Maminkas Sommerküche. Rumjana Zacharieva
während sie mich wieder an die Hand nimmt.
Sie führt mich in den Schlafsaal. »Du darfst mit den anderen schlafen!«
Obwohl ich gar nicht müde bin.
Alles im Schlafsaal, in dem die dreißig Kinder auf ihren Betten lagen, war so sehr sauber, dass ich im ersten Augenblick glaubte, im Krankenhaus gelandet zu sein. Ich kam mir auch besonders schmuddelig vor und schämte mich, als ich mein Kleid auszog. Ob der Junge von der Schaukel ...? Ob er wohl den Tomatenfleck auf meinem Unterhemd sah? Hätte ich bloß auf Maminka gehört und gestern Abend das Hemd gewechselt! Dann lagen wir alle zwei Stunden lang ganz still, manche schliefen sogar ein, oder war ich die einzige, die vor Hunger nicht ruhen konnte? Mir schlief stattdessen der linke Arm ein, doch ich wagte nicht, mich umzudrehen. Die Genossin, die am Eingang saß und strickte, nahm jede noch so kleine Bewegung, jedes Geräusch wahr. Sobald sich eine der Decken verdächtig rührte, hob sie den Kopf vom Strickzeug und schmetterte einen furchterregenden, warnenden Blick in Richtung Übeltäter. Dieser Mittagsschlaf war so anstrengend, dass ich nie wieder auf die Idee kam, in den Kindergarten gehen zu wollen.
Ich blieb lieber zu Hause allein mit dem »anderen Zimmer«, mit dem ganzen stillen und auf mich lauernden Haus, allein mit den Gerüchen der Sommerküche und den Hühnern im Hof. Damals gab es keinen Kalten Krieg, oder ich nahm ihn noch nicht wahr. Es gab noch keine Norm zu erfüllen. Die Kamille existierte noch nicht. Sie war da, aber daraus konnte man Armbänder, Kränze und Ringe flechten. Maminka hatte mir beigebracht, wie man aus dem dünnen, zarten Stiel der Kamille eine Schlinge um den Hals der Blüte machte, sodass man beim leichten Ziehen mit der Blüte »schießen« konnte. Es gab noch nicht die Zehn Gebote des Kodex der Pionierorganisation, die später auswendig gelernt und praktiziert werden mussten. Es gab die Fremdwörter nicht, die in »Isten« endeten, wie Faschisten, Kommunisten und Kapitalisten, die später mein Bewusstsein umlagerten. Selbst die Buchstaben existierten nicht, da mir Maminka regelmäßig vorlas. Rajna Knjaginja, Rajna die Königin mit der Fahne der Aufständischen, bedeutete mir noch gar nichts. Nur wenn ich fiel und mir die Knie aufschlug und heulen wollte, hörte ich von der tapferen Soja Kosmodemjanskaja, die niemals weinte. Ich wusste noch nichts von ihren Qualen, von ihrem Märtyrertod, die Faschisten waren mir noch kein Begriff.
Ich falle hin, stehe auf, schweige, reibe das Knie, weine nicht. Fünf Jahre alt und weine nicht. »Du bist unsere tapfere Soja, nicht wahr?«, höre ich Vaters Stimme, und ich weiß, dass ich immer tapfer sein werde, komme, was wolle. Später, beim Abschied im Bus – in zwei Wochen kommen Vater und Mutter wieder zu Besuch – weine ich lauthals. Es läuft mir aus Nase und Augen, ich schäme mich, weil ich Soja Kosmodemjanskaja verraten habe.
10
Stets stand jemand neben mir. Genau besehen stand er in mir und ließ sich überallhin mitnehmen, mittragen, mitschleppen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Mein schlechtes Gewissen war stets sauber frisiert und sauber gekleidet. Es schaute sich die Spinnweben an, während ich unterm Holzstapel hockte und dem Truthahn zusah, wie er seine Henne bestieg. Es wechselte das Unterhemd und passte auf, dass kein Tomatenfleck darauf kam. Es drehte sich schnell weg, während ich mit offenem Mund und pochendem Herzen den Kampf meiner jüngsten Tante mit ihrem Bräutigam unter der Decke im »anderen Zimmer« verfolgte, und es gesellte sich zum Organisationsleiter, während er von Heldentaten sprach. Mein schlechtes Gewissen pochte an meinen Schläfen und regte sich wegen der Kamille auf. Ich beneidete es um seine klaren Vorstellungen, um seine Fähigkeit, alles zu behalten und stets da zu sein, auch wenn es nicht im Geringsten gebraucht wurde.
