Maminkas Sommerküche. Rumjana Zacharieva
als er erfahren hatte, dass Mutter ...«
»Was soll er schon getan haben?« Maminka klappt den Deckel zu. »Er ist aus Protest gegen die Mai-Manifestation in die Kneipe gegangen. Am anderen Morgen fand man ihn unter einem der Tische wieder, und deine Mutter war schon längst in die Stadt gefahren. Das waren Zeiten!«
16
Vor der Dorfbibliothek wirbelte der Wind lauter Staubwolken auf. Sie liegt an einer Kreuzung. Zwei Stufen über der Straße und schon war man im Lese- und Ausleihsaal. Hier war es dunkel, kühl und still, und es gab keinen anderen Platz im Dorf, an dem ich mich lieber aufgehalten hätte. Links – der lange Tisch mit den Zeitungen. Djado behauptete, sie seien alle überflüssig, da sie alle dasselbe erzählten. Ich las keine Zeitungen und glaubte, niemals welche zu lesen, weil sie zu sehr knisterten. Wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch war und wir beisammensaßen und lasen, beobachtete ich Vater, wie er die Seiten umständlich wendete und unerträglich knisterte, und ich wartete nur darauf, dass er nach einem Buch griff. Der Raum faszinierte mich. Rechts an der Wand die Kinderbücher und alles, was Jugendliche lesen durften. Quer im Raum – der Schreibtisch des Bibliothekars Bate Stefan. Er hatte das feinste Gesicht im ganzen Dorf, eine Stirn, die gar nicht enden wollte, und blasse Hände mit sehr langen Fingern, die die Bücher wie Säuglinge behandelten. Hinter seinem Rücken fing das Unbekannte an: Bücher in fremden Sprachen, wissenschaftliche Literatur, auch medizinische, Bücher für Erwachsene ... Ich nahm an, dass »Du und Ich« auch da irgendwo untergebracht war.
Ich nähere mich leise, und Bate Stefan hebt den Kopf und lächelt mich an.
»Hast du schon wieder alles ausgelesen?«
Ich reiche ihm die Sommerleseliste.
»Die mit den Häkchen, die hab’ ich schon mal gelesen.« Und ich drehe mich verstohlen um, als hätte ich jemand Unsichtbaren beim Lesen gestört.
Bate Stefan steht auf, verschwindet hinter den Regalen, kommt wieder zurück mit drei Büchern Pflichtlektüre. Er legt die Bücher vor mich hin.
»Da, alles Pflichtlektüre.« Er hakt zwei Titel auf meiner Liste ab mit der Begründung, dass ich keine drei Bücher über Mitko Palausov zu lesen bräuchte, sein Partisanenleben und sein Heldentod wären in einem der Bücher ausführlich genug beschrieben. Dann beugt er sich leicht vor, und seine Augen verraten, dass etwas Besonderes kommt. »Und das hier – ›Ewgenija Grande‹ – das liest du erst, wenn du die drei da ausgelesen hast, als Belohnung!«
»Eu-gé-nie Gran-det«, buchstabiere ich und spüre etwas Aufregendes beim Anblick des dicken, schnurrbärtigen Schriftstellers, etwas Aufregendes, das der braunweiße Umschlag verbirgt.
Bate Stefan zögert einen Augenblick lang, aber dann legt er das Buch entschieden auf die anderen. »Ich glaube nicht, dass ich es dir zu früh zu lesen gebe«, und gibt mir meine Lesekarte heraus.
Ich bin stolz, dass zwischen uns ein stillschweigendes Einvernehmen herrscht und er mir ohne Bedenken manchen Leckerbissen der großen Literatur »als Belohnung« für die Pflichtlektüre gibt. Ich verabschiede mich und gehe, gehe langsam an den Regalen vorbei und beneide Bate Stefan, dass er nichts anderes zu tun braucht als den ganzen Tag hier ...
»Müsst ihr nicht auch die Schönschrift üben?«
Seine Stimme holt mich ein. Mich trifft ein Schlag: die Schönschrift! Ich habe die Schönschrift vergessen! An die Kamille und an die Pflichtlektüre habe ich gedacht, aber nicht an die Schönschrift. Ich weiß nicht recht, ob ich mit Bate Stefan böse sein soll oder ob ich mich bei ihm bedanken soll.
