Blick ins Kaleidoskop. Wolfgang Mebs

Blick ins Kaleidoskop - Wolfgang Mebs


Скачать книгу
hat seine Deutschlehrerin immer gelobt. Der einzige Anlass, zu dem er öffentlich gelobt wurde. Allerdings auch selten getadelt.

      Eigentlich wurde er nie erwähnt, wenn Klassenarbeiten zurückgegeben wurden. Er lag stets im Mittelfeld. In allen Fächern. Außer Sport. Da reichte es nur für eine Vier. Nicht weil er zu dick oder schwächlich gewesen wäre. Ihm fehlte nur jedweder Ehrgeiz, besonders schnell zu laufen oder möglichst weit zu springen. Hoch schon mal gar nicht.

      Er beteiligte sich auch nie am Unterricht. Selbst nach einer der seltenen Aufforderungen durch einen der penetranteren oder nicht ständig monologisierenden Lehrer antwortete er leise und einsilbig. Und so fiel er eigentlich keinem auf.

      Bei einem Wiedersehenstreffen seiner alten Klasse würde sich keiner an ihn erinnern. Vielleicht hat es das ja schon gegeben, und er war einfach nicht eingeladen worden. Wer? Peter Müller?

      9 Uhr. Er gießt sich ein Glas Wasser ein, legt die Beine auf den Schreibtisch und sieht in die Ferne.

       Pete

      Pete Phillip saß an seinem Schreibtisch wie immer, den Stuhl zurückgelehnt, die Augen geschlossen, die Füße auf der Tischplatte. Akten musste er dafür nicht zur Seite schieben. Wie üblich hatte er wenige Fälle. Dabei hielt er sich nicht mal für schlecht. Es gab zwei oder drei Detektive in der Stadt, die ihm nicht das Wasser reichen konnten. Die Kippe, filterlos, wippte im Mundwinkel. Da betrat eine Blondine sein muffig-schummriges Kellerbüro. Ihr Schlafzimmerblick traf ihn mitten in die Lenden. Langsam, sehr langsam schwebte ihr wogender Busen auf ihn zu. Sie schwob sozusagen. Langsam, bis zu seinem Schreibtisch.

      »Sie sind Pete? Pete Phillip?«, fragte eine rauchzarte Stimme, aus Lippen, die mehr als Liebesgeflüster versprachen.

      Er riss seinen Blick aus ihrem großzügigen Dekolleté und versank in schillernd grünen Augen. Ein Raubtier. Pete revidierte augenblicklich seine Haltung zu Klassefrauen.

      Er zündete die Zigarette an, ohne ihren Blick loszulassen. Rauchkringel erhoben sich. Er nickte.

      »Ich brauche Ihre Hilfe«, hauchte sie.

      Das heftige Klopfen dagegen war kaum zu überhören und eindeutig unerotisch. Pete war noch gar nicht richtig in die Wirklichkeit zurückgekehrt, hatte nicht einmal reagieren können, da stand der Klopfer auch schon im Zimmer und betrachtete zunächst ihn, dann das eher an die Abstellkammer eines drittklassigen Trödlers als an eine Detektei erinnernde Büro. Immerhin standen auch ein paar unbeschriftete Ordner herum. Das mittlerweile angewiderte Gesicht seines Besuchers wandte sich ihm zu, taxierte ihn abschätzig.

      »Sind Sie Phillip?«

      Pete suchte sein Feuerzeug. Vergeblich. »Höchstpersönlich. Was kann ich für Sie tun?«

      »Sie suchen also Leute.«

      »Unter anderem.«

      »Und – finden Sie die auch?« Sein Ton war schneidig wie ein Fleischermesser von Zwilling.

      Er war, was man einen Betonkopf nannte. Ein fast rechteckiger Schädel. Weiße, ins leicht gräuliche gehende Gesichtsfassade. Den spärlichen Haarkranz um seine glänzende Kopfhaut hätte er auch noch abrasieren können. Viel zu kleine Ohren. Ebenfalls kleine, kalte, fast brauenlose Augen, winterfarben. Kräftiges, leicht vorstehendes Kinn. Schraubstockgebiss.

      Pete mochte keine Betonköpfe. Er mochte gar keinen Beton. Und der Typ sah aus wie jemand, der auch imstande wäre, ihm einen solchen Klotz ans Bein zu binden, von der Brücke zu werfen und elend ersaufen zu lassen. Wenn ihm danach wäre.

      Pete hoffte, ihm bisher keinen Anlass dazu gegeben zu haben. »Und Sie suchen jemanden?«

      Der Betonkopf schien zu einem Entschluss gekommen zu sein. Er setzte sich. Trotzdem war er immer noch zwei Köpfe größer als Pete.

      »Meine Frau. Finden Sie sie! Was verlangen Sie?«

      Wie es aussah, hatte Pete nicht einmal die Möglichkeit den Auftrag abzulehnen.

