Maminkas Sommerküche. Rumjana Zacharieva

Maminkas Sommerküche - Rumjana Zacharieva


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die Zähne der Krempel, und die Krempel ist immer hungrig ... Mit dem Zischen des heißen Wassers auf den Backsteinen kehrt die Zeit in Djados Gesicht zurück, er zeigt mir den verstümmelten Zeigefinger. Er hatte ihn sofort in den Schnaps getunkt, gleichzeitig die Flasche geleert und war zu Maminka gerannt.

      »Mich holen sie nicht mehr! Mich in die Kaserne einsperren? Nein!«

      Maminka rührt im Topf herum.

      »So einer ist das, Mila!« Maminka gießt etwas Wasser nach und stellt den Kessel wieder auf die Herdplatte. »Mach dem Kind keine Angst, du Protznase, du! Und sowas nennt sich Patriot!«

      »Nochmal!« Djado greift zum Kessel. »Nicht mal das Kochen konnte ich dir in dreißig Jahren beibringen! Was knappst du denn mit dem Wasser so rum!«

      »Nicht mal das Kochen ...«

      Dies war der Anfang eines Streits, der gewöhnlich damit endete, dass Djado zum Trost noch einen Schnaps kippte und den Weg zur Kneipe einschlug. Wenn Großvater aber zum Schlachten erwartet wurde, blieb er eisern. Er ging immer nüchtern hin. Jedes Mal ließ er sich mit Fleisch ausbezahlen. Fast zwei Monate lang hatten wir dann regelmäßig Fleisch auf dem Tisch, mindestens zweimal in der Woche. Nichts schmeckte so gut wie gebratenes Fleisch! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir jeden Tag Fleischgerichte gegessen. Doch wir lebten in einer mageren Zeit.

      Ich gehe durch das Dorf, und es ist Sommer. Ich denke immer noch an Djado – und an das faszinierende Spiel der Jahreszeiten in meinem Kopf. Ich komme mir allmächtig vor, denn ich brauche nicht mal die Augen zu schließen, um den Winter zu rufen, die Zeit zu verlängern oder sie zu verkürzen, die unendliche Freiheit, die Zauberei im Kopf, ja, alles, was ich bewirken kann. Ich denke an Djado. Ich gehe jetzt durch verschneite Straßen. Es schaudert mich vor allem an Sonntagen, denn sonntags werden die Schweine geschlachtet. Da schreien wenigstens drei oder vier Tiere auf einmal. Jetzt werden sie mit den Messern durchbohrt, je ungeschickter der Schlachter, desto länger die Qual für das Tier. Ich bin stolz auf Djado. Bei ihm gibt es kein Gebrüll: ein Stich, ein Schrei, und das Tier ist erlöst.

      Unser Schwein weiß nicht, dass es geschlachtet wird. Unser Schwein bekommt einen letzten Napf mit aufgeweichten Brotkrusten und Gemüseresten. Es grunzt vergnügt, es schmatzt und wedelt mit dem Ringelschwänzchen. Der Schneeduft zittert, ein Feuer frisst sich in die Schneedecke hinein, in der Nähe des Holzstapels. Da kommen sie am Nussbaum vorbei, treten breitbeinig in den Schnee, die Männer – Djados Helfer. Großvater hat seine schwarzrot karierte alte Wolljacke und die Schirmmütze an, er befühlt die Klingen der zwei Messer liebevoll mit dem verstümmelten Zeigefinger – sie sind gut gewetzt. Er spuckt in den Schnee und stampft darin herum. Die Männer hinter ihm spucken nacheinander, stampfen mit den Schuhen. Ich laufe und halte mir die Ohren zu, ich laufe nicht schnell genug. Maminka holt mich ein. Sie hält mir die Ohren zu. Ich schreie lauter als das Schwein, sein Quieken geht in meinem Schrei unter. Großmutter holt eine neue Flasche Pflaumenschnaps aus dem »anderen Zimmer«.

      »Nachher wird’s toll schmecken, Mila!«

      Ich schaue durchs Fenster: Der Schnee im Hof ist breitgetreten, mit Blut bespritzt. Ein großer, knallroter Kreis, der zur Mitte hin immer dunkler und matschiger wird, dunkler, bis er ganz schwarz gähnt, dort, wo unser Schwein mit aufgeschnittener Kehle und aufgerissenem Maul liegt. Ich gehe hinaus. Ich rieche den Schnee. Der Schnee riecht nach Blut und versengten Borsten. Die Männer stehen im Kreis herum, ein Gläschen heißen, süßen Pflaumenschnaps in der Linken, ein Stück zartgebrannter Schweinehaut von der Hüfte, dort, wo sie am zartesten ist, in der Rechten, die Stiefel im Boden festgewachsen, im blutigen Schlamm. Djado reicht mir ein frischgegrilltes Stückchen Schweinehaut.

      »Nimm, sei nicht dumm, das ist eine Delikatesse!«

      Und ich esse. Es schmeckt gut: gleichzeitig geräuchert und gebraten.

      Ich vermied es nur, dabei unser Schwein anzuschauen, das nur einen Schritt weit entfernt von mir hing und immer noch warm war.

