Wege, die man nicht vergißt. Dietmar Grieser
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Dietmar Grieser
Wege, die man nicht vergißt
Dietmar Grieser
Wege, die man nicht vergißt
Entdeckungen und Erinnerungen
Mit 36 Abbildungen
AMALTHEA
Für Axel und Jana
Besuchen Sie uns im Internet unter:www.amalthea.at
© 2015 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker, OFFBEAT Umschlagmotiv: Auguste Renoir, Chemin montant dans les hautes herbes (1876/77): © Musée d’Orsay, Paris, France/Bridgeman Images Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten Gesetzt aus der 11,15/14,91 pt New Caledonia
ISBN 978-3-99050-001-9
eISBN 978-3-902998-89-7
Es gibt keine Orte,
es gibt nur Menschen.
Alfred Polgar
Wege entstehen dadurch,
daß man sie geht.
Franz Kafka
Wenn du unterwegs etwas ansehen willst,
geh nicht zu gierig darauf los.
Sonst entzieht es sich dir.
Laß ihm Zeit, auch dich anzusehen.
Es gibt ein Aug in Aug auch mit den sogenannten Dingen.
Franz Hessel
Vorwort
E s führt kein Weg zurück« lautet der (deutsche) Titel eines seiner letzten Romane. Thomas Wolfe selbst hat dessen Veröffentlichung nicht mehr erlebt: Mit kaum vierzig war der im Millenniumsjahr 1900 geborene US-amerikanische Erzähler aus der Generation der Faulkner-Steinbeck-Hemingway von der Bühne abgetreten. Hatte er in den elf Jahren nach Erscheinen seines Hauptwerks »Schau heimwärts, Engel«, das ihn 1929 über Nacht berühmt gemacht hatte, seinen Sinn geändert?
In den 1970er Jahren, da der Name Thomas Wolfe noch in aller Munde war, habe ich mich intensiv mit diesem Autor beschäftigt, bin ihm sogar (für mein Buch »Schauplätze der Weltliteratur«) in seinen Geburtsort Asheville (North Carolina) nachgereist, um an Ort und Stelle Wolfes Romanfiguren nachzuspüren. Welche der beiden Botschaften, die er uns Lesern hinterlassen hat, mag die letztgültige sein? »Schau heimwärts, Engel« oder »Es führt kein Weg zurück«?
Ich denke, es gelten beide. Und so ist auch der mit dem vorliegenden Buch unternommene Versuch, jener vielen Wege zu gedenken, die ich in meinem Leben als Schriftsteller wie als Privatperson beschritten, erforscht oder auch nur im Gedächtnis bewahrt habe, ein ambivalentes Unternehmen: Es wird ebenso von Straßen, Gassen, Pfaden und anderen Verkehrswegen die Rede sein, an die ich wohl nie zurückkehren werde, wie auch von solchen, zu denen es mich beständig »heimwärts« zieht, und sei es nur in der Erinnerung.
Da sind zum einen diejenigen, die uns allen zufolge ihrer Berühmtheit vertraut sind: Champs-Elysées und Downing Street, Via Dolorosa und Newski-Prospekt.
Dann die Örtlichkeiten, die wir aus der Geschichte, aus Literatur, Malerei und Film zu kennen glauben: Don Quijotes Windmühlenroute, Federico Fellinis »La Strada« oder Greta Garbos »Freudlose Gasse«. Wo wurden die Fernsehserien »Lindenstraße« und »Die Straßen von San Francisco« gedreht?
Und schließlich die Verkehrswege, die unser eigenes Alltagsleben mitgeprägt haben: der Schulweg von anno dazumal, die Route, die unsere Hochzeitskutsche genommen hat, die sagenumwobenen Wiener »Durchhäuser« mit ihren Schleichwegen und Abkürzungen, die »Via Sacra« der Jahr für Jahr aufgeschobenen Mariazell-Wallfahrt, die gerade eben jubilierende Wiener Ringstraße oder die 4,5 Kilometer lange Prater-Hauptallee.
Bleiben wir im Lande, im alten wie im neuen Österreich: Wie verlief die Kaiserstraße nach Olmütz, wo 1848 der 18jährige Franz Joseph den Thron bestiegen hat? Welchen Weg hat Mozarts Postkutsche auf der vom Dichter Eduard Mörike nachempfundenen Reise nach Prag genommen? Was hat es mit der ominösen Fahnengasse im Zentrum Wiens auf sich, die es nur zu zwei Hausnummern gebracht, aber um ein Haar einen Krieg ausgelöst hat? Wem begegnen wir auf der Kaiserpromenade von Gastein? Was steckt hinter der »Gelben Straße«, die Veza Canetti in ihrem gleichnamigen Roman porträtiert hat? Wem verdanken Franz Werfel und zahlreiche weitere NS-verfolgte Künstler den legendären »F-Weg«, der ihnen 1942 das Leben gerettet hat? War Ödön von Horváths Diktum »Straßen machen mir Angst« Aberglaube oder Prophetie?
