Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs

Blick ins Kaleidoskop - Wolfgang Mebs


Скачать книгу
sie dort kennengelernt. Thomas, der so romantische Visionen für sie beide ersonnen hatte. Ersponnen. An die sie eine kurze Zeit fast selbst geglaubt hätte. Kurz. Egal.

      Als die Sender dann anfingen zu sparen und es nicht mehr so einfach lief, hatte sie einfach aufgehört, Reportagen zu machen, hatte ihr ganzes Equipment eingemottet und wollte doch erst mal ihr Studium beenden. Den Vorsatz hat sie immer noch. Hin und wieder. Egal.

      Abrupt steht sie auf. Bevor sich fatalistische Trägheit in ihr breitmachen kann, muss sie irgendwas unternehmen. Sie ruft Lena an, aber die geht nicht dran. Mit wem kann sie sich verabreden? Sie kennt die halbe Stadt. Zumindest auf Facebook.

      Sie tigert auf und ab. Unschlüssig. Trinkt noch einen Kaffee. Der Kopfschmerz lässt nicht nach. Bronx. Klar!

      Vielleicht sollte sie in seinem Bistro auch etwas frühstücken. Obwohl ihr Magen ihr immer noch signalisiert, dass er mit dem Alkohol nicht ganz fertig ist.

      Sie zündet sich eine Zigarette an, wirft einen Stapel schmutziger Wäsche von ihrem Sofa und legt sich hin. Die Récamiere mit dem verrückten kunterbunten Blumenmuster, die ihr Lars geschenkt hat. Lars, der so unglaublich verliebt in sie war, sie mit Geschenken überhäufte, zu vielen Geschenken. Der sie zu ersticken drohte. Dem sie schließlich eine Trennungspostkarte schickte. Kurz, direkt und eindeutig.

      »Lars, ich bin schwanger.«

      Er blickte sie verdutzt an. »Was?« Dann, strahlend: »Na, großartig!«

      »Wie bitte? Was ist daran großartig?«

      »…«, aber immer noch strahlend.

      »Siehst du.«

      Plötzlich sah er ernst aus. »Willst du mich heiraten?«

      »Was??? Bist du völlig verrückt geworden? Lars, ich werde dieses Kind nicht bekommen!«

      Sie überlegt, ob sie nicht doch etwas essen sollte. Aber im Kühlschrank stehen nur ein Dutzend Joghurts. Von dem Gedanken an Caipirinha mit Erdbeerjoghurt wird ihr übel. Sie braucht frische Luft. Sie geht zum Fenster, öffnet es, aber die Luft ist lauwarm, gesättigt von den Abgasen der Autos, die unentwegt die dreispurige Ringstraße auf- und abfahren.

      Der motorisierte Lärm weckt den Kater wieder auf. Jetzt treffen sich auf dem Mittelstreifen auch noch zwei Straßenbahnen, deren Geratter sie auch bei geschlossenen Doppelglasfenstern noch hören kann. Aus dem Döner und dem China-Take-away dringt ihr selbst am Morgen schon der Geruch von zu lang erhitztem Fett und verbranntem Tierkadaver entgegen. Ein Müllwagen ergänzt den Cocktail mit Quietschen und Rumpeln, Verfall und Verwesung.

      Sie knallt das Fenster zu und sieht unschlüssig hinaus. Dreht sich um und macht den Fernseher an. Zappt durch die Programme. Frühstücksfernsehen für Gelangweilte. Comics für vernachlässigte Kinder. Doku-Soap-Wiederholungen für Debile. Nachrichten für Apokalyptiker.

      Sie stellt den Ton ab, geht zu ihrem Computer und öffnet ihr Facebook-Account. Fünfundvierzig Nachrichten seit gestern Abend. Mehr nicht? Kneipenbilder, Pizzabilder, betrunkene Grimassen, halbverständliche, von Rechtschreibfehlern übersäte besoffene Texte.

      Julia überlegt, noch eine Tablette zu nehmen. Ihr Kater ist ein Tiger. Ein Königstiger.

      Punkt sechs. Der Wecker klingelt. Peter Müller stellt ihn ab, legt sich zurück.

      6:05 Uhr: Der zweite Wecker klingelt. Peter wirft die Decke zurück, hälftig, schwingt die Beine aus dem Bett, die Füße schlüpfen in die rechtwinklig drapierten Pantoffeln. Er trinkt das bereitstehende Glas Wasser in einem Zug aus, steht auf.

      6:08 Uhr: Die Blase entleert, steht er unter der Dusche, dann Morgentoilette.

      6:22 Uhr: Die Zeitschaltuhr arbeitet pünktlich; eine Tasse Kaffee, nicht zu stark, eine Scheibe Toastbrot, Becel, Marmelade, ein Joghurt.

      6:50 Uhr: den restlichen Kaffee in die Thermoskanne, Pausenbrot, Apfel, eine Flasche Mineralwasser, still.

