Maminkas Sommerküche. Rumjana Zacharieva

Maminkas Sommerküche - Rumjana Zacharieva


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mir der Truthahn ziemlich unnütz zu sein: bloß fressen, die Henne besteigen und noch nicht mal Eier legen!

      Wie oft blieb ich auf dem Boden liegen, während die Steinchen und die trockenen Klümpchen Erde meine nackten Knie und meine Handflächen blutig rissen. So war es gut: über mir die Mirabellen und die grünen Spinnennetze, die Blätter, die unentwegt miteinander tuschelten, der Schmerz an den Knien und den Handflächen. Stummsein. Wehtun. Warten. Das hatte viel miteinander zu tun.

      Maminkas langgezogenes »Kooomm!« schreckt mich auf. Ich springe auf, reibe meine Knie, entferne vorsichtig, aber hastig die kleinen Steinchen und die Erdkrümel, verschmiere das Blut. »Ich kooooomme!« Ob Großmutter gemerkt hat, dass ich die zwei da beim Liebesspiel beobachtet habe?

      Ich nähere mich Maminka langsam, sehr langsam, am Nussbaum vorbei. Mein Schatten geht mir brav nach, dann geht er Maminkas Schatten nach.

      »Ich muss ein Körbchen für die Kamille mitnehmen, nicht wahr?« Mein Schatten steckt den Holzkamm in die Schürze, während Maminkas Schatten beschwichtigend auf ihn einredet: »Nimm lieber eine Tasse mit, Mila! Mehr schaffst du sowieso nicht mit dem Kamm.« Großmutters Schatten breitet verzweifelt die Arme aus, schlägt sich mit beiden Händen an den Kopf: »Sieben Kilo Kamille, Gott sei mit Euch!«

      Mein Schatten zuckt mit den Schultern. Er weiß nicht genau, mit wem Gott sein soll. Mit denen, die uns diese Norm auferlegt haben, oder mit mir und den anderen Kindern, die die Norm erfüllen müssen?

      7

      Maminka kochte die beste Brennnesselsuppe, die ich je gegessen habe. Im Frühjahr, ehe der Spinat noch ans Wachsen dachte, war sie schon da. Wir alle, geplagt vom grünen Hunger, konnten das erste Grün nicht abwarten. Unsere Bäuche, verwöhnt, gereizt und einen Winter lang geplagt durch das sauer eingelegte Gemüse, »den Wintersalat«, wie man es nannte, und durch das Sauerkraut, sehnten uns nach einem frischen Blatt. Und das erste Essbare, das man entlang der Steinmauern und unter den Holzstapeln fand, war die Brennnessel. Wir bereiteten daraus den ersten Frühlingssalat, die erste Frühlingssuppe und sogar den ersten grünen Auflauf mit Reis, Zwiebeln und Eiern. Die Brennnessel gab es fast das ganze Jahr über bis zum späten Herbst, doch sie verlor ihre Anziehungskraft, sobald der Kopfsalat, die Radieschen und die Lauchzwiebeln geerntet wurden. Im Sommer kam es höchst selten vor, dass man eine Brennnesselsuppe vorgesetzt bekam; die gab es nur dann, wenn Großvater großen Hunger hatte und es nicht abwarten könnte, dass das eigentliche Essen auf dem Herd fertig war.

      Wir gehen durch das leere Dorf. Es ist heiß und staubig. Wir nähern uns der Blindengasse und ziehen unsere Schuhe aus. Der Staub glüht – ein vertrautes Gefühl. Ich beobachte Großmutters Füße.

      »Warum hast du nur vier Zehen, Maminka?«

      »Djado Minko, dein Urgroßvater, hat mir den einen Zeh abgeschnitten, als ich klein war ...«

      Die Sonne prallt auf meinen Kopf.

      »So klein wie du, Mila.«

      Und während ihre dünnen Lippen die einzelnen Worte formen, schaudert es mich; sie ist es nicht, die spricht, ich bin es, die von damals ausrückt, und während ich dies heute erzähle, werden die Mila und die Maminka eins. Djado Minko nähert sich, mit dem Taschenmesser in der Hand, dem Kind.

      »Es tut nicht weh, pass auf, es tut nicht weh ... Der Zeh muss weg, sonst stirbst du ... mit einem blauen Pickel ist nicht zu spaßen!«

      Da schreit ein Kind durch die Blindengasse, der Schmerz zerschellt an den Fensterscheiben, die Fensterscheiben sind mit Reispapier versperrt. Das Dorf ist leer, und der Schrei verdampft an den Wänden der heißen Häuser. Da brüllt ein Kind vierzig Jahre zurück in der Zeit und fast dreißig Jahre vorwärts, bis der Klageton eins wird und zu Buchstaben erstarrt. Da tritt plötzlich die alte Frau aus dem Kind heraus, setzt sich an den Rand der staubigen Straße, aus der einen werden zwei.

