Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs

Blick ins Kaleidoskop - Wolfgang Mebs


Скачать книгу
da glaubte er noch an Wandel zum Guten, zum Besseren; an Lernen, Erfahrung und Veränderung. Aber warum war es Karl dann mit Jonas so ergangen wie seinem Vater mit ihm? Auch er konnte mit seinem Sohn nichts anfangen.

      Karls Vater hatte nach eigenem Bekunden alles richtig gemacht und ein erfolgreiches Leben hinter sich. Nach dem Krieg begann er als kleiner Sachbearbeiter in einer Versicherung, immerhin hatte er 1938 eine kaufmännische Lehre begonnen. Er hatte sich »hochgearbeitet« und es »in den Außendienst geschafft«. Seine Erfolge waren abzulesen an immer größeren Autos, einer geräumigeren Wohnung und »Muttis Traum«, einer mit allen damaligen Schikanen ausgestatteten Einbauküche, und natürlich dem alljährlichen Urlaub an der Adria. Protzte er vor anderen mit PS und Hubraum und sie mit Spülmaschine und Abzugshaube, so war das Autopacken ihr gemeinsames Vergnügen, wenn sie sich mehrfach bestätigten, dass die Müllers gelb vor Neid hinter der Gardine standen und ihnen zusahen.

      Während anfangs Karl der Gardine die Zunge rausstreckte, waren ihm später seine Eltern nur noch peinlich, weshalb er sie sich einfach wegdachte.

      Auto, Wohnung, Urlaub – und er durfte aufs Gymnasium. Das war im Grunde auch alles, was er von seinem Vater wahrgenommen hatte. Ansonsten war er ständig unterwegs oder abgespannt, hatte entweder keine Gelegenheit, gerade jetzt nicht die Zeit oder schlicht keine Lust, sich mit Karl zu beschäftigen.

      Zu einem Freund hatte Karl einmal gesagt, wenn er eine Biografie schriebe, würde er seinen Vater nicht erwähnen. Nicht, weil er ihn nicht mochte oder ihm seine fehlende Zuwendung und Zuneigung vorwerfe. Nein. Er spielte einfach keine Rolle. Allenfalls als Abschreckung. Wieder und wieder versuchte er Karl in langen Monologen – dies waren die einzigen Gelegenheiten, zu denen sein Vater längere Äußerungen an ihn richtete – davon zu überzeugen, ebenfalls in die Versicherungsbranche einzusteigen; wenn es weiterhin in der Schule so schlecht liefe, könnte er immer noch eine Lehre machen, sich hocharbeiten und so weiter.

      Bei einem dieser »Gespräche«, Karl hätte nicht mehr sagen können, wann genau, nahm sein Leben eine entscheidende Wende. Er wusste, was er auf keinen Fall werden wollte.

      Ob Jonas das auch über ihn sagt? Er will es sich nicht vorstellen, aber kann es anders sein? Ständig leidet er unter der Distanz, wünscht sich, je länger die Sprachlosigkeit zwischen ihnen herrscht, es möge anders sein. Mal rechtfertigt er sich, mal wirft er Jonas vor, uneinsichtig und halsstarrig zu sein, mal kasteit er sich selbst ob seiner eigenen emotionalen Unzulänglichkeiten.

      Nie hat er ein Vater werden wollen wie sein eigener, und genau genommen hat er sich einen Sohn gewünscht, nur um zu beweisen, dass es anders sein kann, verständnisvoller, liebevoller. Als Marga schwanger war, sah er bereits die strahlenden Augen seines Sohnes, wenn er mit ihm spielte und tobte und ihm die Welt erklärte. Aber als es dann so weit war, stellte er fest, dass er mit einem ständig schreienden und scheißenden Bündel nichts anfangen konnte, im Gegenteil. Er vertröstete sich auf später, wenn Jonas würde laufen und reden und lesen und verstehen können, dann würde alles anders werden.

      Aber als Jonas dann laufen und reden und lesen und verstehen konnte, stellte Karl fest, dass ihm seine Staffelei wichtiger war, als gegen einen Plastikball zu treten, dass er sich auf Vernissagen wohler fühlte als bei dem Versuch, Jonas’ ständiges Geplapper zu ertragen und seine völlig abwegigen Fragen zu beantworten, dass ihm seine künstlerische Krise noch mehr zu schaffen machte als der komplett sinnlose Versuch, einem renitenten Pubertierenden, der aus lauter Trotz zum Popper wurde und die künstlerischen und politischen Ansichten seines Vaters lächerlich, naiv und überholt fand, Paroli zu bieten.

      Und jetzt kann er sich nicht einmal ein Bild von Jonas machen, weil er ihn seit viereinhalb Jahren nicht mehr gesehen hat.

      Karl schnüffelt am Pulver, schüttet es in einen kleinen Topf, der mittlerweile die Farbe verkochten Kaffees angenommen hat, fügt drei Tassen Wasser und drei Löffel Zucker hinzu, lässt alles aufkochen und sucht vergeblich eine saubere Tasse.

      Er findet zumindest eine ohne Bodensatz, gießt ein und setzt sich in den einzigen Sessel, eingerahmt von Bücherstapeln.