      »Und warum ich? Warum gehen Sie nicht zur Polizei?«

      »Das braucht Sie nicht zu interessieren. Sie ist abgehauen. Warum, geht Sie ebenfalls nichts an. Finden Sie sie einfach!«

      »Nun, es könnte aber bei meinen Ermittlungen durchaus hilfreich sein«, sagte er vorsichtig, »wenn ich ein wenig mehr wüsste.«

      Die spärlichen Augenbrauen trafen sich im spitzen Winkel. Offensichtlich mochte er keinen Widerspruch. Je länger er ihn betrachtete, desto mehr kam Pete zu der Überzeugung, der Betonkopf gleiche eher einer Abrissbirne. Wer sich mit ihm anlegte, konnte nur Schaden erleiden.

      »Genügt es Ihnen, dass sie schon mal Probleme mit der Polizei hatte?«

      Eigentlich nicht. Also verlegte sich Pete auf eine andere Taktik.

      »Und was soll geschehen, wenn ich sie gefunden habe?«

      Wieder sah die Antwort finster aus. »Sind Sie schwer von Begriff? Zurückbringen, was sonst?«

      Den Rest erledige ich, fügte Pete in Gedanken hinzu. Es entstand eine beidseitig nachdenkliche Pause.

      »Sagen Sie mir einfach, was Sie kosten!«

      »Finde ich Ihre Frau in der Stadt oder muss ich dazu nach Australien?« Das schien Pete annähernd weit genug weg von der Abrissbirne.

      »Reden Sie keinen Scheiß! Ich zahle Ihnen mehr als das Übliche, wenn Sie keine weiteren Fragen stellen.«

      Allmählich wurde Pete neugierig. Außerdem konnte er einen neuen Fall wirklich gut gebrauchen, und der hier schien interessanter zu sein, als stundenlang läufige Ehefrauen oder Gatten mit Samenstau zu beobachten.

      »Dann zweihundert am Tag plus Spesen. Aber ich brauche schon einen Anhaltspunkt. Irgendwo muss ich schließlich anfangen.«

      »Sie stammt aus Thailand.«

      Mein Gott, was für ein haarsträubender Unsinn! Mirko. Wieso er? Hab ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, geschweige denn an ihn gedacht. Und der würde doch nicht freiwillig in ein Flugzeug steigen. Das Gespräch gestern über unsere Schulfreunde, deshalb wahrscheinlich. Bestimmt seit zehn, fünfzehn Jahren nicht, mindestens. Ob ich ihn über Stay Friends finden würde? Was haben wir geknutscht! Zum ersten Mal eine Woche von zu Hause weg und die ganze Clique dabei, außer Petra, aus der Parallelklasse. Aber wieso schlaf ich ausgerechnet mit dem? Gut, wir sind mal zusammen »gegangen« – erste zaghafte Erkundungen, vorsichtig tastende Hände, mein Gott. Und Robert sitzt nebenan und hört zu. So ein Quatsch, Freud hätte sich totgelacht. Robert völlig ungerührt in seinem schnieken Morgenmantel, wie immer makellos gepflegt. Damit könnte man, ohne schief angesehen zu werden, morgens Brötchen holen.

      Hannah Kuhn dreht sich auf die andere Seite und sinnt den noch nicht ganz flüchtigen Traumbildern nach. Sie braucht immer ein paar Momente, bis ihr wirklich klar ist, was Traum, was Wirklichkeit ist, dass sie im eigenen Bett liegt und nicht in einem anderen, an einem Strand, auf einer Party oder an ganz unsinnigen Orten. Sie staunt wie immer und amüsiert sich über ihre eigene schlaftrunkene Fantasie. Manches ist geradezu lachhaft und hätte gut in eine Komödie gepasst, von Woody Allen etwa, oder ist so comichaft wie aus den Pixar-Studios, so abgedreht wie ein Film von Monty Python.

      Manches wirkt auch leicht bedrohlich, verunsichernd, ohne aber jemals in Schreckensbilder abzudriften. Hirngespinste voller surrealer Szenerien, anachronistischer Begegnungen, bizarrer Zufälle und allen Naturgesetzen hohnlachender Ereignisse.

      Wie immer hat auch dieser Traum etwas mit Reisen zu tun. Ständig ist sie irgendwie und irgendwo unterwegs, in bekannten Städten und unbekannten Landstrichen, zu Fuß oder mit dem Flugzeug, mal steht sie auf der Brücke eines Ozeanriesen, mal lenkt sie einen Schwertransporter, mal streift sie alleine durch die Atacama-Wüste, dann wieder stürzt sie sich mit einer völlig unbekannten Reisegruppe ins Pariser Nachtleben.

      Zunächst scheint alles normal zu sein, ganz banale,


Скачать книгу