      »Ist ja gut, mein Kind, es hat nur ganz kurz wehgetan ... hast du denn schon wieder kein Taschentuch? Mila! Wie oft soll ich dir das sagen, der Djado Minko hat es richtig gemacht! Er hat das Messer vorher in den Schnaps getaucht, und wie du siehst, lebe ich noch!«

      Ich stand auf. Meine Handflächen waren feucht geworden, und ich merkte, dass ich vor Angst einen steifen Hals bekommen hatte. Maminka zog die Gummigaloschen wieder an, holte die Lederhandschuhe aus dem bunten Säckchen heraus, zog sie an und trat in die Brennnesseln hinein. Sie suchte die jüngsten Pflanzen, die an den Wurzeln seitwärts sprossen, und verstaute sie in ihrem Wollsäckchen. Ich zog meine Schlappen auch an. Die durchgeschwitzten Socken ließ ich in der Sonne lüften. Dann nahm ich den Holzkamm und beugte mich über das kleine Meer Kamille, das die Brennnesseln umgab. Der Kamm hatte vierundzwanzig Zähne; es passten genau dreiundzwanzig Kamillenblüten hinein. Ein Schwung mit dem Kamm durch die Kamille und hochziehen, als würde ich die Blüten kämmen. Die Hälfte fiel sofort wieder auf den Boden. Der Grund meiner Tasse wurde mit dem Rest der Blüten kaum bedeckt. Ob ich schon zehn Gramm gepflückt habe? Ich muss unbedingt einen richtigen Kamillenpflücker haben, sonst bin ich erledigt, dachte ich unentwegt.

      Nach einer halben Stunde war meine Tasse fast voll, Maminkas Wollsäckchen mit den Brennnesseln auch, und wir machten uns auf den Weg nach Hause.

      »Wie viel hab’ ich denn wohl gepflückt, Maminka?«, versuchte ich das Gewicht in der vollen Tasse zu schätzen. »100 Gramm vielleicht?«

      »Höchstens fünfzig, Mila ... doch bis Montag sind es nur noch 25 Gramm.« Maminkas Antwort traf mich völlig unvorbereitet. Die Kamille trocknete schnell aus, das war es! Ich schaute sie verzweifelt an. »... wir packen das schon!«, klang Großmutter sicher, aber ich war untröstlich. Später erfuhr ich, dass man uns drei Kilo getrocknete oder sieben Kilo frische Kamille als erfüllte Norm anerkannte.

      Aber erst viel später.

      8

      Das Weib, das das Wort »verwöhnt« hatte fallenlassen, war längst weg. Das hatte ich schon mehrere Male gehört, fast immer, wenn mich meine Eltern an der Bushaltestelle abküssten. Ich mochte keine nassen Küsse und ließ sie nur zu, wenn es unumgänglich war.

      Der Bus fährt ab.

      Mich packt etwas an der Gurgel, so fest, als würde mir eine Schlinge umgelegt. Man zieht zwar nicht zu, aber die Angst vor der Schlinge reicht. Dann klammere ich mich an Mutters Hals fest. Der Schaffner blickt finster drein, es eilt ... Die nassen Küsse machen mir nichts mehr aus, mir läuft es gleichermaßen aus Nase und Augen. Meine Lippen schwellen an, die Haut spannt sich.

      Der Bus fährt ab.

      Ich klammere mich an Maminkas Hals fest, so fest, als würde ich selbst die Schlinge zuziehen, doch nicht mehr um meinen eigenen Hals. Ein unsichtbarer Scheibenwischer verschmiert meine Sicht.

      Der Bus fährt ab.

      Ich rieche ihn, ich höre ihn, ich fühle die Schwingungen des großen Körpers, vollgestopft mit neugierigen Blicken. Maminka und ich schreiten ganz langsam, als würden wir eine riesige Glaskugel zwischen uns tragen, als hätten wir Angst, sie würde beim ersten unvorsichtigen Wort oder Schritt einfach zerspringen. Mein Blick klärt sich mit jedem Schritt mehr; die Häuser sind wieder da, den Bordstein kann ich am Rande erkennen. Meine Muskeln werden auf einmal locker, fast weich, in mir breitet sich ein weiches, weißes Kissen aus. Das Kissen ist so groß, dass ich ganz darauf passe. Eingerollt in mir selbst, ruhig und frei‚ werde ich da liegen bis zum nächsten Mal.

      In zwei Wochen besuchen uns Mutter und Vater wieder.

      Nie wusste ich, wann der Bus ankam. Nie wusste ich, mit welchem Bus sie fuhren. Ich wusste nur, dass es heute sein sollte. So bestand Heute aus lauter ineinander verwobenen Spannungsmustern, die mit jeder vergangenen Stunde lichter und greller wurden: das Hinaufklettern auf die Fensterbank, das Überblicken des Dorfplatzes mit der Wasserstelle und dem langen, schmalen Trauerweidenschatten, der bis zum Mittag schrumpfte und den Platz freigab, dafür aber dicker wurde, um gegen Abend wieder lang und schmal zu werden ... Das Verharren mit Blick auf die Straße, das Steifwerden, das Ausmachen des ersten Staubwölkchens, das aus Richtung Stadt aufflammte ...

      Erst


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