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Gérard stellt sich schützend vor seinen Gebieter und rettet Bernadotte das Leben. Fünf Stunden dauert der Spuk – erst nach der zweiten an den amtierenden Außenminister Franz Maria Freiherr von Thugut adressierten Depesche greift das aus einer nahegelegenen Kaserne herbeigerufene Husarenkommando in der Wallerstraße ein und zerstreut die tobende Volksmenge.
Für Bernadotte, der in dem Vorfall eine klare Verletzung des Völkerrechts erblickt, steht fest: Er wird Wien auf schnellstem Wege verlassen, da hilft auch das hochnotpeinliche Entschuldigungsschreiben der österreichischen Regierung nichts mehr. Der zutiefst gekränkte Botschafter verlangt Pässe für sich und sein Gefolge, und statt der von österreichischer Seite geäußerten Bitte Folge zu leisten, ohne Aufsehen und im Schutz der Dunkelheit auszureisen, läßt er die fünf Kutschen justament zur Mittagsstunde vor dem Palais Caprara-Geymüller vorfahren und sich und die Seinen, im Schmuck ihrer mit Trikolore-Federn »gekrönten« Hüte und von tausenden die Straße säumenden Wienern mit Schmährufen bedacht, außer Landes bringen. Noch Tage danach ist der Wiener »Fahnentumult« das beherrschende Thema der europäischen Gazetten; in Paris wird sogar erwogen, die »Schandtat« der Österreicher mit einer neuerlichen Kriegserklärung zu ahnden.
Was das weitere Schicksal Jean Baptiste Bernadottes betrifft, so tritt der aus der Kaiserstadt Verjagte schon am 27. Mai seinen nächsten Posten an: Er geht als Napoleons Gesandter nach Den Haag. Seine künftige Karriere wird Stufe für Stufe die allerhöchsten Höhen erreichen: Unter dem Namen Karl XIV. Johann wird der dann 55jährige Bernadotte 1818 den Thron des Königreichs Schweden-Norwegen besteigen und damit die bis heute anhaltende Tradition der Schwedenkönige aus dem Hause Bernadotte begründen, bis herauf zum seit 1973 regierenden, mit der ehemaligen deutschen Olympia-Hosteß Silvia Sommerlath verehelichten Karl XVI. Gustav.
Doch zurück nach Wien, wo das Spektakel vom 13. April 1798 noch hundert (!) Jahre danach sichtbare Folgen zeitigt: Die an die Wallerstraße angrenzende Brunnengasse wird zur Erinnerung an den »Fahnentumult« in Fahnengasse umbenannt. Und was den Schauplatz des denkwürdigen Ereignisses anlangt, so versäumen die Wiener Lokalhistoriker auch nicht, darauf hinzuweisen, daß mit der Geschichte des Palais Caprara-Geymüller nicht nur diplomatische Verwicklungen, sondern auch Amouröses verknüpft ist: Hier lernt im Winter 1820/21 Franz Grillparzer seine »ewige Braut« Kathi Fröhlich kennen, deren sieben Jahre ältere Schwester Anna den Töchtern des nunmehrigen Hausherrn Johann Heinrich Freiherr von Geymüller Klavierunterricht erteilt.
Not, Gemeinheit, Mord
Hugo Bettauer und »Die freudlose Gasse«
Wien, Herbst 1923. Die Erste Republik hat ihre zweiten Nationalratswahlen hinter sich: Die Christlichsozialen erhalten 82 Mandate, die Sozialdemokraten 68, die Deutschnationalen 15, Prälat Seipel bleibt Kanzler. In der Bundeshauptstadt ist das Kräfteverhältnis genau umgekehrt: Der Sozialdemokrat Karl Seitz tritt sein Amt als Bürgermeister an; der Gemeinderat beschließt das ehrgeizige Wohnbauprogramm des Roten Wien, das die Errichtung von 25 000 Sozialwohnungen binnen fünf Jahren vorsieht. Die Zahl der Arbeitslosen hat die 50 000 überschritten, die Inflation erreicht ihren Höhepunkt, 40 000 Kronen zahlt man für ein Kilo Schweinefleisch. Allenthalben schießen Bankfilialen aus dem Boden, vor den Wechselstuben bilden sich Menschenschlangen, die die täglichen Kurszettel studieren, in den Tanzbars amüsieren sich die Spekulanten, »Radio Hekaphon«, Österreichs erster Rundfunksender, verbreitet die Stimmen von Burgschauspieler Raoul Aslan und Bundespräsident Michael Hainisch, Arthur Schnitzler tritt an die Spitze der frischgegründeten Österreich-Sektion der Schriftstellervereinigung PEN.
Am 17. Oktober 1923 kündigt das Wiener Nachrichtenblatt »Der Tag« einen neuen Fortsetzungsroman an: »Die freudlose Gasse«. Autor ist der 51jährige Hugo Bettauer, der schon im Jahr davor mit seinem Bestseller »Stadt ohne Juden« für Aufsehen gesorgt hat. Selber Jude, doch mit 18 zum Protestantismus konvertiert, greift er in seiner makabren »Zukunftsversion« eines der Themen der Zeit auf: den bedrohlich um sich greifenden Antisemitismus, der »die Juden« für die triste Wirtschaftslage der Republik verantwortlich macht. 250 000 Exemplare setzt der Buchhandel von dem heftig umstrittenen Roman ab, in dem sich nicht nur das »arische Wien« attackiert sieht: Auch der Sache der Juden wird mit Bettauers klischeegespickter Darstellung ein Bärendienst erwiesen.
