Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs

Blick ins Kaleidoskop - Wolfgang Mebs


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seinen Vater hat Peter vor allem als Mensch mit gesenktem Kopf in Erinnerung. Nur einmal, ein einziges Mal war es anders.

      Sein Vater war vor zwei Tagen ins Krankenhaus gebracht worden. Warum, hatte man Peter nie gesagt. Erst, als auch sie gestorben war, fand er Unterlagen, die in nüchtern medizinischem Stil sein Krebsleiden deklarierten.

      Peter stand hilflos neben dem Krankenhausbett. Sein Vater sah noch unscheinbarer aus als sonst. Er war nur noch ein knochiger, grauer Schatten zwischen weiß gestärkten Laken, geistesabwesend, ephemer. Seine Mutter hingegen schien seltsam lebhaft und redete ununterbrochen.

      »Ihr Mann braucht jetzt erst einmal Ruhe, viel Ruhe. Es war eine schwere Operation, und auch die nächsten Wochen werden nicht einfach.«

      »Ach, wissen Sie. Einfach ist das für mich auch nicht. Ich könnte auch einmal Ruhe brauchen. Sie könnten mir auch gleich ein Bett geben. Sie glauben gar nicht, was für eine Migräne ich ständig habe, vor allem, wenn das Wetter wechselt, und das tut es ja ständig, dann …«

      Nachdem sie minutenlang ihr Leiden dramatisiert hatte, schloss sie mit einem angedeuteten Kichern und frauenverschwörerisch vorgebeugt: »Aber das Bett geben Sie mir am besten in einem anderen Zimmer. Er schnarcht so schrecklich. Das bringt mich noch ins Grab.«

      Ein paar Wochen später war er wieder zu Hause, lag aber meistens im Bett oder auf dem Sofa. Er sah aus wie eine chinesische Teetasse: durchscheinend und zerbrechlich.

      Seiner Mutter war er ein ständiges Ärgernis, immer im Weg, natürlich, weil er eben so ein Schwächling war, wie alle Männer, wehe wenn sie mal ein Wehwehchen hatten, dann ging gleich die ganze Welt unter, und der Jammer war groß. Ihr Leiden übertraf das seines Vaters bei Weitem.

      »Ja, ich bin euch lästig, alles wäre einfacher ohne eure Mutter, dann bräuchtet ihr endlich keine Rücksicht mehr zu nehmen.«

      Dann schlug der Blitz in Mutters Leben.

      »Stimmt, Sophia«, sagte sein Vater, leise, aber bestimmt. »Da hast du mal wieder vollkommen recht.«

      Seine Mutter erstarrte. Genauso wie Peter. Er blickte von einem zum anderen. Eine Ewigkeit lang, so schien es ihm, passierte gar nichts. So hatte Peter seine Mutter noch nie gesehen. Ihre Gesichtszüge wechselten fließend zwischen Zorn, Hilflosigkeit, Abscheu und Fassungslosigkeit.

      Irgendwann schien sie zu begreifen, dass diese Worte absolut ernst gemeint waren. Sie stand wortlos auf und verließ den Raum. Danach sagte sie diesen Satz nie wieder.

      Sein Vater starb zwei Monate später.

      Hannah hört ihn die Treppe hinuntergehen. Sie wüsste immer, auch mit verbundenen Augen, dass es Robert ist, nicht nur wegen der klackenden Absätze, mit denen er auf sich aufmerksam macht. Sie würde ihn auch auf Socken erkennen. Es ist die Festigkeit, mit der er auftritt, die sie mehr spüren als hören kann.

      »Guten Morgen, Robert.«

      »Warum hast du den Wecker nicht ausgestellt, als du aufgestanden bist? Ich kann nun wirklich jede Minute Schlaf brauchen.«

      »Entschuldigung, ich … Du schläfst doch sonst auch weiter.«

      »Klar, wenn du ihn ausstellst, klingelt er einmal, und dann ist Schluss. Wenn ich das selbst mache, kann ich auch gleich aufstehen.«

      Auf häufiges Anraten seines Arztes hat Robert sich nun doch angewöhnt, nicht nur zwei Tassen Kaffee, sondern auch etwas feste Nahrung zu sich zu nehmen. Lustlos verschlingt er ein Toastbrot mit Roquefort.

      »Und – ist heute irgendwas Besonderes im Büro?«

      »Was soll schon sein? Das Übliche.«

      »Mmh.«

      »Vergiss nicht, alles vorzubereiten für heute Abend! Ruf den Catering-Service auf jeden Fall noch mal an, damit alles klargeht. Beim letzten Mal hat das Fingerfood so gerade eben gereicht. Wie sieht das denn aus? Sag ihnen, sonst suchen wir uns jemand anderen. Gibt ja genug … Hast du gehört?«

      »Hab ich. – Ich fahr vielleicht heute noch mal in die Stadt.«

      »Ach ja? – Hauptsache, es geht alles klar für heute Abend, sodass du rechtzeitig zurück bist.«

      Seine Wange flüchtig auf ihrer, und weg ist er.

