Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs
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Blick ins Kaleidoskop
Wolfgang Mebs
Episodenroman
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www.net-verlag.de Erste Auflage 2020 © Text: Wolfgang Mebs © net-Verlag, 09125 Chemnitz © Coverbild: Detlef Klewer Covergestaltung, Lektorat und Layout: net-Verlag ISBN 978-3-95720-285-7 eISBN 978-3-95720-286-4
Gewidmet
der Fantasie,
dem Leben
und der Liebe.
Inhalt
Kapitel 1
Karl Richter hasst es aufzustehen. Er weiß nicht wozu. Wie jeden Morgen liegt er wach da, fühlt sich aber eher gerädert als erholt. Die Sonne scheint grell und schickt einige aggressive Strahlen zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen hindurch in sein Zimmer, direkt bis an den Rand seines Bettes. Karl hasst den Morgen, diese ewig wiederkehrende Verpflichtung, etwas mit dem Tag anzufangen, sich seiner Existenz würdig zu erweisen, ein Tagwerk zu verrichten und zu beweisen, dass er nicht nur dahinvegetiert.
Carpe diem! Wie er diesen Spruch hasst, den Wahlspruch der Tatkräftigen und Erfolgreichen, der in ihm augenblicklich Magengeschwüre hervorruft und für den er nichts anderes übrighat als ätzenden Zynismus, als höhnische Verachtung für den unbeirrbaren und nicht zu kurierenden Glauben, dass die menschliche Existenz irgendeinen Sinn mache oder man ihr durch irgendeine Tätigkeit Sinn verleihen könne.
Carpe diem? Und dann in irgendeiner Fabrik stumpfsinnig einem Fließband dienen? Kleinen Prinzen und Prinzessinnen Mathe, Mitgefühl oder Kultur zu vermitteln? Wie Sisyphos Kriminalität in Gossen und Palästen bekämpfen? Oder wie er Bilder zu malen, die auf rasant sinkendes Interesse stoßen und ohnehin niemals mehr als eine ausgesucht begrenzte Fangemeinde hatten? Die das ganze Scheißige dieser Welt großflächig anprangern, ohne auf nennenswerte Resonanz zu stoßen und schon gar nicht ein einziges Jota bewirken?
Nein, nach all den Jahren ist ihm nichts geblieben als, wie er es selber gerne nennt, goethescher Lebensekel.
Einst glaubte er, ein Lebenswerk schaffen zu können, etwas, das bliebe und das es wert sei zu bleiben.
Aber im Gegensatz zu Goethe ist ihm allein der Ekel geblieben. Seine Erfolglosigkeit hat ihm deutlich gemacht, dass er nicht dazu in der Lage ist, und seine Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, dass das auch gar nicht möglich ist, und dass alle, die auf Goethe oder andere verweisen, um ihn zu widerlegen, sich weigern, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
Was war denn von Goethe geblieben? Wie viele Menschen lesen ihn? Wie viele verstehen ihn? Wie viele eifern ihm nach? Welchen Einfluss hat er denn gehabt auf das Weltgeschehen? Wäre heute irgendetwas anders, hätte er nicht gelebt? Hätte er den Prometheus, den Werther, den Faust nicht geschrieben?
Wie üblich liegt er schon eine Stunde wach und versucht, die verwaschenen Erinnerungen an seine Albträume zu verdrängen, die ihn immer wieder heimsuchen und oft noch Stunden des Wachseins bedrängen. Graue Visionen eines wie filzbespannten, sich endlos windenden Etwas, durch das er in atemberaubendem Tempo schießt, mal hierhin, mal dahin geschleudert; die faserige Hülle, die mit Widerhaken-bewerten Tentakeln an seinem Fleisch reißt, weich und biegsam und doch unerbittlich, und der Schlauch, der immer schmaler wird, der sich allmählich immer enger um ihn legt und ihn schließlich zu ersticken droht.
Allein das unterbewusste Ankämpfen gegen den Schlaf, das unbedingte Aufwachenwollen erlöst ihn von der nächtlichen Tortur.
Doch auch tagsüber können ihn plötzlich Traumfetzen überfallen, wie der Flashback eines Süchtigen oder ein enervierendes, nicht zu eliminierendes Pop-up beim Surfen. Wenn er unter der Dusche steht und die Augen schließt, weil ihm das Wasser über sein Gesicht läuft, kann ihn unvermittelt dieses beängstigende, klaustrophobische Gefühl umklammern, oder wenn er in seinen Kaffee starrt, an nichts Besonderes denkend, ist es blitzartig da. Eine ätherische Schwingung, ein sensorischer Impuls, den er nur schwer, wenn überhaupt, hätte beschreiben können, so bedrohlich wie unfassbar, unkontrollierbar, eindeutig imaginär und doch absolut real; ein filziges Kribbeln auf der Haut wie von Abermillionen Spinnenbeinen, als würde er von etwas berührt, das sanft daherkommt und im selben Moment grenzenlosen Ekel hervorruft. Dann schüttelt er sich mehrmals, unwillkürlich, konvulsiv, als könne er die Hülle abschütteln, aber wie ein Krake, eine Schlingpflanze, eine ihn langsam, aber umso sicherer verschlingende Frucht aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch nimmt sie ihm den Atem.
Linderung verschaffen ihm dann nur seine imaginären Dialoge. Gespräche über Gott und die Welt und die großen und kleinen Probleme, Kalamitäten, Katastrophen, die Tragödien der Zeitläufte. Genau genommen sind es keine Dialoge, sondern endlose Monologe, in denen er die Argumente seiner Widersacher zerpflückt, unwiderlegbar, überzeugend und alle Diskutanten immer wieder verblüffend ob ihrer geist- und kenntnisreichen Ausführungen und ihrer eloquenten Diktion.
Natürlich gewinnt er jeden Disput, ist aber Realist genug, seine eigene Fantasie als solche zu erkennen. Zwar kann er jeden an die Wand reden, aber die wenigsten überzeugen. Borniertheit, Dogmatismus, schlichte Beschränktheit und generell mangelnde Einsichtsfähigkeit sind nun mal weitaus verbreiteter als intellektuelle Brillanz.
Und so liegt er auf dem Rücken und doziert an die Decke über die griechische Finanzkrise, über die wachsende Unfähigkeit des internationalen Bankensystems,