Jeden Tag fünf Zeilen schön abschreiben, mit dem Datum versehen: Unser Lehrer in Sprache und Literatur hatte sich in den Kopf gesetzt, aus uns allen Schönschreiber zu machen ... Jetzt müsste ich mich hinsetzen und rückwirkend alles nachholen, für jeden Tag fünf Zeilen schreiben und dann weitermachen, bis ans Ende der Ferien. Ohne sieben Kilo Kamille keine Schulbücher, ohne Schönschrift und Pflichtlektüre keine guten Noten in Sprache, kein Friede während des ganzen neuen Schuljahres. Mein armes schlechtes Gewissen: Es saß schon am Tisch und schrieb fleißig, während ich den Lehrer, den Organisationsleiter und den ganzen langen Sommer verfluchte. Manchmal wollte ich sterben, für die Freiheit ... Ich wollte auch mit niemandem mehr über irgendetwas sprechen, sonst würde mir wohl doch noch etwas einfallen, was ich über der Kamille vergessen haben könnte, und das machte ich bestimmt nicht mehr mit. Kamille, Pflichtlektüre, Schönschrift. Das reichte wohl fürs ganze Leben.
Und ich hatte nur die Sommerferien.
17
Ich höre die Stimmen der Schafe, ihre Glocken. Ist es schon so spät geworden? Fast Abend. Der Wind legt sich an der Straße lang und ruht sich im Staub aus. Er hat genug vom Wirbeln. Jetzt brauchen die Bäuerinnen ihre Röcke nicht mehr festzuhalten. Sie steigen unbeschwert vom Lastwagen, der sie an der Dorfbäckerei wie eine Ladung aufgescheuchter Hühner freilässt. Manche stellen sich artig am Ende der Schlange an und kaufen noch Brot, dann schlendern sie langsam und vergnügt nach Hause, die Harke auf der Schulter, das weiße Kopftuch lässig vom Haar gerutscht – es ist die Stunde der Heimkehr. Viele gehen erst noch am Kindergarten vorbei und dann samt Harke, Brot und Kind nach Hause.
Ich war auch beim Bäcker vorbeigegangen und hatte ein Brot gekauft. Beim Öffnen des Tores merkte ich, dass ein Drittel des frischen Brotes weg war – ich hatte es aufgegessen.
»Maminkaaa!« Komisch, warum antwortete sie nicht? Sonst goss sie doch um diese Zeit das Gemüse. Ob etwas passiert war?
Ich legte die Bücher und das Brot auf den Tisch vor der Sommerküche und stürzte die Treppe herauf.
»Maminkaaa!«
Keine Antwort.
Sie liegt im Bett und klappert mit den Zähnen. Ich schlage die Tür zu, renne wie um mein Leben, hoffentlich stirbt sie nicht! An Rosenhecken und aufgescheuchten Gänsen vorbei, am Kindergarten vorbei, an der Kirche vorbei, hinab, den steilen Pfad an den Holunderbeeren vorbei, mein Atem stockt und brennt im Hals. Lieber Gott, lass sie leben! Lieber Gott, wenn es dich geben sollte, lass Maminka gesund werden! Hörst du! Die Füße bleiben stehen, ich bin nie gut im Laufen gewesen, immer die letzte, nur das Herz rast weiter, löst sich vom schweren Schritt, geht voran. Baba Penas Hof war plötzlich vor mir.
»Baba Penaaaa!«
Mein Schrei ging mir voran, der Hof lag still, abgeschirmt von der Straße durch den Weingarten. Ich lief quer durch die Reben bis zum Haus und tat mir an den Rebenwurzeln weh. Ich stürzte auf die Pergola. Baba Pena saß beinahe begraben unter einer Wolke aus frischgezupfter Schafwolle.
»Tach Kind!«
Sie zupfte ruhig weiter, und ich zog sie am Arm.
»Komm! Du musst sofort kommen, Maminka liegt im Bett und stirbt!«
»Moment mal ...», sie schob die Wolle vorsichtig beiseite, »was gibt’s denn?
Ich hob sie fast vom Boden.
»Nimm die Saugnäpfe und komm! Du sollst die Saugnäpfe mitbringen! Du bist doch eine halbe Ärztin!«
Baba Pena war eine sehr kleine Frau, so groß wie ich. Sie war Großmutters einzige Freundin. Da Maminka niemals ausging, war sie froh, dass »dieser Besen«, wie sie Baba Pena in deren Abwesenheit nannte, ihr alle Nachrichten vom Dorf mitbrachte. Sie war es, die Maminka jeden Tag informierte, was im Dorf los war, wer ins Krankenhaus gekommen war, wer Besuch aus der Stadt bekommen hatte. Ihr Mann war Großvaters Namensvetter und Freund. Beide Männer saßen stundenlang mit dem Popen zusammen in Djados ehemaliger Kneipe und »siebten die Politik«, wie Maminka zu sagen pflegte. Er war auch ein Geschädigter und gegen »die roten Ärsche«, sodass sie gut zueinander passten.
Baba Pena bleibt einen Augenblick stehen. »Ich kann nicht so schnell laufen, Kind!«
Ich bleibe auch stehen. Sie hält die Saugnäpfe und eine Streichholzschachtel in ihrer Schürze, und die Gläser klappern verräterisch. Jeder, der an uns vorbeigeht, weiß, dass Baba Pena jemanden kurieren wird. Ich bin ungeduldig. Ich habe Angst. Endlich