      Hannah räumt die Tasse in den Geschirrspüler. Sie geht durch Wohn- und Esszimmer und sammelt ein paar Gläser ein und Teller vom Abend. Zwar kommt Kathrin um zehn, aber dennoch räumt sie regelmäßig auf – ihre Beschäftigungstherapie, bevor sie überlegt, wie sie den Tag totschlagen kann.

      Heute aber reicht das nicht. Sie ist unruhig, fast nervös. Als sie ins Wohnzimmer blickt, sieht sie noch einen Weinkelch, den sie glaubt, schon weggeräumt zu haben. Wahrscheinlich hat sie ihn schon in der Hand gehalten und wieder hingestellt? Der Rand ist mit Lippenstift verschmiert. Sie fragt sich, warum sie ihn immer noch aufträgt. Für wen? Reine Gewohnheit.

      »Du hast so schöne, volle Lippen. Und ehrlich gesagt, ich finde Lippenstift schmeckt überhaupt nicht gut.«

      Als sie damals im Park auf ihrer Bank saßen, hatte Mirko mittlerweile überall im Gesicht und am Hals rote Schmierflecken.

      »Dafür siehst du jetzt ganz schön lustig aus.«

      Nachdem er sie schließlich überredet hatte, verzichtete sie ihm zuliebe ganz auf Make-up.

      Bis sie als Au-pair in den USA war. Norman, der älteste Sohn, hatte sie zum Dinner eingeladen und erlebte den Schock seines Lebens.

      Hannah lächelt in sich hinein.

      Nachmittags hatte er schon überrascht gefragt, ob sie sich die Haare selber machen würde, aber sie hatte der Bemerkung keine Bedeutung beigemessen. Dann war sie die Treppe hinuntergestiegen und in Normans fassungsloses Gesicht gesehen.

      »Ähm … also … Du bist ja noch nicht fertig!«

      Und als sie ihn nur verständnislos ansah: »Du willst doch nicht etwa so mit mir …«

      Als ihr klar wurde, dass er sich ernsthaft weigerte, sie ungeschminkt ins Caesar’s auszuführen, bat sie ihre Gastmutter um Make-up. Die dann auch gleich selber Hand anlegte und ihr erklärte, was sich für ein gutes amerikanisches Mädchen gehört. Sie fügte sich dann auch in die guten Ratschläge und tauschte noch schnell die hautenge Jeans, die sie selbst ungeheuer sexy fand, gegen einen Rock und gleich auch noch eine weniger dekolletierte Bluse aus Mrs Waterman’s überbordendem Kleiderschrank. Im Spiegel sah sie nicht sich selbst, aber Norman war begeistert, und im Nachhinein war sie Frau Waterman dankbar, denn als sie am Restaurant ankamen und die beiden anderen Pärchen trafen, wäre ihr ihr vorheriger Aufzug ziemlich peinlich gewesen. Sie stellte sich das allgemeine pikierte Naserümpfen auch aller anderen Gäste vor. Sie wäre definitiv unangenehm aufgefallen.

      Hannah geht zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen. In der weiträumigen Diele fällt ihr Blick in den Spiegel. Sie geht noch einmal zurück.

      Heute brauchst du erst recht Make-up. Und einen guten Hair-Stylisten. Du siehst aus wie eine Vogelscheuche. Eine verhärmte Vogelscheuche. Nein, Vogelscheuchen sind nicht so dick – und haben keine Waden wie Eichenmöbel.

      Sie räumt ein wenig herum, pflückt verwelkte Blätter von den Topfblumen, die sie zwischen den Fingern zerbröselt, fühlt die poröse Substanz, betrachtet den feinen rieselnden Staub, eben noch tanzend im Sonnenlicht, dann gestaltlos und tot auf dem Parkett. Als feiner Blütenstaub durch die hitzig aufgeladene Luft der Provence wirbelt, betört sie der schwere Duft ebenso wie ihre Zweisamkeit.

      Drei Wochen schwelgten sie in inniger Symbiose und schwebten auf Wolke sieben, acht, neun, wanderten Arm in Arm durch Pinienhaine und pittoreske Gassen, tranken Kir zwischen ihren Küssen und kühlen Weißwein zu Austern, versanken in ihren Augen und ihrem Schoß, saßen im Garten ihres Ferienhauses, bis in die Haarspitzen verzaubert von Zärtlichkeit, berauscht von ihrem Liebesspiel. Sie hielten sich an den Händen und streichelten die


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