      Seine zwei Zimmer möbliert zu nennen wäre ein für Karl unüblicher Euphemismus. Ein Herd, bei dem nur noch zwei Platten funktionieren, ein brummender Kühlschrank, dessen Abwärmegitter alle paar Minuten heftig rappelt, ein Bett mit durchhängender Matratze, ein klappriger Tisch mit ebensolchen Stühlen – zwei an der Zahl – ein Barhocker mit aufgeplatztem Sitzpolster und ein riesiger Ohrensessel, den er in einer kurzen besseren Zeit bei einem Antiquitätenhändler erstanden hatte. Und Regale an allen Wänden, bis unter die Decke, vollgestopft mit Büchern.

      Weitere Bücher stapeln sich davor, neben dem Bett, um den Sessel herum, auf den Fensterbrettern – die chaotischste Bücherei des Universums, in der er aber zur Verwunderung seiner mittlerweile nur noch seltenen Besucher jederzeit genau das Buch findet, das er sucht.

      Karl liest alles, einfach alles, was ihm in die Hände fällt. Und so ist auch sein Weltbild. Allumfassend. Es ist das Ergebnis seiner zahllosen Studien, auch wenn er eigentlich in Philosophie immatrikuliert war und dort auch sein Examen versuchte. Dummerweise war er wie bei den meisten auf Ablehnung und Unverständnis gestoßen, da das, was er als einen innovativen, ja genialen universellen Ansatz betrachtete, von seinen Dozenten und Professoren als unausgegorenes Sammelsurium mehr oder weniger skurriler Ideen, halbverdauter Erkenntnisfetzen und gedanklicher Salti mortali bezeichnet – und bewertet wurde.

      »Das Problem ist doch«, sagte Karl, »dass alles auf einem ziemlich oberflächlichen Niveau bleibt. Die meisten Menschen und eigentlich auch die meisten Philosophen streben ein klares, ein eindeutiges Weltbild an, ein System, das die Welt kategorisiert. Sie wollen verzweifelt an einer Illusion festhalten. All diese Versuche, die Welt in Schubladen zu pressen, sie eindeutig und überschaubar zu machen, um sich letztlich in Sicherheit wiegen zu können, müssen scheitern. Ich sage dir auch warum. Weil es keine Theorie gibt, die die Vielgestaltigkeit der Welt auf einen Nenner bringen kann, die alle Phänomene innerhalb eines statischen Gedankengebäudes hinreichend erklären kann.«

      »Na ja«, wendete Frank ein. »Man kann aber auch schlecht an alles gleichzeitig glauben.«

      »Wieso nicht? Im Gegenteil! Ich behaupte, dass man als ernsthafter Philosoph nur Eklektizist sein kann. Ich lehne jeden totalitären Anspruch ab, erst recht den von Welterklärungstheorien. Ein rationaler Mensch muss grundsätzlich alles infrage stellen und alles für möglich halten. Deshalb bin ich katholischer Zen-Buddhist, sunnitischer Indianer, ein konservativer Anarcho, ein radikaler Spießer, existenzialistischer Hegelianer, metaphysischer Empiriker, hoffnungstrunkener Apokalyptiker und ein völlig durchschnittliches Genie, im Sinne Goethes und Schillers wohlbemerkt.

      Und darauf läuft mein Ansatz hinaus: Alles ist wahr und wieder nicht wahr, aber nicht als Gegenteil von wahr, sondern als symbiotische Ergänzung. Deshalb meine Hauptthese: Der einzige Sinn der Existenz liegt im Losgelöstsein von Sinn, das heißt in der Erkenntnis, dass alles sinnlos ist, weil nichts genuin Sinn macht. Was aber nicht zu existentialistischer Verzweiflung oder zu Verantwortungslosigkeit führt. Im Gegenteil, diese Erkenntnis heißt, stets in jedem einzelnen Moment, bei jeder einzelnen Handlung die volle persönliche Verantwortung übernehmen zu müssen, eine Verantwortung, die wir zuallererst vor uns selbst haben. Wir müssen unser eigener Ankläger, Verteidiger und Richter sein. Und gerade deshalb befreit uns diese Erkenntnis von allen irdischen Zwängen und gibt uns den Raum, alle unsere Handlungen mit dem zu füllen, was ich den ›ad hoc-Sinn‹ nenne. Hier und jetzt, hinc et nunc.«

      »Könnte ziemlich anstrengend werden.«

      »Was hätten wir sonst vom Leben zu erwarten?«

      Was für ein Morgen. Jetzt beginnt auch noch sein Magen zu knurren. Er überlegt, wie er an ein Frühstück kommen kann. Viele Möglichkeiten gibt es da nicht. Das »Coffee-Shock«, aber nur, wenn Alina da ist, die, warum auch immer, einen Narren an ihm gefressen hat und ihm nicht nur extragroße Portionen serviert, sondern hin und wieder auf die Rechnung verzichtet, oder in Bronx’ Diner, bei dem verrückten Ami, der einmal eines seiner Bilder in Zahlung genommen hat, statt immer wieder anzuschreiben.

      Und natürlich Frank, einer der wenigen Menschen, nein, wenn er ehrlich ist, mittlerweile der Einzige,


Скачать книгу