Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs

Blick ins Kaleidoskop - Wolfgang Mebs


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der U-Bahn, doch als sie die Treppen hochsteigt und ins Freie tritt, sieht sie nicht einen großen, weiten Platz vor sich, den sie hätte überqueren müssen, sondern eine schmale, enge Gasse zwischen endlos hohen Wolkenkratzern. Als sie sich umdreht, ist die U-Bahn plötzlich verschwunden, und die Straße hat sich in einen silbernen Fluss verwandelt. Sie weiß, sie muss unbedingt hinüber. Passanten wie Scherenschnitte fragen sie, warum sie nicht einfach die Brücke nimmt, aber als sie die wie aus dem Nichts gläserne Gestalt annehmende Brücke hinaufeilt, werden ihre Schritte immer langsamer und mühseliger, weil die Rampe steiler und steiler wird und sich schließlich unüberwindlich vor ihr auftürmt.

      Jemand ruft sie. Ein Männergesicht taucht auf, ein breiter Schädel mit schmalem Kinn und seltsam tief liegenden Augen. Er sieht auf seine Uhr, die wie von Dalí gemalt von seinem Handgelenk tropft. Sie will zu diesem Mann, ihn fragen, wie viel Zeit sie noch hat, aber plötzlich kommt eine Menschenmenge auf sie zu, drängt sie zurück, wogt schließlich über sie hinweg. Sie liegt auf dem Boden, aber niemand tritt auf sie, niemand verletzt sie, sie spürt keine Angst, die Menge scheint zu fliegen, zu schweben, zu fließen, sie versucht vergeblich, sich zu erheben, aus der Flut der Leiber aufzutauchen. Ein harter Cut, wie im Film, und sie sitzt im Flugzeug mit Mirko.

      Mirko, Petra, Wilfried, Lisa, Franziska, was wohl aus ihnen geworden ist in der Zwischenzeit? Ob sie glücklich sind – oder wenigsten zufrieden? Lisa ist bestimmt längst eine erfolgreiche Architektin. Die wusste immer genau, was sie wollte, und hat es auch durchgesetzt. Wie tough sie war, in der Mensa. Futtert ihre Nudeln und erzählt mir im Plauderton, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat, weil der auf Familie besteht, und zwar nicht erst in ein paar Jahren, weil er Kinder will und eine Frau, die sich um sie kümmert. Lisa in ihrer verwaschenen blauen Latzhose. Dieser Spießer, hatte sie gelacht, dabei war sie doch so verliebt gewesen – vorher.

      Sie blickt zur Seite. Robert schläft noch tief, atmet und schnarcht gleichmäßig. Sein kindliches Schnorcheln, das sie einmal so liebenswert fand, ist einem leisen, aber regelmäßigen Sägen gewichen.

      Vorsichtig schlüpft sie aus dem Bett, zur Schlafzimmertür hinaus und die Treppe hinunter. In der Küche wartet sie, den Kopf an die stahlkühle Tür ihres Gefrierschranks gelehnt, auf heißes Wasser. Ihre Küche ist ein durchgestyltes, hippes Arrangement aus Stahlträgern, gefärbtem Glas und Plastikfurnieren. Sie hätte lieber Holz gehabt, das sich lebendig anfühlt, Wärme ausstrahlt, das sie gerne berührt.

      »Das ist altmodisch«, hatte Robert beschieden. »Und bieder.«

      So war es bei fast allem. Robert hatte einen Innenarchitekten engagiert, natürlich den angesagtesten. Sie hatten nicht wirklich darüber diskutiert.

      Hannah, noch ganz im siebten Himmel, sah alles mit Roberts Augen, und der war begeistert von dem vielen Glas und Stahl.

      Heute hat sie sich damit eher abgefunden als daran gewöhnt.

      Mit einer großen Keramiktasse voll Tee, die sie damals in der Provence gekauft hatten, geht sie auf die Terrasse hinaus und blickt, noch immer schlaftrunken, über ihren endlosen Garten hinweg in den allmählich sich aufhellenden Himmel. Sie geht langsam den sich windenden Pfad entlang, vorbei an den Hügeln voller Steingewächse, den Hyazinthenbeeten, den Fliederbüschen, den kunstvoll geschnittenen Buchsbäumen, dem Teich voller Rohrkolben und Lotusstauden. Die meisten Pflanzen haben bereits ihr Sommerkleid abgelegt.

      Sie schließt die Augen und saugt die Luft ein, findet aber nicht den besänftigenden, gelassenen Duft. Hannah streicht mit dem Finger über den winzigen Sprung ihrer Teetasse.

      Hier werden wir glücklich sein, Hannah. Ist es nicht wunderschön. Genau wie du es dir gewünscht hast. Austoben könnte ich mich hier, hast du gesagt, einen Garten anlegen nach meinen Vorstellungen. Nach meinen Vorstellungen, klar. Du selbst hast für »Grünzeug« wenig übrig; Kulisse, nichts weiter, aber präsentiert hast du den Garten immer, als wärest du höchstpersönlich der Landschaftsgärtner.