Vor lauter Aufregung wegen der Kamille hatte ich meine Leseliste völlig vergessen und dadurch schon etwas Zeit verloren. Tags zuvor, als ich vom Pescho Kojkata mit dem entliehenen Kamillenpflücker zurückgekehrt war – mir war ein Stein vom Herzen gefallen – räumte ich meine alten Schulbücher vom Tisch weg und stellte mir schon voller Hoffnung die neuen vor, da fiel mir die Sommerleseliste mit der Pflichtlektüre in die Hand. »Verdammt!«
Ich sagte nicht »verdammt!«, sondern »Achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei!« Das sagte ich immer, wenn ich fluchte. Das war der Fluch, den ich als Vierjährige zum ersten Mal von mir gegeben hatte. Ihm war ich treu geblieben und gebrauchte ihn in solchen Situationen. Am Samstag hatte ich mir schon »Der Glöckner von Notre-Dame« und »Du und Ich – Alles über die geschlechtlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau« aus der Bibliothek ausgeliehen und freute mich darauf. Dafür hatte ich jetzt keine Zeit mehr. Ich schaute mir die Sommerleseliste mit der Pflichtlektüre von Mitte Juni bis Mitte September an und zählte die Titel: zweiundzwanzig! Bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass ich acht davon schon gelesen hatte; manche waren vom vorigen Sommer in die neue Leseliste übernommen worden. Wäre die Kamille nicht gewesen ... Ich stellte mir das so vor: vormittags würde ich meine Pflichtlektüre erledigen, nachmittags und abends hätte ich Zeit für meine Bücher gehabt. Für die Bücher, die ich lesen wollte.
Der Nachmittag kriecht unter die ausgebreiteten Flügel der Hühner und unter die Holzstapel im Hof der Nachbarn. Dort ist es schattig. Dort lässt es sich vorübergehend aushalten. Maminka klappert mit den Tellern in der Sommerküche, Djado ist mit seinem Traktor schon um drei Uhr früh losgefahren und ist wie immer nicht da. Ich bin satt, aber ich öffne den Küchenschrank. Ich nehme mir ein Stück Weißbrot, das von der Hitze ein wenig muffig riecht, bestreue es mit Salz und süßer Paprika, manchmal auch mit Til Piper, und der siebenfache Geruch dieses Mischgewürzes lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen in einer maßlosen Vorfreude.
Ich verkrieche mich ins Bett und lese und lese. »Du und Ich«, während mir mein schlechtes Gewissen den Rücken kehrt und den Tauben unter dem Fenster zuhört, wie sie einander umwerben, trotz der Hitze. Das Buch hatte Kaka Donka, eine ältere Freundin von mir, für mich aus der Bibliothek entliehen – natürlich keine Pflichtlektüre. Sie lasen so was erst in der achten Klasse. Ich musste nur ganz genau aufpassen, dass mich Maminka dabei nicht erwischte. Kaka Donka hatte mir versprochen, mir dann alles zu erklären. Sie war nicht sehr groß, sah aber wie eine erwachsene Frau aus: sehr breit in der Hüfte, mit ein wenig krummen Beinen und schmalen Brüsten, die sich flüchtig sehen ließen beim Haarewaschen. Ich sah ihr dabei oft zu und goss ihr das Wasser aus der Zinnkanne über den Kopf. Allerdings gefiel mir der Geruch ihrer Seife nicht: die aus Schweineschwarten selbstgekochte Seife roch penetrant. Diese Seife benutzte Maminka nur, wenn sie die mit Maschinenöl verschmutzten Hosen und Jacken von Djado wusch, sonst nie.
Ich lese. Mir wird es schwindelig vor Aufregung, dass ich so früh aufgeklärt werde. Das hat mit mir noch wenig zu tun, aber ich ahne Zusammenhänge. Das hat mit dem plötzlichen Verstummen der Erwachsenen zu tun, wenn ich das Zimmer betrete, mit dem Kichern der Mädchen aus der achten Klasse, wenn ihnen die Jungen unter die Röcke greifen, mit dem Klopfen an verschlossenen Türen und mit meinem Hocken hinter dem Holzstapel, wenn der Truthahn ... Das alles schwebt in der Luft. Wie Strom, der mich töten kann. Die Buchstaben des Untertitels sind dick, rund und schwarz – Insekten, die sich vollgesogen haben: »Alles über die geschlechtlichen Beziehungen« ... Wie hält das die Titelseite aus?
Ich hatte Angst, dass man das Buch bei mir finden würde. Ich hielt es in einem Strohkissen versteckt. Das Kissen lag ganz unauffällig auf meinem Bett. Den Saum hatte ich wieder zugenäht, nur ganz lose, sodass ich nachts den Faden ganz schnell herausziehen konnte. Wenn ich dann spät, ganz müde, »Du und Ich« schloss, schob ich es wieder in das Kissen zurück, nähte den Saum lose zu und legte mich schlafen.
Das Licht ist aus. Durch das offene Fenster greifen die Zweige des Nussbaums. Frösche quaken. Hin und wieder Schritte unterm Fenster: mal schlurfend, mal fest und abgehackt. Geräusche aus der Kneipe gegenüber, die längst nicht mehr Djados eigene Kneipe ist. Ich schließe die Augen. An ihrer roten Leinwand die Zeichnung, riesengroß, so groß wie die Plakate am Eingang der Kooperative, die zur früheren Erfüllung des Jahresplans auffordern. Die Zeichnung des männlichen Geschlechts, alles mit Pfeilen und Erklärungen, haargenau beschrieben! Mir wird heiß. Mein schlechtes Gewissen verkriecht sich unter der Decke, hält Augen und Ohren zu: So also sieht mein Vater aus! Kein Wunder, dass er sich mir noch niemals nackt vorgestellt hat! Ich hätte es auch nicht getan, wenn ich so ’n Dings da vorne hätte!
Sieben Kilo Kamille, zweiundzwanzig Bücher Pflichtlektüre, der Truthahn ... Alles