Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs
einer Kegelbahn zu beenden. Als sie über eine halbe Stunde zu spät ankamen, um 19:40 Uhr, war das Buffet schon aufgetragen worden. Alle stürzten sich sofort, als wären sie ausgehungert, auf die belegten Brote, Kartoffelsalat, Frikadellen und Mettwürstchen und spülten das Ganze mit ein paar Pils aus dem bereitgestellten Fass hinunter.
Eigentlich wollte er Mineralwasser, aber irgendjemand hatte ihm eine Tulpe in die Hand gedrückt, und da er das Bier hätte ablehnen und nach vorne zur Theke gehen müssen und er ohnehin halb verdurstet war, trank er es ziemlich schnell aus. Und dann noch ein zweites.
Er wartete, bis der erste Ansturm aufs Buffet vorbei war, und wollte sich gerade das letzte Mettwürstchen nehmen, da griff Reuter an ihm vorbei, schnappte es sich und biss, Peter angrinsend, hinein.
»Tja, mein Junge, schnell muss man sein«, lachte er laut auf und nötigte Peter, in seinen offenen, mit Mettwurst gefüllten Rachen zu schauen.
Im Laufe des Abends aß er nur wenig und trank zu viel. Ständig stand ein Glas Bier vor ihm. Irgendwann hörte er auf, es abzulehnen, was seine ohnehin schwächlichen Kegelkünste nicht gerade beflügelte. Der eine oder andere Kegel fiel.
Um kurz nach neun war er angetrunken genug, um mutig zu werden. Er stand neben Frau Derksen, die schon länger ihren Weg in seine Träume gefunden hatte, und die aufgrund ihrer Vorliebe für Mixgetränke schon nicht mehr ganz sicher auf ihren High Heels war. Dafür, dass sie ständig zur Seite knickte und gegen seine Schulter stieß, fand er jedoch eine andere Erklärung. Seiner ohnehin nicht besonders ausgeprägten Willenskraft und seines klaren Verstandes beraubt, fragte er sie plötzlich mitten in die Runde hinein, ob sie nicht Lust hätte, mit ihm mal einen Kaffee trinken zu gehen. Nach dem Büro.
Sie sah in zunächst völlig verblüfft an. Dann prustete sie los. »Nach’m Büro, ja? – Nee, Peter, wirklich, nee. Wir zwei? Und worüber willst du mit mir reden? Über deine Schäden, äh deine Schadensfälle, mein’ ich?«
Die ganze Runde stimmte in ihr schallendes Gelächter ein.
»Und hinterher«, grölte Reuter, »und hinterher, hahaha, und hinterher zeigt er dir seinen Hobbykeller. Da zeigt er dir dann, wo sein Hammer hängt.«
Frau Derksen wäre vor Lachen fast von den Stöckeln gekippt.
Reuter ist natürlich ganz in seinem Element, laut und großspurig und ständig neben der neuen Kollegin. Unvermeidlicherweise fängt er an, Witze zu erzählen. »Übrigens, gestern wollte ich auf eine Ü-30-Party. Aber der Türsteher hat mich nicht reingelassen. Und wisst ihr, warum nicht? Meiner war zwei Zentimeter zu kurz.«
Wie üblich vermag Peter nicht, in das allgemeine Gelächter einzustimmen.
»Mein Gott, Müller, seien Sie doch nicht so prüde! Oder haben Sie das etwa nicht verstanden? Ist Ihnen glatt zuzutrauen.« Reuter legt den Kopf in den Nacken und lacht hämisch, nicht minder laut, und alle lachen mit. Natürlich.
Außer der neuen Kollegin, die unsicher lächelnd in die Runde und dann fragend zu Peter hinüberblickt.
Pete
Pete klapperte erst einmal seine üblichen Informanten ab, Leute, die ihm noch was schuldig waren. Meist war es umgekehrt. Diesmal konnte er sogar bezahlen. Wie sehr ein paar Scheine doch die Zunge lockern. Vor allem von Kotzbrocken wie dem Schnauzer. Normalerweise mied er ihn wie der Dealer den Cop. Natürlich musste er erst noch ein paar seiner dämlichen Witze loswerden.
»Hör zu, gestern war ich auf einer Ü-30 Party, und der Türsteher, der hat mich einfach nicht reingelassen. Nu rate mal wieso?« Kunstpause. »Meiner war zwei Zentimeter zu kurz.«
Pete sah ihn ungerührt an. »Du weißt ja, die meisten Männer glauben, dass ihr Penis zu kurz ist. Du dagegen glaubst, dass etwas mit dem Lineal nicht stimmt.«
Informationen konnte Pete jetzt natürlich vergessen.
Ob er prüde ist, könnte Peter selbst gar nicht beantworten. Der so scheinbar selbstverständliche Ton, über Sex zu reden, erscheint ihm jedenfalls eher aufgesetzt, auch wenn er die anderen deshalb gleichzeitig beneidet, denn er geht davon aus, dass sie alle ein normales Leben führen, in dem Sex eine ganz normale Rolle spielt.
