Maminkas Sommerküche. Rumjana Zacharieva
»Ja!«
»Was willst du denn stricken?«
»Handschuhe! Handschuhe für den Kalten Krieg!«
3
Es riecht nach Palatschinken. Ich stürze die Treppe hinunter.
Das würde ich im Winter nie tun, da unsere offene Holzterrasse dem Schnee und dem Regen völlig ausgeliefert ist und dauernd einfriert. Eine komische Treppe ist das, die zu der Terrasse hinaufführt: Sie gleicht eher einer Leiter. Zwischen den Stufen kann man bis in den Keller hinabblicken. Wenn Besuch da ist und die Männer im Hof noch eine rauchen und etwas länger schwatzen, gehen die Frauen vor und halten ihre Röcke fest. Der Wind ist tückisch. Es ist still, so still, dass kein Quittenblatt sich rührt. Plötzlich kommt ein Windstoß, als hätte das Kind eines Riesen mal eben über die Straße geprustet. Und wieder ist es still. Maminka ging immer schnell, egal, ob sie etwas die Kellertreppe hinaufschleppte oder den Hof mit leeren Händen durchquerte. Ihre Haltung – die Haltung eines Menschen, der stets gegen den Wind gehen muss. Sie bot dem Wind ihre Stirn und ihre Schulter, die Hände hielten die Röcke fest, als würde sie unentwegt eine steile Treppe hinaufsteigen.
Manchmal weiß ich nicht, ob ich das alles geträumt habe:
Das ... Ein vierjähriges Kind steigt die Treppe hinauf. Es hält seine Röcke fest. Es trägt eine Porzellanschüssel. An den Füßen Maminkas Galoschen. Noch zwei Stufen. Das Kind rutscht aus, schreit nicht. Rutscht durch die zwei obersten Stufen hindurch, bis in den Keller hinab, schreit nicht, hält die Schüssel fest. Die Kichererbsen darin beschreiben einen Bogen, weit, von der zweitobersten Stufe bis zum Keller hinab.
In meinem Magen zieht sich etwas zusammen. Das Gefühl, in einem hinabstürzenden Aufzug zu sitzen ... Das Zusammenziehen im Bauch – damals. Der Vergleich mit dem Aufzug – heute. Der rote Himmel, der sich über meine Augen legt – das Blut, das aus der Kopfwunde fließt. Damals der Schmerz, heute das Bild eines roten Himmels über den Augen. Und immer wieder der Versuch, das Damals nachzuvollziehen. Der Überblick rückwärts und das ungeduldige Klopfen an der Schwelle der damaligen Empfindung. Heute sehe ich. Damals spürte ich: die raue Hand meiner Maminka, die mir frisch abgeschnittene Schafwolle in die Wunde über dem Haaransatz stopft, überzeugt von den Heilkräften jener Stelle, an der sich der Lammschwanz hochstellt, um ein paar schwarze Bohnen abzuschütteln. Djado, mein Großvater, der mich hält und mir schwer ins Gesicht atmet, sein Geruch nach Tabak, Zwiebeln und Schnaps, sein spöttisches Lächeln. »Manche haben Stroh im Kopf, und du – Schafwolle!«
4
Jedes Jahr wurde der Backofen von Maminka eigenhändig repariert und mit Pferdemist verputzt. Für den Mist war ich verantwortlich. Ich verpasste zwar die Morgenportion, da die Herde der Kooperative viel zu früh an unserem Haus vorbei zur Weide zog, aber abends wartete ich genau wie die Nachbarskinder, versteckt hinter der Pforte, die Nase zwischen die Latten gepresst, auf die Herde und zählte jeden Pferdeapfel, der vor unserer Haustür fiel, damit ich ihn, sobald die letzten Tiere vorüber waren, auflesen konnte. Ich war nicht sehr schnell, sodass mir manch kostbarer Pferdeapfel abhandenkam, wenn alle Kinder zugleich ihren Beobachtungsposten verließen und mit Eimern und Schaufeln auf die Straße stürzten. Trotzdem schaffte ich innerhalb einer Woche so viel heran, dass unser Backofen prächtig verputzt werden konnte. Nach ein paar Tagen war er von der bissigen Sonne so weit getrocknet, dass wir das erste Frühjahrsbrot darin backen konnten. Vier Riesenbrote in der Woche. Die Coupons, die uns die Kooperative austeilte, hoben wir für den Winter auf.
Alles läuft immer in gleicher Weise ab: In einer schweren Holzwanne liegt ein Berg aus Mehl. Maminkas Hand gräbt im Vorgebirge eine weiße Grube, in die sie in Blasen aufgequollene Hefe hineingießt. Mit einer regelmäßigen, kreisförmigen Bewegung gräbt sie den Mehlberg unter. Ihre Finger arbeiten sich langsam voran, wie ein Maulwurf, so lange, bis der ganze Berg verschwunden ist. Nur zwei Hände voll Teig sind von ihm übriggeblieben, mickrig, grauweiß. Dann fängt das Kneten an. Ich sehe gespannt zu, wie sich Maminkas Stirn schnell und immer schneller mit kleinen Schweißtropfen bedeckt. Sie sind beinahe kugelrund. Bald ist ihre Oberlippe ganz nass. Die Schweißperlen rollen von der Stirn die Nase herunter und manche landen im Teig. Sie wischt sich das Gesicht mit dem Handrücken und knetet, knetet immer weiter. Ich bin müde vom Zugucken. Fast schlafe ich im Stehen ein. Maminka deckt den Teig liebevoll mit dem schönen handgewebten Tuch aus ihrer Hochzeitstruhe zu. Er muss in der Holzwanne übernachten, »schlafen muss er«, meint sie.
