Maminkas Sommerküche. Rumjana Zacharieva
auf den Teller. »Iss!«
Ich esse. Ich schaue ihr zu, wie sie die Haare löst, wie sie mit den flinken Bewegungen ihrer Finger die zwei langen Seile von Zöpfen löst und sich in eine Königin verwandelt. Mit dem Holzkamm kämmt sie das fließende Haar, das Haar aus Kupfer.
»Iss weiter, ich muss das ja auch mal machen, später hab’ ich keine Zeit«. Sie fühlt sich schuldig, dass sie die Pracht vor mir ausbreitet, Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter! Ich schaue ihr wie gebannt zu. Ist sie es, die kleine flinke Frau, die immer dem Wind Schulter und Stirn bietet, wenn sie mit leeren Händen den Hof durchquert oder Schweres die Kellertreppe hinaufschleppt, abgearbeitet und überwiegend schweigsam, dem Suff, dem Zorn, der Tyrannei Großvaters ausgesetzt? Ist sie es, meine Maminka, oder ist sie die Loreley oder Rapunzel, oder irgendeine Prinzessin, eine Königin aus den slawischen oder deutschen Märchen, die ich so gern lese?
Die Verwandlung Maminkas verzaubert mich, ich wage es nicht, den Tisch mit den Palatschinken zu verlassen, zu ihr zu gehen und mich umarmen zu lassen, die langen Haare im Gesicht zu spüren, nein, da darf nur die Sonne hin, die den Quittenbaum verlässt, das Fensterglas in tausend Kristallen bricht und in den Kupferhaaren meiner Maminka schwelgt. Ich schaue ihr zu, und mir wird bewusst, wie jung sie ist. Sie ist meine Großmutter, aber sie hätte meine Mutter sein können, denn Maminka ist jung und hübsch mit ihren Kupferhaaren und grünen Augen, mit ihrem schmalen Körper; aber vor lauter Arbeit und Kummer merkt keiner, wie hübsch sie ist. Nur ich.
Ich kaue langsam die Palatschinken mit der doppelt gekochten Quittenmarmelade. So treibt Maminka ihr den Schimmel aus: gekocht, verkocht, bis sie tot wird und von der ganzen Marmelade nichts als Zucker und ein köstlicher Geschmack übrigbleibt. Ich kaue, schaue ihr zu, und erst, wenn es anfängt, nach Essig zu riechen, bleibt vom Zauber nichts mehr übrig, nur zwei Seile von nassen Kupferzöpfen.
Die Sonne kehrt in den Quittenbaum zurück, kittet beim Hinausschlüpfen das Fensterglas; mich erfüllt ein bekanntes Gefühl: Ich habe viel Zeit vor mir, ich habe viel zu tun und weiß nicht, was ich zuerst tun soll. Maminka meint, ich soll zuerst spielen gehen.
»Und die Kamille?«
»Es braucht ja nicht gleich am ersten Tag zu sein«. Sie nippt an ihrem schwergesüßten Lindenblütentee.
Sie weiß, wie unglücklich ich bin, da es Sonntag ist und ich mir keinen Kamillenpflücker ausleihen kann. Beim Abräumen des Tisches verspricht sie mir, mit mir in die Blindengasse zu gehen und dort etwas Brennnesseln zu pflücken, während ich Kamille pflücke. Maminka steht langsam vom Tisch auf. Ihre Hand verselbstständigt sich, greift in die Tasche der ausgebleichten Schürze.
»Nimm ihn ...«, reicht mir ihren Holzkamm, der breite und dicke Zähne hat, »damit kannst du bis morgen Kamille pflücken, dann sehen wir weiter! Verlier ihn bloß nicht, ich habe keinen anderen!«
Ich laufe hinaus, ein letztes Bild im Kopf: Maminka gegen die Tür, im Gegenlicht, ruhig, undurchsichtig. Ein Schatten.
6
Jedes Mal, wenn ich das »andere Zimmer« betrat, hielt ich den Atem an. Es war wirklich anders als alle anderen Zimmer. Es war stets aufgeräumt und wurde nur dann betreten, wenn Maminka etwas aus ihrer Hochzeitstruhe holen musste oder wenn Gäste da waren. Meine Eltern schliefen immer dort, wenn sie uns besuchten. Meine Tanten mit ihren Männern auch.
Eines Tages betrat ich das »andere Zimmer«‚ ohne zu klopfen. Im Bett kämpfte meine jüngste Tante mit ihrem Bräutigam und hatte ein rotes Gesicht, als hätte sie stundenlang vor dem Backofen gestanden. Dabei schien der Kampf nach vorgeschriebenen Regeln zu verlaufen. Die Bewegungen unter der Decke waren heftig und regelmäßig, und der Onkel grunzte und atmete tief. Es berührte mich unangenehm, und ich vergaß es schnell oder versuchte es zu vergessen.
Danach klopfte ich an jede Tür und wartete lange, ehe ich irgendwo eintrat, auch wenn wir keine Gäste hatten.