Aber Reuter nimmt er das nicht ab. Er erinnert ihn eher an einen etwas unterentwickelten Pavian, der an die begehrten Weibchen nicht herankommt, sich dafür aber umso oberaffiger aufführt.
Auch die neue Kollegin, Steffi, wie er Reuters Säuseln entnimmt, scheint sich unwohl zu fühlen. Nein, prüde kommt er sich eigentlich nicht vor. Schüchtern, ja. Weil er in dieser Hinsicht schlicht völlig unerfahren ist. Oder fast unerfahren. Aber für einen Siebenunddreißigjährigen würde Petting wohl kaum unter einschlägige Erfahrung fallen. Und wenn er daran denkt, wie das abgelaufen war! Er denkt nicht gerne daran.
10:20 Uhr. Peter hat das Gefühl, seiner Anstandspflicht genüge getan zu haben und verlässt die Küche – nicht, dass es jemand bedauert hätte – um sich in die Stille seines Büros zurückzuziehen.
Er ist seit drei Wochen allein. Kollege Hoffmann hatte einen Autounfall. Manchmal genießt Peter sein Eremitentum.
Auch seine Mutter hätte heute Geburtstag. Neunundfünfzig wäre sie jetzt. Peter denkt mit Wehmut an sie, aber nicht mit Trauer. Er bedauert ihren plötzlichen Tod, aber er vermisst sie nicht. Seinen Vater schon eher.
Die Erinnerungen an seine Mutter sind reduzierbar auf zwei Wörter: Erstens Migräne. Migräne stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es war die Verkörperung von Migräne. Migräne beim Frühstück, Migräne, wenn er von der Schule kam, und vor allem Migräne, wenn sein Vater von der Arbeit kam.
Migräne im Alltag, Migräne im Urlaub, und wenn sie Besuch hatten, dann erzählte sie von nichts anderem und war hinterher ungenießbar.
Das zweite Wort war: Grab. Diese Migräne brachte sie ins Grab, ihr Mann brachte sie ins Grab, die viele Hausarbeit brachte sie ins Grab, und alles, worum sich sein Vater ja nie kümmerte. Und vor allem Peter brachte sie ins Grab, wenn er irgendwie »ungezogen« war, oder aus sonst einem nur für sie greifbaren Grund.
»Ja, ich weiß, ich bin euch lästig, alles wäre einfacher ohne eure Mutter, dann bräuchtet ihr endlich keine Rücksicht mehr zu nehmen, ich weiß. Deine …« – wahlweise – »Frechheiten, Vergesslichkeit, Gleichgültigkeit, Trägheit bringt mich noch ins Grab.«
Als Kind hatte er sich immer gefragt, wie das ginge, wie sie ihre Mutter dahin bringen konnten. Er hatte Gräber gesehen, auf dem Friedhof, erst, als sein Großvater, dann ein Onkel und irgendeine Cousine gestorben waren. An – wie er von in solchen Momenten gedämpften Stimmen vernahm – Herzversagen, Schnapsleber und einem Unfall – »schrecklich, schrecklich muss sie ausgesehen haben, der ganze Kopf, der Brustkorb, alles zerquetscht, schrecklich, ich wage es gar nicht, mir das vorzustellen, nein!«
Peter hingegen stellte sich die Ereignisse sehr wohl vor, und zwar auf äußerst plastische Weise. Aber wie kam jemand in dieses muffig riechende Erdloch, einfach weil man sich weigerte, Selleriesalat zu essen?
Als er Jahre später im Internet über Migräne las, wurde ihm klar, dass seine Mutter wohl wirklich unter unsäglichen Schmerzen gelitten haben musste, und seine Schuldgefühle drückten ihn mit noch größerer Last als früher, als er mit den Tränen ringend ihr gegenübersaß und damit fertig werden musste, dass er sie mit einer Drei in der letzten Klassenarbeit dem Grab wieder ein Stück nähergebracht hatte.
Peter versucht, sich an eine fröhliche Mutter zu erinnern, aber ihm will nichts einfallen. Nichts konnte sie versöhnlich stimmen. Zollte ihm sein Vater Lob für einen Aufsatz oder, weil er sein Zimmer so ordentlich aufgeräumt hatte, so machte ihre Nörgelei – und sie fand immer etwas auszusetzen – all seinen Stolz wieder zunichte.
In seinen Tagträumen stellte er sie sich manchmal mit einer fetten Warze auf der Nase und einem zähnefletschenden Kater auf dem krummen Buckel vor.
Aber jedes Mal schämte er sich schon im selben Augenblick dafür.
Sein Vater hörte sich ihre Klagen meist wortlos an, und wenn er etwas sagte, dann