Eines Tages kam mein Großvater herein, volltrunken, wie er es immer um jene Tageszeit war. Er sah Maminka zornig an und schimpfte auf die Kommunisten und ihre ganze Sippe. Sie hätten ihm die Kneipe geraubt und verjubelt. Und er wunderte sich, dass die Amerikaner immer noch nicht da waren, um sie ihm zurückzugeben.
»Möge Gott die Händchen der Kommunisten vergolden, dass sie dir die Kneipe weggenommen haben ... du bist ja auch ohne Kneipe voll ... Und die Amerikaner ...«, fügte Maminka hinzu, »können mir gestohlen bleiben.«
Worauf er mit geballter Faust auf sie losging. Ich sah die fleischige Faust, fühlte den Luftstrom an meinem Gesicht vorbei und streckte den Fuß aus. Djado verlor das Gleichgewicht, und seine Faust landete im Teig.
»Mamka wi!«, fluchte er obszön, irgendeine Mutter betreffend, und schlug zu. Wir rührten uns nicht, platt an die Wand gedrückt. Als ihm die Fäuste wehtaten, nahm er den Teig und schmiss ihn an die Wand. »Mamka wi!«, schrie er dabei, holte den Teig von der Wand herunter, warf ihn in die Holzwanne, schnappte sich die Schaufel und schlug auf ihn ein, bis er selbst, völlig erschöpft, auf den Fußboden sank und – »Mamka wi!« – einschlief.
Maminka pickte die wenigen Holzspäne, die sie fand, aus dem Teig heraus. »So gut war das Brot noch nie durchgeknetet«, meinte sie, legte es vorsichtig wie ein Baby in die Wanne zurück und deckte es wieder zu. Am anderen Morgen war der Teig so aufgegangen, dass er die Holzwanne hinunterlief. Wir mussten ihn vom Boden auflesen und konnten zum ersten Mal fünf statt vier Brote daraus backen.
5
Der Wunsch, etwas länger zu schlafen, war jeden Morgen unwiderstehlich. Wie lange hielt ich es mit geschlossenen Augen aus? Das Zittern der eigenen Wimpern war ein Zeichen des Wachseins, aber solange die Lider geschlossen blieben, war der Tag noch nicht da. Und er blieb draußen, vor dem Tor der Augen, sandte kleine Zeichen an mein Ohr, immer wieder die gleichen Zeichen: das Krähen der Hähne in Baba Penas Hof; das Gurren der Tauben im Geäst des wilden Nussbaumes unterm Fenster; die Stimmen der Frauen der Siebten Brigade, die sich im kurzen Schatten der Trauerweide mitten im Dorf – wie jeden Tag – versammelten, um mit Pferdekarren oder mit einem Laster aufs Feld gefahren zu werden; die Pfeife der Tante Mita, die wieder einmal ihre einzige Milchkuh zum Grasen trieb ... Dann sandte der Tag, jeder Tag von Neuem, seine Gerüche aus. Durch das offene Fenster drang Palatschinkenduft, gemischt mit Rauch und kühler Luft. Dann roch es nach gebranntem Zucker. Ich öffnete die Augen jedes Mal mit dem Gefühl, betrogen zu sein: die Hähne, die Tauben, die Frauen, die Pferdekarren, der Laster, die Mita Maneva mit der Milchkuh ... All das wurde immer zu einem Stück gekalkter Decke über meinem Kopf, wenn ich die Augen öffnete. Die Gewissheit jedoch, dass die Palatschinken noch da waren, ließ mich die Treppe hinuntersausen.
Die Sommerküche war ein dunkles, aus Lehmwänden und zwei winzigen Fenstern bestehendes, viereckiges Loch. Eine Höhle, in der die Gerüche meiner Kindheit dicht aufeinanderprallten, einander bekämpften und durchdrangen: heißes Sonnenblumenöl, Bohnenkraut, Vanille und gebrannter Zucker; Duft nach getrocknetem Mischobst aus Aprikosen, Quitten, Äpfeln und Pflaumen; Duft nach trocknenden Wollsocken und Lindenblüten, Knoblauch und frischgeschnittenen Zwiebeln, brennendem Holz und Essig. Maminka wusch ihr Haar ausschließlich mit Regenwasser und spülte es zum Schluss mit einer dünnen Essiglösung nach. Einmal in der Woche sah ich ihre Haare offen und berührte sie. Sie glänzten, gelöst, in regelmäßigen Wellen.
Ich betrat die Sommerküche. Meine Haut, gespannt von der Kälte der Morgenluft während des kurzen Laufs die offene Treppe hinunter an den Quittenbäumen vorbei, fühlte sich feucht und fast süßklebrig an, sobald mir die mit so vielen Gerüchen getränkte Wärme entgegenschlug.