Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs

Blick ins Kaleidoskop - Wolfgang Mebs


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den warmen Pullover, ein Paar Wollsocken, ein Taschenmesser, seine Brille, seinen alten Walkman mit ein paar CDs – hat er im Rucksack. Seinen wertvollsten Besitz aber bewahrt er stets in seinem Brustbeutel auf: Melanies Brief.

      Paul beginnt seine tägliche Runde durch den Park auf der Suche nach Pfandflaschen, die die nächtlichen Besucher hinterlassen haben. Er streift sich Gummihandschuhe über, bevor er beginnt, die Mülltonnen zu durchsuchen. Manche sind so nett, die Flaschen gleich neben den Bänken stehen zu lassen. Jetzt sucht er auch wieder nach Zeitungen, deren Lektüre ihm nach seinem zweiten tiefen Schock aus Angst vor dem, was er lesen könnte, lange Zeit nicht mehr möglich war. Ein paar Jogger und Skater sind schon unterwegs, und bei den Pappeln ertüchtigen sich ein Dutzend Männer und Frauen beim Workout.

      »Willst du es nicht auch mal mit Joggen versuchen? Oder mit diesem Nordic Walking?«

      »Fang nicht schon wieder an! Du weißt doch, Laufen ist nicht mein Ding. Und diesen neumodischen Quatsch, mit Ski-Stöcken spazieren zu gehen … nee, wirklich nicht. Ich finde, das sieht lächerlich aus.«

      »Du hast aber auch für alles eine Ausrede. Aber irgendetwas solltest du machen, nicht nur weil Dr. Hartmann es dir immer wieder sagt. Du bist ständig nur im Stress, sitzt im Auto, sitzt bei den Besprechungen, trinkst Unmengen Kaffee. Und dann sitzt du in Hotelbars herum und trinkst Cognac. Keine gute Kombination.«

      »Hör auf, bitte! Du weißt genau, dass ich es nicht mit Sport habe. Ich entspanne mich eben anders. Cognac und Mozart, das reicht mir.«

      »Früher bist du wenigsten noch regelmäßig in den Chor gegangen. Hast du nicht immer gesagt, Singen macht fröhlich?«

      »Das sage ich auch immer noch. Aber dafür muss man auch Zeit haben. Später kann ich ja wieder damit weitermachen, aber jetzt muss eine Arie unter der Dusche reichen.«

      Als die Rückenschmerzen nicht mehr auszuhalten waren, landete er zuerst bei einem Physiotherapeuten und ging dann doch ein paar Wochen lang ins Fitnessstudio. Aber in der taffen, schweißgetränkten Testerosphäre, wie er es nannte, zwischen rollenden Bizepsen und strammen Bäuchen, kam er sich lächerlich und deplatziert vor.

      Die Ausbeute ist heute nur sehr bescheiden. Er setzt sich auf eine Bank, hält das Gesicht in die Sonne und ruht sich aus.

      Der Schmerz meldet sich zurück, eher sanft, kaum ein Krampf, eine Erinnerung, mehr nicht. Paul konzentriert sich auf den blühenden Klee, die Kugeln aus rosafarbenen Tropfen, auf den weiß leuchtenden Steinbrech an langen, filigranen Stängeln und die winzigen gelben Fruchtknoten, auf die Stauden zwischen den Bänken in Gelb und Violett, auf jedes einzelne einzigartige Blatt, bis er den Schmerz vergessen hat.

      Er sieht noch einen Moment lang einem Bussard hinterher, der hoch oben seine majestätischen Kreise zieht, und hinter den Baumkronen verschwindet.

      Er verlässt den Park, um seine magere Ausbeute in einen Supermarkt zu bringen. Es hat schließlich keinen Zweck, die Flaschen lange mit sich herumzutragen. Viel bringt das ohnehin nicht mehr ein, seit immer mehr Menschen sich auf diese Weise ein Zubrot verdienen wollen, und das sind längst nicht mehr nur Treber wie er. Paul mutet es erniedrigend an, dieser Konkurrenzkampf um Wegwerfalmosen, aber das ist immer noch besser, als zu betteln, was er nur tut, wenn ihm nichts anderes mehr übrigbleibt, und seine wenigen Versuche waren nicht sonderlich erfolgreich, da er es nicht über sich bringt, den vorbeigehenden Menschen in die Augen zu sehen und so ihr Mitleid hervorzulocken.

      Niemand hätte sich vorstellen können, dass Paul einmal so enden würde; er selbst am allerwenigsten. Paul wusste immer, was er wollte, und seine Ziele verfolgte er konsequent, ohne sich beirren zu lassen, und er erreichte sie auch. Er hatte durchaus viele Interessen, probierte sich aus, aber nie verzettelte er sich, nie dauerte es lange, bis er Klarheit hatte, wo es langgehen sollte. Alles andere ließ er links liegen.