Ich klopfe an. Ich betrete das »andere Zimmer«. Kühle. Ich bin barfuß. Unter den Fußsohlen das noppige Muster des handgewebten Teppichs. Es riecht nach Mottenpulver und Lindenblüten. Durch die geschlossenen Fenster, verdunkelt mit Reispapier, wird das grelle Licht gefiltert. Auf der Fensterbank die toten Mücken und Fliegen, ausgetrocknet. Das Bett: leer. Auf der Fensterbank: die Schachtel Pralinen. Jeden Tag darf ich nur einmal hinein, jeden Tag nur eine Praline, damit sie bis zum Ende des Monats reichen – bis Mutter und Vater aus der Stadt eine neue Schachtel geschickt haben. Mein Herz schlägt hoch bis in den Hals: Und was wäre, wenn ich mal zwei nähme? Manchmal sind es keine Pralinen. Manchmal sind es Orangen. Dann darf ich nur eine halbe haben, die zweite Hälfte bleibt für den nächsten Tag. Es sind keine Orangen, die auf der Fensterbank auf mich warten, es sind kleine runde Sonnen, die im Mund zergehen und die ich am liebsten mit der Schale essen würde, aber ich darf es nicht.
Ich betrat das »andere Zimmer«, und während ich mit geschlossenen Augen die Praline oder die halbe Orange im Mund zergehen ließ, sah ich Schiffe, beladen mit Orangen und Schokolade. Das Häuschen von Hänsel und Gretel war nichts im Vergleich mit meinen Fantasien, mit meiner Gier nach Süßem. Ich wagte es nie, eine zweite Praline oder die zweite Hälfte der Orange aufzuessen.
Im »anderen Zimmer«, neben der Nähmaschine, steht der Sack mit dem Würfelzucker an die Wand gelehnt. Ein Zentner Zucker in großen, 50 oder 100 Gramm schweren Würfeln lagert dort, und ich hole mir einen Würfel heraus, hocke mich neben den Sack hin und knabbere an dem Zucker, bis Maminka mich ruft. Dann schiebe ich den angeknabberten Würfel in die Schürzentasche und gehe hinaus.
Die Äpfel sind schon faustgroß, aber immer noch sauer. Ich hole mir einen vom Baum, werfe ihn hundertmal gegen die Hauswand, fange ihn auf und immer wieder gegen die Wand, bis er rundum weicher geworden und mit braunen Druckstellen bedeckt ist und der saure Saft an manchen Stellen herausspritzt. Dann eine Untertasse mit zerstampftem Würfelzucker holen, abbeißen, in den Zucker tunken, den sauren Saft, mit Zucker gemischt, durch die Zähne fließen lassen, träumen von Schiffen, beladen mit Schokolade und Orangen.
Neben dem Sack mit dem Würfelzucker im »anderen Zimmer« zu hocken und zu träumen war jedoch weit weniger aufregend, als hinter dem Holzstapel im Hof zu hocken und zu warten. Bis Montag hatte ich mein Problem gelöst. Endlich konnte ich in Ruhe hinter dem Stall verschwinden und darauf warten, dass der Truthahn die Henne bestieg. Ich musste nur aufpassen, dass mich keiner sah, musste so tun, als ob ich spielte! Maminka ahnte meine schlimmen Gedanken nicht und goss gerade das Seifenwasser von der Wäsche an die Quittenbäume. Sie meinte, Seifenwasser sei gut für die Quitten.
Ich hockte mich hinter einen Stapel Holz und wartete. Die Hühner ächzen und beklagen die Mittagshitze, obwohl es noch längst kein Mittag ist. Das Dorf ist leer. Das dumpfe Brummen der Traktoren da draußen im Feld, das Krächzen der Säge, die sich jeden Tag um diese Zeit meldet. Über meinem Kopf die heranreifenden Mirabellen, die Blätter und die grünen, sonnigen Spinnweben. Manchmal kriecht mir ein unsichtbarer Faden übers Gesicht. Ich warte. Ich wage nicht, die Backsteinsplitter umzudrehen, obwohl ich es gerne täte: Unter jedem Backstein wohnt ein Regenwurm.
Da sind sie! Die Truthenne schreitet geziert, passt auf, dass sie nicht in Hühnerkacke tritt, und pickt unentwegt irgendetwas vom Boden auf. Es sieht so aus, als würde sie der Truthahn überhaupt nicht interessieren. Er plustert sich auf. Er ist ganz rot im Gesicht. Er tanzt, er tobt: »Sieh mich an, ich komme!« Mein Herz schlägt schneller. Was ist es denn, dieses Etwas, das sich mit jedem aufgewirbelten Staubwölkchen unter den Füßen des Truthahns in mir breit macht? Ich bücke mich, knie mich hin, stütze mich mit den Händen auf den Boden, liege fast unter dem Stapel Holz. Ich will alles sehen, alles, was sich sehen lässt! Jahrelang glaubte ich, das Geschlecht des Truthahns hinge ihm von der Nase herunter – bis ich eines Tages merkte, dass er genau wie der Hahn die Henne bestieg und seinen Hintern an ihrem Hintern festdrückte. Dass das Weibchen immer dem Männchen unterlag, empfand ich als ungerecht. Und es schmerzte mich, wenn der Truthahn seiner Henne die Federn mit den Krallen auszureißen begann, sobald sie unter ihm lag.
Wenn Maminka einen Hahn geschlachtet hatte, holte sie ihm vorsichtig die Eier heraus. Gekocht schmeckten sie besonders gut, und sie legte sie immer auf meinen Teller. »Ich verstehe nur nicht, warum