Nun also »Die freudlose Gasse«: Auch der vom 18. Oktober bis zum 16. Dezember 1925 im »Tag« vorabgedruckte und ein Jahr später in Buchform verbreitete »Wiener Roman aus unseren Tagen« ist ein echter Bettauer: Grelle Zeitschilderung, mäßig verschlüsselte Gesellschaftskritik und schwüle Erotik sind in flotter Erzählweise und anspruchsloser Sprache zu jenem Typ Kolportagestory zusammengemixt, der zu jeder Zeit auf das voyeuristische Interesse der Lesermassen rechnen kann.
Hauptfigur ist die junge Grete Rumfort: Typ der kleinen Sekretärin aus verarmter alt-österreichischer Offiziers- und Beamtenfamilie, die, den Lockungen eines prächtig florierenden Absteigequartiers heroisch widerstehend, in einen spektakulären Kriminalfall – Juwelendiebstahl und Mord – verstrickt wird, dessen überraschende Aufklärung in ein deus-ex-machinaartiges Happy-End mündet. Ort der Handlung ist ein kurzes Straßenstück im 7. Wiener Gemeindebezirk, in dem Kleinbürgertum und Nachkriegsnot, Parvenü-Luxus und Edelprostitution zu einer Art zeittypischem Großstadt-Mikrokosmos verschmelzen.
Aus den Wegbeschreibungen der Akteure ist unschwer abzuleiten, daß mit der »freudlosen Gasse« (die Autor Bettauer Melchiorgasse nennt) die damals wie heute unter dem Namen Neustiftgasse bekannte Verbindung zwischen Volkstheater und Lerchenfelder Gürtel gemeint ist:
»Wiens Entwicklung ist unorganisch, ohne Ziel und Zweck vor sich gegangen. Wien ist wohl die einzige Großstadt, die keine City, kein Wohnviertel hat, sondern ein Kunterbunt von Villen, Luxusbauten, Palästen, Mietkasernen, verfallenen Häusern, Baracken und Armeleutequartieren bildet. In ein und derselben Straße hausen Millionäre und Proletarier, stehen uralte niedrige Häuser mit Gärten und protzige fünfstöckige Talmipaläste mit Lift und Dampfheizung, Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert und abscheulich moderne Miethäuser mit ein- und zweizimmerigen Wohnungen für kleine Leute.«
So gesehen, repräsentiert die Melchiorgasse in Hugo Bettauers Augen die ganze Stadt:
»In ihr leben Markthelfer und Gemüsehändler, die um 2 Uhr morgens mit ihren Karren alte Häuser, hinter denen endlose Höfe mit Stallungen sich verbinden, verlassen, um auf den Markt zu fahren, in ihr rollen fürstliche Automobile vor die hohen geschlossenen Portale feudaler, wenn auch von außen unscheinbarer Paläste, es gibt da Zinshäuser aus der Gründerzeit und moderne Bureaugebäude, die keine Wohnungen enthalten.«
Als Grete Rumfort in der Schlußszene des Romans ihrem künftigen Gefährten, dem von Bettauer mit deutlich autobiographischen Zügen ausgestatteten Redakteur Otto Demel, in ein neues Leben (und das heißt: in ein Einfamilienhaus mit Garten im Nobelbezirk Hietzing) folgt und der »häßlichen, freudlosen Melchiorgasse« für alle Zeiten den Rücken kehrt, tut sie dies mit durchaus gemischten Gefühlen:
»Not, Elend, Gemeinheit, Mord und düstere Verbrechen birgt sie in sich – und doch auch Menschlichkeit und Liebe. Sie ist mir zum Symbol geworden für eine ganze Stadt, die ganze Welt und das ganze Leben.«
Drei Häuser sind es im wesentlichen, in denen Hugo Bettauer die Handlung des Romans abrollen läßt: Melchiorgasse 55, 56 und 58. Die Nr. 55 ist der Mord-Schauplatz: »Typus des neueren Wiener Miethauses mit finsteren Korridoren, stockdunklen Nebenräumen, abgestohlenen Badezimmern, schäbigem Talmiluxus und einer Fassade voll von abscheulichen, angeklecksten Ornamenten aus Kalk und Mörtel.«
Um die Jahrhundertwende erbaut, entstammt es einer Zeit, da in Wien Hausbesitzer zu sein einem Lebensberuf gleichkommt:
»Man war Hausherr, wie man Advokat oder Fabrikant war. Die Frau des Hausbesitzers war die Hausbesitzersgattin, der Sohn ein Hausherrensohn. Unter allen Großstadtdrohnen war der Hausbesitzer die stärkste und brutalste. In anderen Städten war ein Haus sichere Kapitalanlage, in Wien oft ausschließlicher Erwerb. Es galt, aus einem Haus soviel Profit wie möglich herauszuschlagen, also mit schlechtem Material zu bauen, mit jedem Quadratzentimeter Raum zu sparen, Öfen aufzustellen, die nichts kosteten und auch nicht heizten, die Luft und das Licht in Kabinette zu verwandeln,