Auf vier Kontinenten war ich unterwegs, um Topoi wie Tennessee Williams’ »Endstation Sehnsucht«, die Catfish Row aus der Oper »Porgy and Bess«, den Schauplatz von Georg Trakls Gedicht »Grodek« und die Wüstenpiste von El Alamein aufzufinden. Ihnen allen und vielen mehr wollen wir in diesem Buch nachspüren – in Österreich, in den Nachbarländern und im Rest der Welt. Ihren Namen, ihrer Geschichte, ihrer Aura, ihren Schicksalen, ihren Geheimnissen.
Wien
Servus
Erste Schritte in Wien
Wien, Herbst 1957. Vor zweieinhalb Jahren hat Österreich seine Unabhängigkeit wiedererlangt, fünf Monate darauf haben die letzten Besatzungssoldaten das Land verlassen. Auch sonst stehen alle Zeichen auf Normalität: Staatsoper und Burgtheater spielen wieder in ihren Häusern, erstere unter der Direktion von Herbert von Karajan. In den Straßen hört man viel Ungarisch: Von den 115 000 Flüchtlingen, die Österreich nach dem Volksaufstand vom vergangenen Jahr über die Grenze gelassen hat, ist rund ein Zehntel im Transitland geblieben.
Unter den Toten des Jahres sind Bundespräsident Theodor Körner (den sein Parteifreund Adolf Schärf abgelöst hat), der aus Wien stammende Schauspieler und Regisseur Erich von Stroheim oder der Operettenkomponist Ralph Benatzky. In den Nachrufen auf Käthe Dorsch ist auch in den deutschen Zeitungen die alte »Watschengeschichte« aufgewärmt worden: Die aus Nürnberg stammende Burgtheater-Lady hatte den gefürchteten Starkritiker Hans Weigel auf offener Straße zur Rede gestellt und geohrfeigt.
1957 ist auch das Jahr der Wiederentdeckung eines lange vergessenen Doppelgenies: »Der Gaulschreck im Rosennetz«, eines der Hauptwerke des Maler-Dichters Fritz von Herzmanovsky-Orlando, erobert den Buchmarkt; das Kabarettensemble Qualtinger/Bronner/Kreisler/Martini eilt von Erfolg zu Erfolg.
Wien entdeckt die Rolltreppe: Eröffnung der Opernpassage (1955)
Ein Problem, das ich auch von Deutschland her kenne, bilden die vor allem große Städte verunsichernden »Halbstarken«; der Wiener Polizeipräsident kündigt erstmals »Maßnahmen« gegen den sich ausbreitenden Furor an. Auch auf dem Bausektor hat sich einiges getan: Die Ringstraße erhält ihre ersten Fußgängerpassagen, die Wiener lernen mit Rolltreppen umzugehen.
In dieser Zeit – exakt: am 23. Oktober 1957 – treffe ich in der österreichischen Hauptstadt ein (ohne im geringsten zu ahnen, daß dies für immer sein wird). Ich komme mit dem Nachtzug an, sehe mich auf dem Westbahnhof nach der Gepäckaufbewahrung um: Es ist ein Schalter, noch kein Schließfach. Weg mit dem Koffer, in keinem Hotel fände ich zu so früher Stunde Einlaß. In der Wechselstube tausche ich mein bißchen Geld um; die Umgewöhnung von D-Mark auf Schilling habe ich schon während der Zugfahrt geübt.
Den Weg vom Bahnhof zu meiner provisorischen Bleibe, dem mir empfohlenen Billighotel zwischen Fleischmarkt und Schwedenplatz, habe ich noch daheim auf meinem Stadtplan markiert; ich lege die halbstündige Strecke – quasi zur Probe – zu Fuß zurück, versuche eine erste grobe Annäherung an die mir fremde Stadt. Ich lasse mir dabei Zeit, nehme bewußt auch Umwege in Kauf, schaue genau hin, höre genau zu.
Im Vergleich zu den deutschen Metropolen, die ich kenne, fällt mir hier die geringe Zahl noch sichtbarer Kriegsschäden auf; vor allem in der