      Seine schulischen Leistungen waren nicht überdurchschnittlich, weil er sich ganz auf das für ihn Relevante konzentrierte. Mathe, Physik und Musik waren seine absoluten Stärken, Fremdsprachen betrachtete er als notwendig, da er schon mit fünfzehn wusste, dass er Ingenieur werden wollte. Solange es im Deutschunterricht um Literatur ging, war er dabei, langweilte sich allerdings des Öfteren, da er einige Romane schon aus der Bibliothek seines Vaters kannte, eines Geschichtsprofessors.

      In Sozialwissenschaften und Erdkunde reichte es nicht immer für ein ausreichend, und in Geschichte strengte er sich nur seinem Vater zu Liebe etwas mehr an. Der musste früh einsehen, dass seine Hoffnung, Paul könne einmal in seine Fußstapfen treten, sich nicht erfüllen würde. Da obsiegten eindeutig die Gene seiner Mutter.

      Was er aber von seinem Vater geerbt hatte, war die Liebe zur klassischen Musik. Er hörte wenige der in der Schule populären Bands; vor allem die bei den Mädchen fanatisch verehrten Boygroups empfand er als seichte musikalische Belästigung, und wieso Nena, DAF und Ideal so erfolgreich waren, blieb ihm ein Rätsel. Metal, Hip-Hop und Techno waren ihm ein akustisches Gräuel. Die avantgardistischen Alben von Kraftwerk und Brian Eno hingegen faszinierten ihn eine Zeit lang, ebenso wie die verschiedenen Spielarten der Neuinterpretation klassischer Werke von Jacques Loussier über Nice und Exception bis Emerson, Lake and Palmers »Pictures at an Exhibition«, dessen Entdeckung er einem aufgeschlossenen Musiklehrer verdankte.

      Seine Eltern machten ihn schon früh mit Opern bekannt; die Aufführung von »Hänsel und Gretel« war eines seiner unvergesslichen Kindheitserlebnisse, und die elterliche Wohnung war eigentlich immer erfüllt von Symphonien und Arien, von orchestralem Blütenzauber, der ihn betörte, von Stimmen, die ihn erschaudern ließen, und von Libretti, die ihn gefangen nahmen, deren Sinn sich ihm allerdings erst viel später erschloss.

      Die Workout-Truppe lässt sich von basslastigem Getöse beschallen, aber sie machen ohnehin nicht den Eindruck, als hörten sie zu. Für sie ist es keine Musik; es ist einfach nur halb wahrgenommene Geräuschkulisse. Ewige Wiederholung als Kunstprinzip.

      Paul versteht nicht, wie man immer denselben Rhythmus, immer dieselben Tonfolgen als angenehm, geschweige denn ästhetisch empfinden kann. Seine frühere Begeisterung für Kraftwerk versteht er selbst nicht mehr. Jetzt würde er gerne mal wieder ein Konzert erleben mit leibhaftigen, wahren Musikern, denen Partituren durch die Adern fließen.

      Immerhin hat er seinen Walkman. Ein allerdings zwiespältiger, ja paradoxer Besitz. Er lässt ihn entfliehen in erhabenere Sphären, in die luftige Welt der Fugen und Kantaten, der Rondos und Suiten. Allerdings rufen die Violinen und Celli, die Oboen und Hörner, rufen Klavier und Pauke zu viele Erinnerungen hervor, die er eigentlich vergessen will.

      Sie saßen in Vaters Zimmer, einem großen, holzgetäfelten Raum, in den er sich zum Lesen und Musikhören zurückzog. Außerdem gab es einen antiken Schachtisch mit passenden Sesseln, an dem er einmal die Woche mit einem Freund vor sich hinbrütete. Paul hätte ihnen auch länger zugesehen, wenn ihn das lange Schweigen nicht so verunsichert hätte. In die Bücherwand war eine Musikanlage integriert, das Beste, was Bang und Olufsen zu bieten hatten. Gegenüber stand ein großes, bequemes Sofa, in dem Paul und sein Vater saßen, die Augen geschlossen, versunken in der Welt der Zauberflöte.

      Am Ende von Papagenos Vogelfänger-Arie hielt sein Vater die CD an.

      »Weißt du, warum diese Arie so beliebt ist?«

      »Ich weiß nicht, sie klingt irgendwie lustig. Und nicht so schwer wie andere.«

      »Da hast du es schon gut getroffen. Diese Arie ist ein treffliches Beispiel für Mozarts Kompositionen. Schlichtes und Kunstfertiges fließen harmonisch ineinander und verzaubern uns. Vordergründig ist sie sehr einfach, ein Volkslied eben. Da ist diese eingängige Melodik, in Sekundenschritten, alles wird syllabisch deklamiert, es gibt keine Melismen, keine Mollabweichungen, alles scheint einfach gehalten. Aber gleichzeitig ist die Arie dreischichtig komponiert: Da gibt es zunächst die Violine und die Singstimme, dann die Begleitstimmen, und drittens den Bass und die Hörner, abtaktig, in 2-Takt-Gruppen. Zudem ist jeder 2-Takt anders gestaltet. Achte einmal darauf! Wir hören sie uns jetzt noch einmal an.«

      Paul konnte seinem Vater nicht immer folgen, hatte aber dennoch das Gefühl, mit seiner Hilfe immer tiefer in die Musik einzudringen, sie besser


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