog es aber vor, für die Freiheit zu sterben, statt Kamille für die Kooperative zu pflücken.
Die Kamille. Nachts träumte ich davon.
Ich schwebe über einem Kamillenblütenfeld. Ich schwebe. Ich trage einen Riesenkorb, und der Korb zieht mich voran. Der Korb verwandelt sich in einen Ballon. Meine Mutter flicht einen Kranz‚ einen Kranz aus Kamillenblüten, und möchte ihn mir im Haar befestigen. Sie läuft durch das Kamillenblütenfeld und ruft meinen Namen, streckt die Hände empor, schreit. Ich aber fliege fort, entferne mich von ihr und vom Kamillenblütenfeld. Dann wird der Korb schwer, so schwer, dass er mich nach unten zieht. Ich falle langsam, halte die Luft an, der Korb ist voll mit dampfenden Kamillenblüten. »Warum hast du die Blüten nicht auf der Zeitung ausgebreitet, Mila?« ruft Großmutter plötzlich, hält sich am Korb fest. Wir versinken in einer Woge aus Kamillenduft, es wird tiefer und tiefer unter mir, ich versinke in einer Flut aus Kamillenblüten, Mutter will mir unbedingt den Kranz ins Haar stecken, sie stolpert, hält sich am Korb fest. »Halt dich fest«, ruft Maminka und streut Kamillenblüten über Mutters schwarzes Haar. »Du hast mich nie Völkerball spielen lassen, Mutter! Ich musste dauernd Brot backen ...«, sagt Mutter zu ihrer Mutter und entfernt sich, versinkt im Zeitlupentempo, und über ihrem Kopf schließt sich das Meer der Blüten. »Du darfst nie wieder die Kamille über Nacht im Korb vergessen! Sie schwitzt dann und ihre Heilkräfte schwinden«, mahnt Maminka. »Lass uns nicht weiter versinken, Großmutter, sonst können wir die Norm nicht erfüllen, und ich stehe da am Anfang des Schuljahres und kriege meine neuen Schulbücher nicht.«
Sieben Kilo Kamille!
Ich gehörte weder zu den Tüchtigsten, die drei, vier Stunden am Tag pflückten, um Geld zu verdienen, noch zu denjenigen, die sich totpflückten, nur damit sie am 15. September, dem ersten Tag des neuen Schuljahres, als Stoßarbeiter gefeiert wurden. Ich wollte weder gelobt noch gefeiert werden. Ich wünschte nicht mal, Geld zu verdienen. Ich wollte bloß meine Schulbücher haben. Sieben Kilo Kamille war der Preis. Zu hoch?
Der Traum endete meistens mit Maminkas Hand auf meiner nassgeschwitzten Stirn und einer Tasse Kamillentee, schwer gesüßt, mit einem über dem Feuer gerösteten Stück Weißbrot und einem unwillig angenommenen Happen salzigen Schafskäses. Später trank ich nur noch Lindenblütentee. Es half nichts. Als erstes musste ich unbedingt einen guten Kamillenpflücker finden. Dieses Gerät, ausgerüstet mit einem rostigen Eisenkamm mit 29 Zähnen, bestand aus einem primitiv zusammengehauenen Kasten. Der Holzkasten wog fast zwei Pfund und fasste zwei bis drei Pfund Kamillenblüten. Mit einer schwungvollen Bewegung führte ich den Eisenkamm durch die Kamille, zog den Kasten hoch, und etwa dreißig Blüten fielen in den Bauch des Holzkastens. In drei Stunden hätte er den Bauch voll haben können. Mein Arm war längst lahm, ich atmete schwer, schwitzte vor Anstrengung und maß die Zeit in Kamillenblütengramm. Mein Sommer hieß Kamille und wog sieben Kilo – von Mitte Juni bis Mitte September.
Nie schaffte ich es, mehr als eine Handvoll Kamille an einem Vormittag zu pflücken. Dann war ich gerädert für den ganzen Tag. Es blieb mir nichts anderes übrig, als jeden Tag zwei Stunden der Kamille zu widmen, sodass ich in einem Monat ... »So ist es auch gemeint«, tröstete mich Maminka. »Die wollen euch doch bloß zeigen, wie man sein Brot verdient ... es ist schon recht so! Und wenn du dumm bist und dir die Ferien damit verdirbst, so ist es deine Sache!«
Ich wollte sterben ... für die Freiheit. Manchmal. Ich stellte mir vor:
Die Tür geht auf, sie treten ein. Die Faschisten. Ledermäntel, Deutschgebrüll. Die Stimme des ersten Ledermantels: »Ihr Name, bitte!« Meine Stimme: »Soja Kosmodemjanskaja, junge sowjetische Partisanin, gequält und ermordet von den Faschisten im Zweiten Weltkrieg!« Die Stimme des zweiten Ledermantels: »Sie lügen! Ihr wahrer Name, bitte!« Meine Stimme: »Rajna die Königin, die 1848 die Fahne der Aufständischen bestickte und im Kampf gegen die Osmanen trug!« Die Stimme des ersten Ledermantels: »Sie lügen schon wieder, aber ... lassen wir das! Haben Sie ...?« Meine Stimme: »Ja, ich habe!« Die Stimme des zweiten Ledermantels: »Abführen! Heil ...!«
Und es tat mir leid, dass es keinen Partisanenkrieg gegen die Faschisten mehr gab. Man hörte im Radio nur noch vom Kalten Krieg, und ich wollte mich daran beteiligen. Ich beschloss, den Organisationsleiter zu fragen, was dieser »Kalte Krieg« eigentlich war, und erst dann ...
Ich stellte mir immer wieder nur etwas Winterliches darunter vor. Ich wollte mich daran beteiligen. Dass ich eines Tages ein Denkmal dafür bekommen würde, stand außer Frage.
2
Sommer. Ferien. Im Radio der Kalte Krieg. Mir gelingt es nicht zu verschlafen: Seit fünf Uhr früh dröhnt der Lautsprecher auf dem Dorfplatz Volkslieder, Meldungen der Volksfront, der Weltpolitik, der Kooperative. Und immer wieder heißt es: »der