      6:57 Uhr: Schuhe, Jacke, Türe zweimal verriegeln.

      7:14 Uhr: in der Straßenbahn. Neben ihm, auf der anderen Seite des Ganges, wie immer, der junge Mann mit dem Bürstenschnitt, diesmal gegen die Fahrtrichtung. Die Korpulente ihm gegenüber. An der Kirchstraße steigt die große, schlanke Brünette ein. Und eine Frau, die er noch nie gesehen hat. Eine zierliche, kleine Gestalt, nicht viel mehr als ein Meter sechzig, mit asiatischen Augen, dunklem Teint.

       Pete

      Pete fiel sie sofort auf, als sie einstieg. Eine Asiatin, wahrscheinlich aber eher Mischling. Ihr Gesicht war nicht so flach und ihre Augen nicht so schmal, wie er sie aus seiner Zeit in Vietnam und Kambodscha kannte. Sie war klein und wirkte zerbrechlich, aber das konnte ihn nicht täuschen. Sie bewegte sich flink und geschmeidig, und unter ihrer engen Jeans und der grünen Seidenbluse war sie mit Sicherheit durchtrainiert. Vielleicht eine Turnerin oder Tänzerin. Oder sie trat in irgendeinem Zirkus auf, als Schlangenfrau.

      Sie setzte sich ihm schräg gegenüber, und so hatte er Zeit, sie zu beobachten. Sie hielt ihren Kopf schüchtern geneigt, aber er hatte den Eindruck, sie beobachte ständig ihre Umgebung. Wahrscheinlich hatte die Kleine Angst, angesprochen zu werden.

      Was Pete dennoch in Erwägung zog. Er war ein guter Beschützer. Ein stilles Wasser, da war er sich sicher. Eigentlich war sie nicht seine Kragenweite. Aber neuerdings hatte er eine gewisse Schwäche für solche Frauen. Unprätentiös, unverwöhnt, vielleicht ein schlafender Vulkan. Von den sogenannten Klassefrauen, langbeinig, vollbusig, mit wehenden Haaren und stolzem Blick, hatte er erst einmal genug. War auch schon viel zu lange her, dass er mal gelandet war. Aber wenn …

      Eigentlich kam er gut bei Frauen an. Leider dauerte es meist ziemlich lange, bis sie seine geballte Maskulinität erkannten.

      Er wartete auf Augenkontakt, aber ihr Blick blieb nicht an ihm hängen. Er wirkte eher unscheinbar, unauffällig, und das musste er auch.

      Nicht beachtet zu werden hatte eindeutige Nachteile, wenn es um Frauen ging, war aber ein unbezahlbarer Vorteil in seinem Metier. James Bond-Typen fielen jedem sofort auf. An James Bond-Typen erinnerte sich jeder. Schlecht fürs Geschäft.

      Er überlegte, sie in die Alte Fähre einzuladen, einen Tisch am Panoramafenster zu reservieren mit Blick auf den Fluss. Obwohl er sich das eigentlich nicht leisten konnte. So gefährlich seine Fälle oft waren, so wenig sprang dabei heraus. Deswegen waren die Klassefrauen auch immer so schnell wieder weg.

      Als der Platz neben ihr frei wurde, wollte er sich gerade zu ihr setzen, woraufhin sie aufstand und hastig die Bahn verließ. Er sah noch, wie sie sich umschaute, als wüsste sie nicht wohin.

      Er verfluchte seine alte Rostlaube von Alpha, die er dringend aus der Werkstatt holen musste, und blieb sitzen.

      Mit zwei Minuten Verspätung am Marktplatz. Deshalb etwas schnelleren Schrittes Richtung Mühlenstraße.

      7:45 Uhr: Morgengruß an den Pförtner. »Wie geht’s?«

      »Es läuft.«

      »Und wie läuft’s?«

      »Es geht.«

      7:46 Uhr: im Aufzug in den vierten Stock. Aus dem Fenster auf die belebte Straße blickend, die zweite Tasse Kaffee.

      Punkt 8: erste Akte öffnen.

      Am Vortag hat er bereits die neuen Fälle sortiert, nach Schadensfallkategorien. 1. von Kindern verursachte Schäden, 2. von Erwachsenen verursachte Schäden, 3. von Tieren verursachte Schäden; A) Sachschäden, B) Personenschäden; Vermögensschäden fielen nicht in seinen Bereich; a) klare Fälle, b) dubiose Fälle, c) offensichtlicher Betrugsversuch.

      Brillen. Es ist schon erstaunlich, wie häufig sich Leute auf Brillen setzen, um ihren Verwandten oder Freunden zu einem neuen Gestell zu verhelfen. Oder Lampen. Wieso fegen Kinder so häufig die Nachttischlampe von selbigem? Ist aber natürlich kaum nachzuweisen. Aber so einfach kommen die Leute bei ihm nicht durch. Erst


Скачать книгу