      15

      Der Sommer ist lang. Jede Geschichte ist lang. Und am Anfang jeder Geschichte, die Großvater oder Großmutter erzählen, befindet sich etwas Bestimmtes, ein Ding, das man anfassen und sehen kann: ein Kinderzeh, ein Knopf, ein verstümmelter Zeigefinger, eine Stricknadel, eine Goldsuchuhr, ein besoffenes Huhn sogar!

      Da ist sie, »die goldene Truhe«, wie ich sie immer nenne. Jedes Mal wird mir ein wenig unheimlich, wenn wir uns dieser Truhe nähern. Sie ist mit blaugoldgrünem Blech beschlagen. Auf der Vorderseite entfalten zwei prächtige Pfauen ihre Flügel. Durch das Oberlicht linst ein Sonnenstrahl und verfängt sich in einem Auge der Federpracht; ich bin geblendet und glaube an irgendeine magische Kraft, die durch die geschlossene Truhe herüber zu mir dringt, und ich kann mich dagegen gar nicht wehren. Maminka streichelt den hübschen Deckel.

      »Hast du Angst, Mila?«

      »Ich habe keine Angst, ich nicht, nur meine Knie und mein Bauch haben Angst, nicht ich!« Und ich berühre das Blech, ahme ihre Berührung nach.

      »Klack«, meldet sich die rostige Stimme des Verschlusses, und Maminkas Hände heben vorsichtig den gewölbten Deckel hoch. Ich atme den Geruch des Mottenpulvers ein. Großmutter hebt eine seit ewigen Zeiten nicht mehr getragene Bauerntracht heraus. Der schwarze Plisseerock, Karljanka genannt, fällt schwer unter dem Gewicht der roten Stickerei. Ich fahre mit erregten Fingern über den rauen, handgewebten Stoff.

      »Sag bloß, ihr habt das auch im Sommer getragen!«

      Sie holt das weiße Leinenhemd heraus. »Na klar! Wir haben ja höchstens zwei Röcke gehabt!« Reichlich weinrotschwarz bestickt ist das Hemd, und sie legt es vorsichtig an. »Nur das Hemd wurde öfter gewechselt, Mila.« Sie legt die Taille des Hemdes an ihre eigene, über der nicht allzu frischen Schürze ...

      Und was war mit der Buxe?, will ich fragen, aber Maminka errät meine Gedanken.

      »Und wenn es ganz heiß wurde, haben wir eben die Buxe ausgelassen! Aber wollten wir nicht den schönsten Knopf der Welt sehen?« Großmutter wechselt das Thema schneller, als mir lieb ist.

      Ich würde sie gerne fragen, ob sie wie Urgroßmutter im Stehen gepinkelt hat ...

      Der Mantel. Er ist schöner, als ich gedacht hatte. Ich kannte ihn nur aus Maminkas Erzählungen von der 1. Mai-Manifestation, wegen der Großvater meine Mutter fast umgebracht hätte ... Und da geht so ein Mädchen durch die Straßen und marschiert mit den Roten, während die Roten seinem Vater zu Hause alles unterm Hintern wegtragen, weil ihm nichts mehr gehört, weil alles dem Staat gehört, die Krempel und die Kneipe, der Traktor und die Mähmaschine und das ganze Land. Und die Kleine, die fast zwanzig ist, singt die Internationale, eine Aktivistin, hübsch wie ein Tautropfen, die dunklen Haare in zwei dicken Zöpfen – und der Mantel ... Sie sieht nicht nach Arbeiterklasse aus, da sie den Mantel trägt, den grünen Zaubermantel, der ihren verschlissenen Rock versteckt.

      »Sieh dir das mal an! Die ist bestimmt aus Amerika angereist! Eine Dame ist das!«

      »Ach was! Das ist doch die Tochter von Iwan Djulgerov ... die haben die Tante in Amerika ...«

      Ich schaue mir den Mantel an, ich möchte meine Mutter sein, meine Mutter mit neunzehn, ich möchte eine Heldin sein, die weiß, dass sie zu Hause umgebracht wird, wenn sie mit den Roten marschiert und die Internationale singt, aber der Knopf, der Knopf ist am schönsten! Er ist fast so groß wie meine Handfläche, bloß die Finger ragen darüber hinaus. Er ist durchsichtig und sieht aus wie eine runde Blume, bloß die Spitzen der Blüte sind schwarz. Der olivfarbene Wollstoff schimmert hindurch, und der Knopf sieht grün aus.

      Maminka legt den Mantel vorsichtig in die Truhe zurück.

      »Daraus machen wir einen tollen Mantel für dich, Mila, so wie ich früher die Röcke deiner Mutter aus Djados Hosen genäht habe, es gab ja nichts!«

      Ich würde gern den Mantel tragen, ich möchte auch, dass sich die Leute nach mir umdrehen, ich möchte auch die Internationale lauthals singen, nur: Auf mich wartet niemand zu Hause, der mich umbringen will ... Und egal, was ich tue, es ist nie eine Heldentat! Ich möchte Soja Kosmodemjanskaja, Rajna die


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