      Im Garten austoben – und sonst? Mein Gott, ist das lange her, dass ich etwas geschrieben habe; meine Notizen verstauben so langsam. Wahrscheinlich hat schon längst jemand anders eine Dissertation darüber geschrieben. – Ich muss den Gärtner anrufen – und ein paar Rosen schneiden für die Deko heute Abend. Obwohl, das soll Kathrin machen. Ist ohnehin nicht mein Empfang. Reine Staffage. »Frauen sind der Spiegel, der es den Männern ermöglicht, sich selbst in doppelter Größe zu sehen«.

      Hannah lacht still in sich hinein und fragt sich, warum sie Woolfs Bücher so lange nicht in der Hand hatte, so lange nicht mehr gelesen hat. Zwanzig Jahre? Dreißig? Viel zu lange.

      Sie war mal eine sehr gute Schülerin und noch bessere Studentin. Und für Professor Westheim war sie mehr als nur eine studentische Hilfskraft. Sie teilten die Begeisterung für Virginia Woolf, vor allem für Mrs. Dalloway und The Lighthouse. Als Hannah die ersten Gedanken äußerte zu einer Dissertation, hatte Professor Westheim sie sofort unterstützt. Sie war eine Feministin der ersten Stunde.

      »Die rosa Laibchen habe ich schon im Kinderwagen gehasst«, sagte sie gerne scherzhaft. Hannah liebte Woolfs Schreibstil, wollte ihn näher analysieren.

      »Ich möchte beweisen, dass der Bewusstseinsstrom eine spezifisch weibliche Art ist zu schreiben, dieser innerliche Stil, der Emotionen viel Raum lässt, intuitiv, nicht rationalanalytisch.«

      »Vergessen Sie nicht, dass es nicht Frauen waren, die ihn erfunden und verwendet haben, weder damals noch heute. Und ich rede nicht nur von Joyce.«

      »Ich weiß, aber welche Frau konnte damals als Schriftstellerin reüssieren? Und Joyce war ohnehin latent homosexuell. Außerdem verwenden die meisten männlichen Autoren den Bewusstseinsstrom nicht konsequent. Und könnte man nicht sagen, dass sie damit ein wenig ihre weiblichen Anteile offenbaren? Ich glaube, Woolf hat recht, wenn sie sagt, nur eine androgyne Seele könne ein literarisches Genie sein, so wie Shakespeare oder Joyce.«

      »Nun, so sehr ich Virginia Woolf schätze, aber da bin ich persönlich ganz anderer Meinung, oder wollen Sie beweisen, dass auch Goethe und Hemingway androgyne Charaktere waren? Hören Sie, Frau Kämper, ich fand ihre Magisterarbeit wirklich lesenswert und sehr originell, und ich würde mich freuen, ihre Doktormutter zu sein, aber Sie wählen da einen sehr gefährlichen Ansatz. Sie könnten allzu leicht selbst in Geschlechterklischees verfallen.«

      All diese Klischees. Ja, Klischees, aber nicht ohne wahren Kern. Man muss sich nur genau umsehen, genau zuhören. Als wäre es so einfach. Nicht alles ist gelernt. Robert ist nicht mal von einem Mann erzogen worden, jedenfalls nicht, nachdem er drei war. Rational bis auf die Knochen.

      Sie hört ihren Wecker klingeln und erschrickt. Sie ist früher aufgestanden und hat vergessen, ihn auszustellen. Roberts Wecker wird erst in zwanzig Minuten klingeln, wenn sie geduscht und angekleidet in der Küche steht und sein Frühstück bereitet. Er mag es nicht, sie morgens ungekämmt und im Bademantel zu sehen, wenn sie ihm mit nackten Füßen den Kaffee eingießt. Ihre Füße hat er nie gemocht. Robert steht eher auf Negligés und Schlafzimmerblicke. Stand – was sie betrifft.

      Sie verlässt die Terrasse, um den Kaffee aufzusetzen.

      Paul Winter erwacht langsam aus einem traumlosen Schlaf. Auf der Seite liegend, schaut er blinzelnd über das frische Grün der Wiesen, Tautropfen sitzen wie funkelnde Elfen auf den Grasspitzen, der Waldrand wird gesäumt von feinem Morgendunst, die Schwäne dümpeln träge auf dem noch im Halbdunkel liegenden See. Paul liebt diese Stimmung, die melancholisch erwartungsvolle Stille des Stadtwalds.

      Noch stört ihn niemand.

      Vorsichtig richtet er sich in seinem verschlissenen Schlafsack auf und lehnt sich an einen Baumstamm. Es dauert eine Weile, bis sich der rheumatische Schmerz in allen Gelenken löst. Er nimmt einen langen Zug aus der Wasserflasche, gegen den Nachdurst. Er schließt die Augen und lauscht in die Stille. Er vermisst die Vogeluhr, die um diese Jahreszeit weitgehend verstummt ist, den zarten, variantenreichen Singsang der Rotkehlchen, der allmählich von den Strophen der zahlreicheren Amseln und Drosseln übertönt wird, bis die Zaunkönige und Kohlmeisen wach werden, und zum Schluss


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